Syrien: Nicht nur die Milizen, auch die USA und die EU haben verloren

Flüchtende aus Ost-Ghouta. Bild: Syria:direct, eine der Opposition zugewandte Webseite

Tausende Flüchtende aus Ost-Ghouta - Die Brutalität des Krieges gegen die syrische Zivilbevölkerung ist eine Konsequenz der wenig überzeugenden, simpel gestrickten Politik der westlich orientierten Außenmächte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Tausende Flüchtende aus Ostghouta meldeten gestern mehrere Medien. Laut der Nachrichtenagentur AFP, die sich auf Angaben des in London ansässigen "syrischen Observatoriums für Menschenrechte" stützt, sollen es mehr als 12.000 gewesen sein, die das Gebiet über einen Korridor verlassen haben, den das "Regime" via Hammuriyeh geöffnet habe. Auch Hilfslieferungen kommen.

Dem voraus gingen Meldungen über Proteste von Bewohnern an unterschiedlichen Orten in Ost-Ghouta gegen Milizen. Manche Milizen hatten die "Ausreise" verboten, unterstrichen wurde das durch Schüsse auf die Korridore, die auch der UN-Vertreter Sajjad Malik bezeugte. Gefordert wurde in den Protesten, dass die syrische Armee die Kontrolle oder Aufsicht in den Gebieten in Ost-Ghouta übernehmen soll.

Die Diktatur der Milizen

Das wiederum widerspricht Berichten, die, wie dies auch vom UN-Repräsentanten Malik beobachtet wurde, davon ausgehen, dass es unter der Bevölkerung von Ost-Ghouta auch viele gab, die befürchteten, dass sie von den Sicherheitskräften der Regierung Schlimmes zu erwarten hätten. TV-Aufnahmen, die im syrischen Fernsehen zu sehen waren, zeigen freilich erleichterte Flüchtlinge, die davon sprechen, dass sie Jahre in einem Gefängnis oder einer Diktatur verbringen mussten. Die Milizen hätten sie nicht gehen lassen.

Das ist plausibel angesichts der Ausrichtung der Milizen, die in Ost-Ghouta eine islamistische Enklave errichten wollten, die streng nach fundamentalistischen Regeln funktionieren sollte und einer "Revolution" den Weg bereiten sollte, deren Ziel ein Emirat war.

Die Milizen-Herrschaft in Ost-Ghouta nahm laut Hintergrundberichten von Autoren, die deutlich mehr mit der Opposition als mit der Baath-Regierung sympathisieren (Aron Lund, siehe Ost-Ghouta: Die Hölle und der Tunnelblick), deutlich ausgeprägtere repressive Züge an als unter der Kontrolle der Assad-Regierung. Nach sieben Jahren eines Konflikts, der beständig eskalierte und zu unbeschreiblichen Brutalitäten und Lebenseinbrüchen führte, ist anzunehmen, dass sich die Zivilbevölkerung nach friedlicheren Zeiten sehnt.

Warum kämpfen die Milizen auf verlorenem Posten?

Der syrischen Armee gelangen in den vergangenen Tagen militärische Erfolge in Ost-Ghouta. Das Gebiet der bewaffneten Milizen - dominierend sind Jaysh al-Islam, Faylaq al-Raḥmān und Ahrar al-Sham; eine wichtige Rolle spielt auch der al-Qaida-Ableger Nusra-Front unter der Haube "Hayat al-Tahrir al-Sham" - wurde von Vorstößen der SAA in drei Teile zerschnitten, was die Milizen militärisch in eine aussichtslose Lage brachte.

Was wenig überrascht - und generell die Frage anstößt, warum die Milizen sich auf einen für die Bevölkerung derart schmerzhaften, opfer- und verlustreichen und für sie militärisch aussichtslosen Kampf eingelassen haben. Um bessere Bedingungen für einen Abzug aushandeln zu können?

In Medienberichten, die in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA und anderen Ländern, die der Koalition gegen Baschar al-Assad angehören, den Ton angeben, stand oder steht, wie nicht zu übersehen, das Mitleid mit den zivilen Opfern im Mittelpunkt und komplementär dazu die Brutalität der syrischen Regierung und besonders ihres Verbündeten Russland.

In den letzten Tagen steigerte sich die Entrüstung in ein Crescendo, wobei, wahrscheinlich angesichts der bevorstehenden Wahl in Russland, Putin wie ein Wettermännchen noch vor Baschar al-Assad und seine Fassbomben geschraubt wurde.

Tatsächlich liest sich die Bilanz der Grausamkeiten, die der syrischen Armee unter dem Oberkommmando al-Assads und dem Fittich der russischen Luftwaffen zugeschrieben wird, entsetzlich.

Möglicherweise mehr als 1.000 Tote in Ost-Ghouta durch Bombenangriffe; getötete unschuldige Kinder, zerstörte Familien; Vergewaltigungen werden angeblich von Mitgliedern der syrischen Armee, wie aktuell unter anderem und selbstverständlich ohne jeglichen Beweis und kritischen Kommentar von der Tagesschau herausgestellt wird, begangen, unterstellt wird: systematisch, um den Gegner zu brechen. Ein weiterer Beweis für die Grausamkeit des "Diktators".

Man wundert sich bei stillerer Betrachtung darüber, wie wenig die eigene Rolle bei der Fabrikation dieser Empörung mit ins Bild genommen wird. Der Krieg ist ein Konfliktlösungsmodus, der moralisch sehr rasch in die extreme Verwahrlosung führt.

