Talibanana oder doch cuius regio, eius religio?

Haben die inhaftierten Mitglieder der Hilfsorganisation "Shelter Now" die Frohbotschaft ihres Herrn in Afghanistan verbreitet?

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Dass die Taliban einen radikalen Fundamentalismus nicht nur predigen, sondern auch uneinbedruckt von der Kritik der Weltöffentlichkeit vollziehen, ist seit Anbeginn ihrer Herrschaft in Afghanistan allzu bekannt (Vgl: Bomben und Granaten auf Buddha sowie: Die "gelbe Gefahr"). Jetzt haben sie erneut zugeschlagen. 24 Mitglieder der internationalen Hilfsorganisation "Shelter Now" wurden inhaftiert, weil sie missioniert und den Islam schwer beleidigt hätten.

"Shelter Now International" begann 1979 zum Zeitpunkt der Invasion Afghanistans durch die Sowjet-Union mit dem Kampf gegen das Elend in dem von Hungerkatastrophen, Bürgerkrieg und fundamental-islamischer Unterdrückung geschüttelten Land. Aber für die Taliban ist ihre Interpretation der Lehre des Propheten erheblich wichtiger als die Sorge um die existenziellen Bedürfnisse der Bevölkerung. Was zählt schon das Hungersterben, wenn der Glaube gefährdet sein könnte? Diplomatisch sind die Taliban auf der Weltbühne praktisch nicht mehr vorhanden. Autistisch grenzen sie sich nicht nur gegen alle Einflüsse des Westens ab, sondern sind auch in der Gemeinschaft des Islam inzwischen weit gehend isoliert. Ihr rigides Religionsverständnis ist mit den humanen Anliegen einer Gesellschaft gleich welcher Konfession kaum zu harmonisieren.

Außer vier Deutschen wurden von der Religionspolizei der Taliban zwei US-Amerikaner, zwei Australier und 16 Afghanen festgenommen. 59 Kinder wurden umgehend in ein moslemisches Umerziehungsheim gebracht, das ihnen schleunigst die Infektion mit christlichem Gedankengut austreiben soll. Die USA, Australien und Deutschland protestierten offiziell gegen die Inhaftierungen.

Nach den ersten westlichen Stellungnahmen hätten die Mitarbeiter der Hilfsorganisation lediglich helfen wollen. Missionierung hätte dagegen nicht auf ihrer Agenda gestanden. Aber das könnte nach neueren Ermittlungen eine Schutzbehauptung sein. Die afghanische Nachrichtenagentur Bachtar meldete, dass im Haus der Shelter-Now-Mitarbeiter zahlreiche Bibeln entdeckt worden seien, die wohl kaum allein für den Hausgebrauch bestimmt gewesen seien. Mohammad Salim Haqqani, Minister zur Förderung der Tugend und Bekämpfung des Lasters, zeigte Reportern als schlagkräftige Beweise Kassetten und Filme über das Christentum sowie Disketten, auf denen die Lebensgeschichte von Christus in den Landessprachen "Dari" und "Pushtu" abgespeichert sei. Haqqani moniert, "Shelter Now" habe sich weder an frühere Warnungen noch an die bekannten Vorschriften gehalten. Zwar seien andere Länder entsetzt über die Inhaftierungen, doch dem stehe die Missachtung des eigenen Glaubens gegenüber.

Auch wenn sich die Taliban das internationale Verständnis für ihr repressives Religionsregime längst verscherzt haben, könnten die Vorwürfe berechtigt sein. "Shelter Now" begreift sich selbst als christliche Entwicklungsorganisation. Die freiwilligen Helfer wollen "Instrumente der göttlichen Liebe für alle Menschen, insbesondere die Armen" sein. "Shelter Now" wurde Selbstverlautbarungen zufolge immer schon von den Kirchen durch Geld, aber auch durch Gebete unterstützt. "Die Arbeit von Shelter Now schließt die Verbreitung des Christentums nicht ein", behauptet dagegen Saleem Afridi, der für die Organisation in Peshawar/Pakistan tätig ist.

Inzwischen ist die Hilfsorganisation selbst ins Gerede gekommen. Vor allem ist unklar, wer sich hinter "Shelter Now" überhaupt verbirgt. Die amerikanische Hilfsorganisation Shelter Now International mit Sitz in Wisconsin will jedenfalls mit der deutschen Gruppe nichts zu tun haben. Die Deutschen hätten sich den Namen "Shelter Now" ohne Genehmigung einfach angeeignet. Die deutsche Gruppe tritt unter diesem Namen seit Jahren in Pakistan und Afghanistan auf. Bisher bekümmerte das allerdings die Amerikaner nicht.

