The Assault
Falludscha: Die Zelte für die Toten sind schon aufgebaut
Die Puppe beim Fensterschließen: Es ist die immergleiche Floskel, die die öffentlichen Auftritte des irakischen Ministerpräsidenten, zuletzt in Brüssel, seit geraumer Zeit markiert: "Das Fenster für eine friedliche Lösung (in Falludscha) schließt sich" (vgl. Die Fliege macht sich davon und das Pferd stirbt).
Indes die Marines in den Außenbezirken der belagerten Stadt ungeduldig darauf warten, dass Allawi das Fenster zumacht und alles weitere den "Wenigen und Stolzen" überlässt, demonstriert der militante Widerstand im Vorfeld der Großoffensive auf Falludscha eine Taktik, welche die Aussicht auf eine schnelle militärische Lösung verdüstert. Währenddessen versucht eine sunnitische Initiative in letzter Minute ein neues Fenster zu einer friedlichen Lösung aufzumachen.
Bislang haben prominente Vertreter der irakischen Sunniten, allen voran die Association of Muslim Scholars (AMS), den Widerstand gegen die amerikanische Besatzung ermutigt und davor gewarnt, dass sie zum Boykott der Wahlen Anfang nächsten Jahres aufrufen würden, sollten die US-Streitkräfte im Verbund mit irakischen Truppen Falludscha angreifen (vgl. Die entscheidende Schlacht). Jetzt soll sich auch die AMS einer größeren "konstruktiven" Initiative angeschlossen haben, die mit einem Bündel an neuen Vorschlägen das Blatt in letzter Sekunde wenden will. Das Versprechen der "sunnitischen Führer", wie sie die Washington Post bezeichnet: Man wolle selbst mit friedlichen Mitteln für Recht und Ordnung in den unruhigen Gebieten sorgen. Die spektakulärste der sechs vorgebrachten Bedingungen: Die alliierten Truppen sollten sich einen Monat vor den Wahlen auf ihre Basen zurückziehen, ihre Streitkräfte aus allen größeren Städten abziehen.
Sollten die Amerikaner diesen Vereinbarungen zustimmen, betont der Sprecher der Initiative, Wamidh Nadhmi, Professor für politische Wissenschaften an der Universität von Bagdad, dann würden die AMS und andere Vertreter der sunnitischen Muslime ihre Haltung ändern und an der Wahl teilnehmen. Eine offizielle Reaktion von US-Vertretern auf dieses Angebot gibt es bislang nicht; mitgeteilt wird nur, dass dies Angelegenheit der irakischen Interimsregierung sei. Inoffiziell misstraut man von amerikanischer wie irakischer Seite den Versprechungen der Sunniten-Führer, die sich einen solch großen Einfluss auf den Widerstand zutrauen.
Die Stimmen derer, die in dieser Initiative einen Ausweg aus dem Dilemma sehen, demzufolge der Widerstand im Irak nicht mit militärischen Mitteln alleine gelöst werden kann, sind in der Minderheit.
Währenddessen scheinen die militärischen Vorbereitungen auf die Großoffensive abgeschlossen: Der Angriff könnte schon morgen erfolgen, spekuliert der Guardian. Das letzte Indiz dafür erkennt die britische Zeitung darin, dass man das medizinische Team der Streitkräfte, welche die Stadt belagern, verdoppelt habe; Aufbewahrungsstätten für Leichen seien ebenfalls vor Ort. Truppen in Stärke von 35.000, irakische und amerikanische Streitkräfte (etwa 10.000), sollen eine Art Kordon um Falludscha gezogen und alle Zufahrtstrassen blockiert haben; Flüchtlinge können nur mehr über eine einzige offene Strasse aus der Stadt gelangen. Die Schätzungen darüber, wie viele Einwohner Falludscha bereits verlassen haben, differieren; die meisten Berichte gehen davon aus, dass noch etwa 50 – 60.000 Zivilisten in der Stadt geblieben sind; die frühre Einwohnerzahl wird mit etwa 300.000 angegeben. Mit den Bomben, die seit mehreren Wochen auf Falludscha niedergingen, wurden auch Flugblätter abgeworfen, welche die Bewohner zur Evakuierung aufriefen.
