Totgeschwiegen

Fussnoten

1

Ich stehe diesem Film, wie man aus dem weiteren Verlauf meines Beitrags erkennen kann, ausgesprochen zwiespältig gegenüber. Auf der einen Seite betrachte ich ihn als unverzichtbar. Er speichert unwiederbringliches Interview- und Aufnahmematerial aus seiner Zeit. Man kann diese Menschen nicht noch einmal filmen, weil es sie so (oder überhaupt) nicht mehr gibt. (Allerdings könnte der Film einen neuen Schnitt und eine digitale Bearbeitung vertragen.) Er sollte als DVD in jedem (zumindest: jedem österreichischen) Haushalt stehen. (Tatsächlich ist er nicht öffentlich erhältlich. Auch ich besitze nur eine Privatkopie.) Andererseits ist der Film von einer solch verschwurbelten Machart, dass man fast schon eine Filmschul-Diplomarbeit darüber schreiben müsste, um jede Einstellung, jeden Kader kritisch auf seine hohlen Stellen abzuklopfen. Der Film ist auf faszinierende Weise unzureichend recherchiert, die Filmemacher, die wohl auch die Fragen an die Interviewpartner stellen, erweisen sich als über die Maßen amateurhaft und unvorbereitet. Man gewinnt den Eindruck, das Regie-Gespann hätte eine österreichische Variante von Peter Weirs australischem Horrorfilm, "The Cars That Ate Paris" (1974) drehen wollen. In Wirklichkeit wollten sie natürlich einen Dokumentarfilm drehen. Als solcher, als Reportage, als Journalismus, steht der Film über weite Strecken neben den Schuhen. Die Ko-Regisseurin nahm sich nach Fertigstellung des Films im Februar 1994 das Leben. (Die übliche Widmung für einen während der Dreharbeiten gestorbenen Kollegen fehlt daher.) Ich möchte nicht spekulieren, wie weit diese Lebensentscheidung von Margareta Heinrich mit ihrer Arbeit am Film im Zusammenhang steht. Aber ich möchte mir darüber auch nicht die Kritik am Film verkneifen dürfen.

Man hat hier einen jener Zwitterfilme gedreht, die vom ORF in Österreich gezeigt werden, dann aber auch z. B. an das ZDF weiterverkauft werden, weswegen das Wort "Kreuzstadl" als "Kreuzstadel" erscheint, und so fort. Man hat offenbar von Anfang an auf den Verkauf ins Ausland geschielt, und dabei ging es nicht um Aufklärung, um harte journalistische Arbeit, sondern um weiche Stimmungsmache. Der Film entführt uns in ein seltsames "Niemandsland" - in ein "Nirgendwo" - in ein "Grenzland" - und hier wird uns dann eine kafkaeske Landbevölkerung vorgeführt, die Zeuge eines Nazi-Gräuels wurde, aber beharrlich schweigt. Die denunziatorische Absicht des Films ist von Anfang an Programm. Die Aussage beispielsweise der namentlich nicht genannten Frau (sie heißt Anna Schermann) in jener Szene, die ich zu Beginn hervorhob, deren Tränen - und seien es nur Krokodilstränen gewesen! - um die Opfer des Massakers ich so berührend fand, (wieder und wieder wischt sie sich mit dem Taschentuch die Augen trocken), wird im Film anschließend sogleich herum gedreht. Von Außen sieht die Kamera zu, Tor und Fensterläden werden geschlossen, die Vorhänge zugezogen, das Licht ausgeknipst. "Nur nichts hören, nur nichts sehen wollen" signalisiert dieses Bild. Die Menschen werden interviewtechnisch überfallen, manipuliert, wie Tiere in einem Tierfilm, wie Shirley Temple als Vierjährige. Um die "talking heads" in Bilder dörflichen Lebens einzubetten, oder um die Interviewpartner leichter hereinlegen zu können, werden sie bei alltäglichen Verrichtungen befragt. Eine Frau wird beim Essen gefilmt. Während sie spricht (hier in der hochdeutschen Transliteration der Untertitel) stochert sie unentschlossen auf ihrem Teller herum:

An dieser Stelle schiebt sich die Frau mit der Gabel etwas zu essen in den Mund.

Schnitt.

