Taurus-Gate und Attacken auf Scholz: Will Putin einen CDU-Kanzler?
Der Verteidigungsminister ist sicher, was die russische Seite mit dem Leak bezweckt: Spaltung. Aber kann sie auch wollen, dass die Union profitiert?
"Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht", hatte Altbundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2013 betont, als im Zuge der NSA-Affäre bekannt geworden war, dass der US-Geheimdienst unter anderem ihr Handy abgehört hatte.
Unter Gegnern ist aber jederzeit mit Lauschangriffen zu rechnen. Insofern besteht der aktuelle "Abhörskandal" rund um das "Taurus-Gespräch" aus der Sicht von Profis wie August Hanning, von 1998 bis 2005 Präsident des Bundesnachrichtendienstes, vielleicht eher darin, dass die beteiligten ranghohen Militärs es dem russischen Geheimdienst so leicht gemacht haben.
Ex-Geheimdienstchef hält Bundeswehr für erstaunlich naiv
Leider herrsche in Deutschland und offenbar auch in Teilen der Bundeswehr eine "erstaunliche Naivität bei Telefonaten und im E-Mail-Verkehr", sagte Hanning der Neuen Zürcher Zeitung. Er vermute, dass die Russen noch sehr viel mehr Material hätten "und wir zurzeit nur die Spitze des Eisbergs erleben".
Das ist peinlich für Luftwaffen-Inspekteur Ingo Gerhartz, Brigadegeneral Frank Gräfe sowie Oberstleutnant Fenske und Oberstleutnant Florstedt, die das Gespräch am 19. Februar via Webex führten.
Worin besteht nun genau der Skandal – wer ist schuld und wen wollten "die Russen" damit hauptsächlich treffen? - Daran schließt die Frage an, welche Reaktionen aus Nato-Sicht gerade vermieden werden sollten.
Pistorius spricht von Desinformation, aber nicht von Fälschung
Bemerkenswert ist, dass Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Zusammenhang mit der geleakten Audiodatei von Desinformation spricht – ohne zu behaupten, dass Gesprächsinhalte manipuliert worden seien.
Pistorius betonte am Wochenende, die Veröffentlichung des gut 38-minütigen Gesprächs sei Teil eines "Informationskrieges", den der russische Präsident Wladimir Putin führe. "Es handelt sich um einen hybriden Angriff zur Desinformation – es geht um Spaltung, es geht darum, unsere Geschlossenheit zu untergraben", sagte Pistorius.
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Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur ist das Gespräch authentisch. Das Verteidigungsministerium behauptet bisher nichts anderes, wollte die Authentizität aber zunächst auch nicht zu 100 Prozent bestätigen. Man gehe davon aus, dass ein Gespräch abgehört worden sei, könne allerdings nicht bestätigen, ob die Konversation zu 100 Prozent authentisch sei.
Inzwischen kann wohl davon ausgegangen werden, dass sich aber einer der Beteiligten zu Wort gemeldet haben, wenn eine Manipulation vorläge. Mittels künstlicher Intelligenz wäre das technisch möglich.
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Stellenweise werden die Gedankenspiele der Bundeswehr-Luftwaffenoffiziere in der abgehörten Webex-Konferenz sehr konkret – im russischen Mitschnitt, dessen Veröffentlichung in den letzten Tagen hohe Wellen geschlagen hat, wird beispielsweise erwähnt, dass zehn bis 20 Taurus-Marschflugkörper nötig sein könnten, um die strategisch wichtige Krim-Brücke bei Kertsch zu zerstören.
Allerdings fällt vorher der Satz: "Wenn wir uns denn mal politisch entscheiden würden, die Ukraine zu supporten damit, wie könnte denn die ganze Nummer am Ende laufen?" Die Szenarien werden also scheinbar nur für den Fall des Falles besprochen.
Im Fall der Taurus-Lieferung könnten die Briten helfen
Hintergrund ist das Fehlen entsprechend ausgebildeter ukrainischer Militärs, um das Taurus-Waffensystem auch einzusetzen – was zu der Problematik führt, dass Know-How in irgendeiner Form mitgeliefert werden müsste, da die Ausbildung Zeit in Anspruch nimmt.
Dazu heißt es im Gespräch, "die Engländer" hätten auch "auch paar Leute vor Ort"; deren Scalp-Marschflugkörper würden ähnlich bedient – und sie hätten schon zugesagt, sie würden "auch den Ukrainern beim Taurus-Loading über die Schulter gucken".
In diesem Fall wären keine deutschen Spezialisten in der Ukraine notwendig – was in den letzten Wochen eine wichtige Streitfrage zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und den Befürwortern der Taurus-Lieferung an die Ukraine war.
CDU-Politiker nennt Scholz im Taurus-Streit Sicherheitsrisiko
Die Unionsparteien nutzen den Leak nun, um ihren üblichen Verdächtigen zu attackieren – den als "Zauderer" verschrienen Bundeskanzler, der bisher keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern wollte und dies damit begründet hatte, dass die Anwesenheit deutscher Soldaten vor Ort nötig sei, um diese Waffe einzusetzen.