Erschreckend ist folgendes militärisches Credo, von dem ein "eingebetteter Journalist" berichtet. Wer jetzt Falludscha nicht verlassen hat, gilt als Sympathisant oder Unterstützer der Terroristen. Die (allerdings sehr schwache) Hoffnung, dass dies vor allem kriegerische Drohgebärde zur Einschüchterung ist und kein allgemeiner Schießbefehl, könnte ein Blick in die öffentlichen Emails, die ein Marinesoldat an seinen Vater schreibt, bestätigen. Durch alles martialische Geklirre hindurch lässt der Autor der Mails erkennen, dass man in Marine-Kreisen die Zivilbevölkerung eher als Geisel der Muji-Thugs begreift denn als deren freiwillige Unterstützer.
Jeden Tag nimmt sich der Feind mehr Geiseln, tötet irakische Führer und verprügelt verdächtige Kollaborateure in brutalster Weise. Ich gebe dir ein kurzes Beispiel davon, was letzte Woche passiert ist. Eine unserer Patrouillen fuhr eine Straße hinunter, als sie etwas bemerkten, das wie ein Kampf aussah. Die Marines rückten näher heran. Eine Familie, die sich auf Pilgerreise im Irak befand, wurde als Geisel genommen und nach Falludscha gebracht. Der Muj (Mudschahedin) hielt für einen Moment inne und der Familienvater begann, sich zu wehren. Die Marines gingen dazwischen und nahmen zwei der Kidnapper gefangen. Die zwei anderen rannten davon, die Marines konnten nicht auf sie feuern, ohne Angst zu haben, dass sie andere töten bzw. verwunden könnten...
Jeden Tag fahren Aufständische aus Falludscha in die Außenbezirke und warten auf Iraker, die auf unseren Basen arbeiten. Sobald die Iraker die Basen verlassen, werden sie aufgehalten. Die Glücklicheren werden schlimm zusammengeschlagen, die Unglücklichen getötet. Eine Familie, die aus Falludscha geflohen ist, um den Kämpfen zu entkommen, wollte kürzlich zurückkehren. Als sie an ihrem Haus ankam, fand sie es in den Händen von Terroristen, was ganz gewöhnlich ist. Als der Familienvorstand den Muj seine Urkunde zeigte, um zu beweisen, dass das Haus ihm gehörte, zerrten sie den alten Mann auf die Strasse, um ihn vor seiner Familie bewusstlos zu schlagen.
Gruppenexekutionen sind an der Tagesordnung. Denk darüber nach. Gruppenexekutionen passieren innerhalb Falludschas mit ernüchternder Häufigkeit.
Major David G. Bellon
Dass im Gefechtsfall dessen ungeachtet auf alles geschossen werden wird, was verdächtig ist, und "Kollateralschäden" selbst mit Präzisionswaffen (vgl. Neue "Präzisionswaffen" für den Showdown in Falludscha) nicht zu verhindern sind, lässt dennoch das Schlimmste für die Bevölkerung in Falludscha ahnen.
Das Schlimmste, was den (langfristigen) militärischen Erfolg der Großoffensive gegen Falludscha und andere Städte im sunnitischen Dreieck wie Ramadi betrifft, lässt die gestrige Anschlagserie im Irak erahnen. Während sich die amerikanischen und irakischen Truppen augenscheinlich auf Falludscha konzentrieren, agieren deren Gegner dezentral, an mehreren Orten gleichzeitig und augenscheinlich mit "präziser Taktik", die verwundbare Punkte bloßlegt und entsprechende Aufmerksamkeitswirkungen in der Öffentlichkeit erzeugt. 19 tote Iraker in Samarra und mindestens 20 verwundete amerikanische Soldaten in der Nähe von Ramadi sind in Zahlen ausgedrückt das Ergebnis der Anschlagserie.
Ihre "symbolische" Bedeutung geht darüber hinaus: Samarra wurde vor kurzer Zeit noch als eben der militärische Erfolg der Allianz von Irakern und Amerikanern gefeiert, den man jetzt auch in Falludscha anstrebt: der Sieg über die Terroristen und die Kontrolle über die Stadt. Die Anschläge in Ramadi machen einmal mehr deutlich, dass die strategisch so wichtige Stadt, gelegen an einer der zentralen Straßen im Irak, nach wie vor in den Händen der "Widerständler" ist.
Schon die Anschläge auf die schottischen Black-Watch-Soldaten, die zur Rückendeckung der Marines im Irak umstationiert wurden, bewiesen, dass die Strippenzieher eine ziemlich genaue Ahnung davon haben, was in der britischen Öffentlichkeit berichtet wird und welche Diskussionen bestimmte terroristische Operationen in den westlichen Medien auslösen. ("Raus aus dem Irak!") Dieser asymmetrische Krieg ist wohl nicht zu gewinnen.