Geld für die Opposition, Mangel an Geist und Phantasie

Dem Ruf nach Waffen in der Auseinandersetzung Aufständischer mit der syrischen Regierung wurde von den Mächten, die weniger Ahnung von den örtlichen Gegebenheiten, aber großes Interesse an einem Regime Change hatten, eilfertig entsprochen.

Und das gilt bis heute, wie ein Blick in das aktuelle US-Budget zeigt. Die stolze Summe von über 162 Millionen Dollar ist für Waffen, Munition, Fahrzeuge und andere Ausrüstung vorgesehen, die für die "Vetted Syrian Opposition" eingeplant ist, die "überprüfte syrische Opposition".

Man könnte dies nun im günstigsten Licht sehen und die aktuelle Planung, die noch nicht abgesegnet ist, als Konzept sehen, das lediglich vorsieht, die SDF im Euphrat-Tal im Kampf gegen den IS zu unterstützen.

Abgesehen davon, dass auch in diesem Fall mit einer dreistelligen Millionen-Summe Gegner einer legitim gewählten Regierung unterstützt und die Stabilität eines Land untergraben werden, hat die US-Regierung mittlerweile eingeräumt, dass syrische Oppositionsmilizen in der Vergangenheit mit Milliarden unterstützt wurden. Dass Hilfe in bedeutendem Ausmaß auch von Saudi-Arabien, von Katar, von der Türkei, von europäischen Staaten kam, wird niemand ernsthaft leugnen können.

Medienunterstützung, um Tunesien und Ägypten zu wiederholen

Die Strategie der Opposition in der ungleichen Auseinandersetzung mit der syrischen Regierung und der ihr - im Unterschied zu den anderen Staaten der 2011er Aufstände, Ägypten und Tunesien - treuen Armee bestand von Anfang an darin, möglichst viel Medienunterstützung für eine Verstärkung zu bekommen, die von den USA initiiert wird: gute Presse in den Leitmedien der EU-Staaten (vom Guardian bis zur Zeit) und förderliche Presse in der New York Times, Washington Post, CNN etc.. - damit die Anstrengungen des Kampfes gegen Assad erhöht werden.

Das hat wesentlich zur jetzigen Situation, zur Brutalisierung in Syrien, beigetragen. Man musste kein Spezialist der syrischen Geschichte sein, es brauchte nur ein paar Tage, bis ein ganz normaler, etwas neugieriger, aber nicht sonderlich belesener Reisender in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in Syrien erfuhr, dass die Muslimbrüder und die radikalere Auslegung des Islams ein Pulverfass-Thema sind - ähnlich wie die reichen Golfstaaten oder Israel.

Wer Milizen mit einer islamistischen Agenda unterstützt, wusste, worauf er sich einlässt, nicht nur die syrische Regierung hatte viele Geheimdienste im Land. George W, Bush, Präsident Nummer 43 der USA, bediente sich der geheimen Orte in Syrien für sein Folterprogramm. Moralische Überheblichkeit ist da nicht angebracht.

Ab 2012: Dschihad

Die Namen der Milizen, der Gruppierungen, die sich im syrischen Auftstand allmählich formierten, waren schon früh bezeichnend - spätestens ab 2012 konnte sich niemand mehr Illusionen machen: Das Thema Dschihad war zurückgekehrt. Es gab lange Zeit zivile Organisationsformen des Widerstands.

Wahrscheinlich gibt es auch jetzt noch einige Bäckereien und Suppenküchen und andere zivilgesellschaftlich organisierte Hilfe. Aber militärisch hat auf der oppositionellen Seite niemand außer den islamistischen, salafistischen, dschihadistischen, kurz: radikal autoritären Milizen, machtpolitische Relevanz. Das ist ein Fazit, an dem auch Assad-Gegner nicht vorbeikommmen. Die Frage ist, welche Konsequenz daraus zu ziehen ist.

Der französische Spezialist für Syrien und Irak, mit einem weitgefächerten Wissen über die Stämme, Fabrice Balanche, gewiss kein "Assad- oder Putinversteher", zählt in seiner Analyse der letzten sieben Jahre des syrischen Konflikts mehrere Gründe auf, die zu den Konfrontationen zwischen der Regierung und Teilen der Bevölkerung geführt haben.

Manches lässt sich auch sehr knapp und anschaulich bei Ehsani2 nachlesen, einem syrisch-amerikanischen Banker, der regelmäßig twittert und längere Essays oder Artikel bei dem US-Professor Joshua Landis veröffentlicht.

In der Summe ergibt das bei beiden ein Bild, das nicht auf eine völlige Unterwanderung der Demonstrationen und Aufstände gegen die Regierung Baschar al-Assad abhebt, wie das Ansätze tun, die eine organisierte Orchestrierung (ähnlich wie sie es bei den farbigen Revolutionen tun) argwöhnen oder bestätigt sehen wollen, sondern ein Kräftespiel.

Und bei diesem Kräftespiel haben die moralisch so "guten" Europäer und die "great, tippi-top, wonderful" Amerikaner, die bis vor kurzem Menschenrechte zum Banner erhoben, keine wirklich gute, greate Rolle gespielt, weil sie an dem Punkt landeten, dass sie Islamisten, Salafisten und Dschihadisten unterstützen, für die Menschenrechte oder europäische Grundwerte überhaupt nicht zählen.

Was die USA, die EU und die arabische Unterstützer wie Saudi-Arabien, Katar oder Kuweit (aus anderen Gründen) an Glaubwürdigkeit verloren haben, hat Russland gewonnen. Diesen Relevanz-Vorteil will man jetzt über die öffentliche Meinung mit dem Stichwort "Giftgas-Angriffe" zunichte machen.

Anstatt sich eine bessere Politik zu überlegen.