Immer wieder fährt die Kamera bei Dunkelheit durch Rechnitz, als sei es nach wie vor eine gefährliche Kriegszone. Der Zuschauer ist komplett verwirrt. Wo ist dieses Kaff? Wie sieht es aus? Betrachtet man sich dagegen ganz normale Fotos, kann man den Ort von Bad Homburg ob der Höhe kaum unterscheiden. Das für die ganze Geschichte zentrale Gebäude, Schloss Rohoncz (ungarisch für: Rechnitz) der Familie Batthyány wird nicht ein einziges Mal gezeigt - wie überhaupt historisches Bildmaterial ganz offensichtlich Mangelware ist. Wozu, fragt man sich, gibt es in Wien das gigantische Filmarchiv, das Fotoarchiv der Nationalbibliothek? Oder die historischen Archive im Burgenland selber? Nicht einmal die Ruine oder die Stelle, wo das Schloss stand, sieht man. Dieses Schloss wird im Film kaum erwähnt, als könne man, wie Kafkas "K", es nie erreichen. Das einzige, was der Film machen möchte, ist Stimmung. Die Stimmung einer geistigen Verschwommenheit, einer Andacht, eines Trauergottesdienstes. Zum Schluss tritt der Herrgott selber auf, oder der Weihnachtsmann, in Gestalt eines langhaarigen und zottelbärtigen Wunder-Rabbis von irgendwoher, "Rabbi Simon Anshin". Ein jüdischer Harry Rowohlt aus der Lindenstraße. Der reguläre Wiener Rabbiner - seit 1983 bis heute - ist Paul Chaim Eisenberg, ein Mann mit normalem Bartwuchs, weltgewandt, des Deutschen mächtig. Er hätte völlig gereicht. Der Import-Rabbi für den Film spricht nur Hebräisch, es klingt schwer nach jüdischem Fundamentalismus. Was der Film hätte bringen sollen, war Journalismus, Aufklärung. Was er brachte, war Blah-blah. Feel-good horror. Übrigens, Shimon Anshin, diesen jüdischen Osho, gibt es immer noch, stark gealtert, mit schlohweißem Riesenbart, und mit seiner eigenen Sekten-Webseite.

Das erste, was ich dort las war: "Are you a vampire?" Als ich das Wort "vampire" später in die Suchzeile eingab, lautete die Antwort: "Sorry, but you are looking for something that isn't here."

2

Im Film heißt es, zu Beginn, das Massaker habe "10 Tage vor Ende des Krieges" stattgefunden. Wien fiel am 13. April. Die Datierungen sind, wie man sieht, alle ein wenig durcheinander.

3

Bei aller Betonung des Kreuzstadls bleibt übrigens unerwähnt, dass es eine Rechnitzer Bürgergruppe namens REFUGIUS war, die 1993, noch VOR Fertigstellung des Films, die Ruine (die wohl abgerissen werden sollte?) gekauft und als Holocaust-Gedenkstätte dem Bundesverband Israelitischer Kultusgemeinden zum Geschenk gemacht hat. Eine schwarze Tafel am Ende des Films erwähnt lediglich: "Der Kreuzstadel wurde 1993 zu einer Gedenkstätte erklärt." Soviel Passiv ist schon fast wieder aktive Fahrlässigkeit. REFUGIUS errichtete auch ein Mahnmal für die jüdischen Opfer von Rechnitz - genau gegenüber dem Kriegerdenkmal, und in noch weiterem Abstand von der Heldengedenkstätte am Geschriebenstein, wo alljährlich die Alten Kameraden in Nazi-Uniformen ihre Kränze mit SS-Motiven ("Ihre Ehre hieß Treue") niederlegen. Eine Veranstaltung des Grauens.

4

Und das muss alles sehr schnell gegangen sein. Bereits im Oktober 1938 vermeldeten die obersten Nazis dieses Landstrichs, das Burgenland sei nunmehr "judenfrei".

5

Völlig überraschend gab es dann, auf einmal doch, ganz reale, ganz irdische Täter, und damit die Toten von Oberwart.

Und es gab die Briefbomben, von denen eine dem Wiener Bürgermeister Helmut Zilk galt.

Und es gab die "zufällige" Verhaftung dieses Bombenbauers mit dem entenhausianisch anmutenden Namen Franz Fuchs.

Es ist interessant, dass in der Wiener Presse ein Polizeimann, Rudolf Huber, der an den Ermittlungen nach den Briefbombenbauern beteiligt war, zitiert wird, er glaube nicht an die offizielle These vom Einzeltäter Franz Fuchs.

Aber die Behörden interessieren sich dezidiert nicht dafür. Sie werden den Fall nicht erneut aufrollen.

Und ich, der Verfasser dieser Zeilen, meine sogar, dass die Polizei Fuchs nie verhaftet hätte, wenn er nicht in Panik geraten wäre, als sich ihm zufällig eine Polizeistreife näherte; bei seinem übereilten Selbstmordversuch zerfetzte er sich lediglich mit einer seiner eigenen Bomben beide Unterarme und verletzte einen der Polizisten. Er geriet in Gefangenschaft, aber bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, bei dem etwaige Mittäter genannt worden wären, verhalf man dem Schwerstbehinderten zu einem termingerechten Selbstmord. Mit dem Kabel seines Elektrorasierers. Vielleicht hätte er aber auch das ohne fremde Hilfe geschafft? Houdini wäre vor Neid erblasst!

