Telepolis exklusiv: Gegen dieses SPD-Papier läuft Kiew gerade Sturm

Seite 2: SPD zu Ukraine und "Zeitenwende": "Haben die Tür für diplomatische Lösungen offengehalten"

Die Außenpolitik der SPD sorgt spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine für Debatten. In diesem Zusammenhang liegt der Klausursitzung des Fraktionsvorstandes und der Fraktion am heutigen Donnerstag und morgigen Freitag ein umfassendes Positionspapier vor, das in Teilen schon in der Presse zitiert wurde.

Aus Kiew wurden einzelne bekannte Aussagen aus dem neunseitigen Dokument bereits kritisch kommentiert. Telepolis dokumentiert das Positionspapier mit dem Titel "Sozialdemokratische internationale Politik in der Zeitenwende" heute und morgen in zwei Teilen. Der folgende Text ist ein Entwurf, der in Fraktion und Partei am Mittwochabend verbreitet wurde.

I. Putins Angriffskrieg als Zeitenwende

Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und etwas mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende der jugoslawischen Nachfolgekriege herrscht wieder ein Krieg in Europa. Der völkerrechtswidrige, brutale und menschenverachtende Überfall Russlands auf die Ukraine hat der nach dem Ende der Blockkonfrontation mühsam aufgebauten internationalen Sicherheitsarchitektur den Boden entzogen. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27.Februar 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz den Krieg deshalb zurecht als eine Zeitenwende bezeichnet.

2022 hat Deutschland die Ukraine bilateral mit über zwölf Milliarden Euro unterstützt. Wir unterstützen finanziell, humanitär, militärisch und diplomatisch, damit die Ukraine ihr Territorium und ihre Souveränität erfolgreich verteidigen kann. Wir tun das gemeinsam mit unseren internationalen Partnern in der EU, der Nato und der G7. Nationale Alleingänge lehnen wir ab. Erstmals in seiner Geschichte hat Deutschland im großen Umfang Ausrüstung und Waffen in ein Kriegsgebiet geliefert, damit sich die Ukraine gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriff verteidigen kann.

Lesen Sie zu diesem Thema auch unseren Nachrichtenbeitrag "SPD-Fraktion: Ablehnung weiterer Panzerlieferung 'zwischen den Zeilen'?"

Viele Ukrainer:innen haben durch den Krieg ihr Zuhause verloren und sind auf der Flucht. Die Bundesregierung hat deshalb erhebliche Mittel zur Linderung akuter Not bereitgestellt, um etwa Wohnunterkünfte für Binnenflüchtlinge zu finanzieren oder notwendige Infrastruktur wie die Strom- und Wasserversorgung sicherzustellen.

Überdies hat Deutschland bereits mehr als eine Million Ukrainer:innen aufgenommen und unterstützt auch die Nachbarländer der Ukraine, insbesondere Moldau. Hinzu kommen bilaterale Budgethilfen, um die staatliche Handlungsfähigkeit der Ukraine sicherzustellen sowie Rüstungsgüter im Wert von über zwei Milliarden Euro, die aus Deutschland bereits bereitgestellt wurden.

Deutschland ist darüber hinaus größter Einzahler in den Refinanzierungsfonds der Europäischen Friedensfazilität, dessen Gesamthöhe sich auf 5,5 Milliarden Euro beläuft. Mit dem Geld werden die ukrainischen Streitkräfte gezielt gestärkt. Diesem Ziel dient auch die Ausbildung von ukrainischen Soldaten auf dem Territorium der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen einer EU-Ausbildungsmission, bei der Deutschland eine koordinierende Rolle einnimmt.

Trotz der anhaltenden Kriegshandlungen geht es auch darum, die Ukraine beim Wiederaufbau zu unterstützen und schon jetzt dafür notwendige Maßnahmen zu koordinieren. Gemeinsam mit der Ukraine und internationalen Partnern arbeitet die Bundesregierung an einem "Marshall-Plan" für den langfristigen Wiederaufbau der Ukraine.

Auf Initiative des Bundeskanzlers und der EU-Kommission sind deshalb im Rahmen einer internationalen Konferenz Ende Oktober 2022 in Berlin Vertreter:innen von internationalen Organisationen und Think-Tanks sowie aus der Wissenschaft, Zivilgesellschaft und des Privatsektors zusammengekommen. Dadurch wurden eine internationale Struktur für den Wiederaufbau und eine Plattform angestoßen, um unsere Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine zu koordinieren.

Gemeinsam mit unseren internationalen Partnern haben wir weitreichende Sanktionen sowie ein Öl- und Kohleembargo beschlossen, die Russland politisch wie wirtschaftlich isolieren – und zugleich die Tür für diplomatische Lösungen offengehalten.

Denn wir wissen: Kriege werden in der Regel nicht auf dem Schlachtfeld beendet. Bei jeglichen Verhandlungsbemühungen gilt das Prinzip: nicht ohne die Ukraine, nicht über die Ukraine hinweg. Die Grundvoraussetzungen eines Friedensschlusses haben die G7-Staaten in ihrer Erklärung vom 11. Oktober 2022 in Absprache mit der Ukraine dargelegt.