Der CDU-Wehrpolitiker Roderich Kiesewetter stilisiert Scholz gar zum "Sicherheitsrisiko für Europa": Er geriere sich als "Friedenskanzler", der scheinbar alles tue, damit Deutschland nicht zur Kriegspartei werde, sagte Kiesewetter dem Berliner Tagesspiegel vom Samstag. "Dabei greift er russische Narrative und Desinformation auf, in der Hoffnung Wählerstimmen von AfD und BSW abzugreifen."
Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung warf Kiesewetter Scholz vor, dabei "mit falschen Informationen" über die Einsatzbedingungen von Taurus zu arbeiten.
Was musste Scholz wissen, ohne Waffenexperte zu sein?
Die Frage ist, welche Möglichkeiten Scholz im Hinterkopf haben musste, denn er ist kein Waffenexperte und es kursierten widersprüchliche Informationen – noch vor wenigen Tagen gab ihm ein Oberst a. D. in einem Gastbeitrag im Focus Recht.
Das juristische Fachmagazin Legal Tribune Online zieht auch in Betracht, dass Scholz "keine Ahnung von Taurus" habe:
Der Kanzler hat entweder keine Ahnung von Taurus oder er hat der Öffentlichkeit die Unwahrheit gesagt. Denn aus der abgehörten Schalte der Luftwaffenoffiziere geht eindeutig hervor, dass die Beteiligung deutscher Soldaten insbesondere an der Zielprogrammierung des Marschflugkörpers nicht zwingend erforderlich ist.
Dr. Patrick Heinemann: Was sagt das Recht zum Taurus-Leak? / Legal Tribune Online
Taurus-Gepräch diente Briefing von Pistorius
Die am Freitag geleakten Gesprächsinhalte der Luftwaffenoffiziere stammen vom 19. Februar. Wie gut muss Scholz sie, ab wann gekannt haben – und inwieweit ist er persönlich an den Sicherheitslücken schuld?
Aus der Audiodatei geht hervor, dass sich die Militärs darauf vorbereiteten, Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in der Taurus-Frage zu briefen. Bis dahin muss Scholz nicht besser im Bilde gewesen sein als der zuständige Ressortchef.
Pistorius’ Hinweis, dass es Putin um Spaltung gehe, war sicher auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse der Unionsparteien, die nun Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) attackieren.
CDU-Mann Kiesewetter arbeitet mit russischen Informationen
"Russland hat gezeigt, dass Scholz mit falschen Informationen arbeitet", sagte der CDU-Wehrpolitiker Roderich Kiesewetter, der sich vehement für die Taurus-Lieferung an die Ukraine eingesetzt hatte, am Wochenende der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Gemeint war Scholz’ Aussage, dass die Anwesenheit von Bundeswehr-Experten in der Ukraine nötig sei, um das Waffensystem einzusetzen.
Offiziere schätzen Taurus nicht als Gamechanger ein
Aus dem Gespräch der Luftwaffenoffiziere geht allerdings auch hervor, dass sie die Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine nicht als "Gamechanger" einschätzen: Es müsse klar sein, dass dies "nicht den Krieg ändern" werde. Mehr als 100 Marschflugkörper in zwei Tranchen halten sie nicht für lieferbar – dann sei "Ende Gelände" – und die ersten 50 seien schnell verschossen.
Letzteres spricht gegen Kiesewetters Argumentation, die in den letzten Wochen stets klang, als sei Scholz durch sein Nein zur Taurus-Lieferung letztendlich schuld, wenn die Ukraine den Krieg verliere.
Warum sollte Putin die CDU stärken wollen?
Die Putin-Administration kann auf den ersten Blick auch nicht wollen, dass die Unionsparteien den nächsten Kanzler stellen und ein Hardliner wie Kiesewetter der nächste deutsche Verteidigungsminister wird – es sei denn, sie ist bereit, maximale Risiken einzugehen, um der eigenen Bevölkerung das ideale Feindbild präsentieren zu können.
Schließlich will Kiesewetter erklärtermaßen, dass der Krieg "nach Russland getragen" wird. Solche Töne aus Deutschland rufen in der Russischen Föderation schlimme Erinnerungen an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion von 1941 wach.
Vielleicht geht es den Russen aber gar nicht um das Parteibuch der politischen "Charaktermasken", sondern um den militärisch-industriellen Komplex.
Vorerst keine personellen Konsequenzen
Der stellvertretende Bild-Chefredakteur Paul Ronzheimer rät jedenfalls den Beteiligten auf deutscher Seite davon ab, aufgrund der russischen Veröffentlichung personelle Konsequenzen zu ziehen oder zu fordern.
Die Russen haben die Bundeswehr abgehört, sie lächerlich gemacht – und würden sich garantiert darüber freuen, wenn jetzt auch noch Staatsdiener ihre Posten verlieren. Vielleicht war das sogar das Ziel der russischen Propaganda-Operation. Das Nato-Bündnis soll gespalten, Top-Offiziere der Bundeswehr geschwächt werden. Diesen Gefallen sollten wir Putin ganz sicher nicht tun.
Paul Ronzheimer, stellvertretender Bild-Chefredakteur
Mit ähnlicher Argumentation lehnte auch Pistorius zunächst personelle Konsequenzen ab. Währenddessen wird allerdings die Qualifikation der "Top-Offiziere", die sich so unkompliziert abhören ließen, im deutschsprachigen Internet stark angezweifelt.