Esteban Witzemann von Shelter Germany e.V. beruft sich darauf, dass das Flüchtlingshilfswerk mit Hauptsitz im Christuszentrum in Braunschweig in Deutschland ordentlich registriert sei. Nun klingt "Christuszentrum" nicht gerade unchristlich und die Verbreitung der Frohbotschaft ist zudem neutestamentarische Verpflichtung. Auch Mitarbeiter der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) weisen darauf hin, dass die Organisation zwar im Christuszentrum der freien evangelischen Kirche in Braunschweig nur Mieter sei, aber mit dem Zentrum auch programmatisch liiert sei. Ihr missionarisches Ziel sei die Gemeindeentwicklung im In- und Ausland. Bei allem Respekt vor der karitativen Tätigkeit: Der Organisation könnte sich etwa an den Konfessionskompromiss des Augsburger Religionsfriedens (1555) bzw. des Westfälischen Friedens (1648) "Cuius regio, eius religio" ("wessen das Land, dessen die Religion") von ferne erinnern. Etwas anderes verlangen die Taliban auch nicht, wenngleich die Instrumente zur Durchsetzung ihrer Religionsherrschaft aus westlich geläuterter Perspektive weniger akzeptabel sind. Dass die Frohbotschaft mit Brot validisiert wird, gehört überdies seit je zu den erfolgreichsten Praktiken der christlichen Missionierung Andersgläubiger.

Witzemann will zwar wissen, dass es keine christlichen Flugblätter gegeben habe und auch nur eine Bibel gefunden worden sei. Zwei Mitarbeiterinnen der Organisation, eine Amerikanerin und eine Australierin, sollen nach ihrer Festnahme aber die weiter reichenden Vorwürfe der Taliban eingeräumt haben, für das Christentum missioniert zu haben. Sie hätten auch bereits um Verzeihung gebeten.

Außenminister Abdur Rehman Zahid erklärte, dass die Untersuchungen weiter gingen: "Den Inhaftierten geht es gut. Sie bekommen gutes Essen und Getränke". Nach Haqqani bestehe kein Bedarf für ausländische Hilfsorganisationen, die Gefangenen zu besuchen, schon gar nicht sei es notwendig, dass ausländische Anwälte zu dem Verfahren hinzugezogen würden. Da dürfte er Recht haben, da Anwälte ohnehin gegenüber dieser islamischen Rechtspraxis wenig zu bestellen hätten. Die Taliban weigern sich beharrlich, Visa für Diplomaten auszustellen, die den weiteren Verlauf des Verfahrens beobachten sollen. Das könnte aber bereits das Signal einer baldigen Ausweisung der ausländischen Mitarbeiter des Flüchlingswerks sein.

Was droht eigentlich? Wahrscheinlich ist, dass für Ausländer die Regeln, die das Informationsministerium am 5. Juni dieses Jahres veröffentlicht hat, Anwendung finden. Bekehrungsversuche können mit bis zu 30 Tagen Haft und anschließender Ausweisung geahndet werden. Die anfängliche Befürchtung, dass auch die ausländischen Mitarbeiter der Hilfsorganisation mit der Todesstrafe bedroht seien, dürfte danach nicht mehr begründet sein. Die afghanischen Mitarbeiter müssen dagegen mit schwersten Strafen rechnen. Die Missionierung von Moslems, die Konvertierung eines Moslems zu einer anderen Religion, aber auch nur die Beteiligung daran können mit der Todesstrafe geahndet werden. Auch wenn die jetzt inhaftierten Moslems dem drakonischen islamischen Rechtskanon der "Sharia" unterworfen werden, könnte das Todesurteile "legitimieren". Das weitere Verfahren wird erst nach dem Spruch des Obersten Geistlichen Führers der Taliban Mullah Mohammad Omar entschieden. Die Taliban könnten die Vorwürfe zum Anlass nehmen, in Kabul ein öffentliches Religionstribunal zu inszenieren, das jeglichen Restzweifel an ihrer Entschlossenheit, rückhaltlos dem wahren Glauben zu dienen, beseitigen soll.

Wie immer Ermittlungen und Prozess auch enden mögen, so steht schon jetzt fest, dass das Engagement von Hilfsorganisationen vor Ort zum kaum mehr vertretbaren Risiko wird. Der radikale Flügel der Taliban, der zurzeit die Geschicke des Landes bestimmt, hätte dann erreicht, dass sie Afghanistan nicht nur endgültig in die totale Isolation treiben, sondern auch von westlichen Hilfsmaßnahmen gänzlich abschneiden. Dann bliebe nur noch die Aufgabe, nach den Häretikern in den eigenen Reihen zu fahnden. Beobachtern gilt das Dekret vom Juni gegen Ausländer als Ausdruck des Machtkampfs zwischen fanatischen und gemäßigteren Taliban. Nach der hinlänglich demonstrierten Inquisitionsmoral der Fundamentalisten könnte daher bei weiterer Verschlechterung der Lebensbedingungen im Lande demnächst auch der finale Machtkampf in den eigenen Reihen ausbrechen. Vielleicht wäre es doch besser, auch christlich gesegnetes Brot nicht zu verschmähen.