Diese sind insbesondere die Achtung des in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Schutzes der territorialen Unversehrtheit und Souveränität der Ukraine, die zukünftige Sicherung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine, die Gewährleistung des Wiederaufbaus der Ukraine, auch unter Prüfung von Möglichkeiten, hierzu Mittel aus Russland einzusetzen sowie die Rechenschaft für im Krieg begangene russische Verbrechen.

Auch wenn es aus nachvollziehbaren Gründen keinerlei Vertrauen mehr zur gegenwärtigen russischen Führung gibt, müssen diplomatische Gespräche möglich bleiben. Deshalb sind auch die Gespräche, die Bundeskanzler Olaf Scholz in Abstimmung mit der Ukraine und unseren internationalen Partnern regelmäßig mit Wladimir Putin führt, richtig und notwendig.

Deshalb brauchen wir auch weiterhin wo immer möglich diplomatische Initiativen – sei es im Rahmen der Vereinten Nationen oder zum Beispiel über den so wichtigen Einsatz der Internationalen Atomenergiebehörde zur Sicherung der ukrainischen Atomkraftwerke. Wir müssen weiterhin jeden Versuch unternehmen, Russland zum Rückzug zu bewegen und gegenüber Russland eine ehrliche Bereitschaft zu einem gerechten Friedensschluss einfordern.

In kleinen Teilbereichen konnten in Gesprächen mit Russland Vereinbarungen erzielt werden, etwa zwischen der Ukraine und Russland zu Fragen des Gefangenenaustausches oder zwischen den Vereinten Nationen, der Türkei, der Ukraine und Russland zur Ausfuhr von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer.

Es gilt, auf diesen Ansätzen aufzubauen, etwa im Bereich der Rüstungskontrolle. Bevor aber mit Russland wieder Vertrauen wachsen kann, muss es zu einer fundamentalen Abkehr vom verbrecherischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der dahinterstehenden expansionistischen Ideologie kommen.

Wenn eine ernsthafte Bereitschaft hierzu erkennbar sein sollte, könnte eine Politik der kleinen Schritte, die in überschaubaren Bereichen Initiativen zur Vertrauensbildung startet und regelmäßig auf ihre Wirksamkeit überprüft wird, ein diplomatischer Ansatz sein.

Eine sozialdemokratische internationale Politik muss auch Deutschlands grundsätzliche Rolle in den Blick nehmen. Dazu gehört auch die Stärkung von Deutschlands Sicherheit und der Schutz unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Klar ist: Deutschland sollte mehr Verantwortung für Frieden und Stabilität auf dem europäischen Kontinent und seiner Nachbarschaft übernehmen und dafür die notwendigen Instrumente bereitstellen.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits zu Beginn des Krieges die richtigen Schlüsse gezogen und mit konkreten Maßnahmen diese neue Ära eingeleitet. Beispielhaft hierfür sind das Bundeswehr-Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro, die kontinuierliche Steigerung der Verteidigungsausgaben, die EU-Sanktionspakete, die Waffenlieferungen an die Ukraine, die Diversifizierung von Energieimporten, der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien, die Entlastungspakete für unsere Bürgerinnen mit einem Gesamtvolumen von mehr als 200 Mrd. Euro, die finanzielle und politische Stärkung der Entwicklungszusammenarbeit sowie das aktive Werben um neue Partner im Globalen Süden und darüber hinaus.

Diese Initiativen gilt es in den kommenden Monaten und Jahren auszubauen, weiter zu schärfen und in internationale Partnerschaften zu gießen. Konfrontiert mit neuen oder sich ausbreitenden Krisen und Konflikten auf unserem Planeten müssen wir Friedens- und Demokratieprozesse dort, wo wir es vermögen, unterstützen. Wir stehen fest an der Seite der Demokratiebewegung im Iran.

Wir wollen die zivile Krisenprävention stärken und uns für die Etablierung einer globalen und solidarischen Verantwortungspartnerschaft einsetzen, die ausdrücklich die Belange des Globalen Südens verstärkt in den Fokus nimmt. Zu einer globalen Verantwortungspartnerschaft gehört es zudem, die zweite Hälfte auf dem Weg der Umsetzung der Agenda 2030 zu nutzen, um die Zielerreichung der Sustainable Development Goals wieder stärker in den Fokus internationaler Politik zu rücken. Dies ist nur mit einer starken VN mit einem klaren Mandat möglich.

Eine solche Transformation-Politik braucht mittel- und langfristig eine breite gesellschaftliche Zustimmung, denn es stehen nicht weniger als Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa auf dem Spiel. Dazu gehört, dass die deutsche Sozialdemokratie ihre internationale Politik im Zeichen der Zeitenwende auch durchaus selbstkritisch reflektiert, justiert und erklärt.

Hier setzt auch unsere Nationale Sicherheitsstrategie an, deren Erarbeitung wir unterstützen. Wir müssen die äußere und innere Sicherheit viel stärker ineinander verzahnen, um den aktuellen Bedrohungen gerecht zu werden.

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