Übrigens zog ich selber kurze Zeit nach diesem von allen österreichischen Medien geflissentlich beschwiegenen Fuchschen Selbstmord-Wunder ins Burgenland und wurde im August 2000 von der politischen Polizei in der Bezirkshauptmannschaft Oberwart zu einem Gespräch eingeladen. Man wollte wissen, was es mit den Wörtern "Journalist, Übersetzer" auf meinem Meldezettel auf sich hätte. Ich sagte weitgehend wahrheitsgemäß, ich beschäftigte mich nur mit Kunst und Krimis. Mein einziger politischer Artikel sei im Falter in Wien erschienen, darin seien einige Tagesgrößen der österreichichen Politik als Affen dargestellt gewesen. Als Schimpansen und Paviane. Das fand man amüsant. Erst nachher wurde mir klar, dass man eigentlich nur eines wissen wollte: ob ich eine antifaschistische Einstellung hätte, ob ich also vorhätte, im Burgenland herumzustochern. Denn das "rote" (mehrheitlich sozialdemokratisch regierte) Burgenland ist in Wirklichkeit zutiefst "braun" untermalt. Und es ist, wie weite Strecken im übrigen Österreich auch, politisch durch und durch korrupt.

6

Im Historischen Lexikon Bayerns heißt es, Der Bitte um verzinsliche Darlehen kamen die Großindustriellen Fritz Thyssen (1873-1951) und Friedrich Flick (1883-1972) nach. Der Preis für das Areal betrug laut Kaufvertrag vom 26. Mai 1930 805.864 Goldmark. Andere Quellen meinen, Thyssen hätte das Haus aus eigener Tasche gekauft und Hitler zum Geschenk gemacht.

7

Dieser Aspekt ist übrigens nicht zu unterschätzen. Die Burgenländer stellen die größte deutschsprachige Auswanderergruppe nach Amerika neben den Deutschen selbst. Zum Vergleich: Sechs Millionen Deutsche, die mit dem Ersten Weltkrieg auf einen Schlag fast komplett ihre deutsche Sprache, Kultur und oft auch ihre deutschen Namen ablegten; sechs Millionen Jiddisch sprechende Juden aus Russland, Polen, Ungarn, die man als Sprecher einer Variante des Deutschen betrachten kann und die zu einem recht ansehnlichen Teil ihre Sprache und Kultur bis heute bewahrt haben; und eine Viertelmillion Burgenländer, deren hianzerischer oder altbairischer Dialekt mit seinem durchweg lautstarken Singsang für bundesdeutsche Ohren völlig unverständlich wirken mag, aber es ist Deutsch, nicht Allemanisch. Die Burgenländer, ein freundlicher, humorvoller, und stets lachbereiter Menschenschlag, siedelten mit Vorliebe in Chicago und einigen kanadischen Städten, und wanderten vielfach hin und zurück. Sie bewahrten sich oft eine Jahrzehnte lang außer Mode gekommene Aussprache. (Umgekehrt sind die Burgenländer die einzigen Österreicher, die wirklich gutes Englisch sprechen.) Außer dem einzigartigen Sänger und Tänzer Fred Astaire scheint keiner von ihnen Weltruhm erlangt zu haben. Jedenfalls aber sind Burgenländer gewöhnt, lange Anfahrtswege zu ihrem Arbeitsplatz in Kauf zu nehmen. Täglich 120 Km nach Wien und zurück sind für sie auch heute noch Alltag. Im Burgenland selbst gibt es keine Arbeit. Daher waren die Thyssens ein willkommener Geldhahn in Rechnitz, und die unverbrüchliche Treue der Bevölkerung zur "Herrschaft" eine absolute Frage des Überlebens.

8

In der sehr klaren Darstellung "Das Massaker an ungarisch- jüdischen Zwangsarbeitern zu Kriegsende in Rechnitz (Burgenland) und seine gerichtliche Ahndung durch die österreichische Volksgerichtsbarkeit" von: Eva Holpfer, offenbar zuerst unter dem Titel "Il massacro di Rechnitz", erschienen in: Storia e Documenti, Nr. 6, Semestrale dellŽ Istituto Storico della Resistenza e dellŽ Età Contemporanea di Parma, Numero doppio 2001, S. 205-221, heißt es: "Dem Beweisverfahren zufolge wurden die Juden von Franz Podezin und ungefähr weiteren neun Personen ermordet."

9

Der britische Journalist David Litchfied schaffte es, praktisch im Alleingang, das Thema aus der österreichischen Provinz zu entführen und nach 14jähriger Recherche ein Buch vorzulegen, das internationale Beachtung fand. Nur in Deutschland zeigten sich die Verlage lange Zeit zurückhaltend. Die TAZ fragte: Warum beschäftigt sich ein britischer Populärhistoriker mit der Geschichte der Familie Thyssen? Interessant, dachte ich. Da hat es dieses doch so geschätzte Blatt geschafft, gleich im ersten Satz den britischen Interviewpartner als eine Art "Hobbyforscher" hinzustellen, ähnlich wie es die Kollegen beim ORF machen, wenn sie jemandem begegnen, der diesem Massaker ernsthaft hinterher forscht. Die TAZ weiter:

Ich rätselte ein wenig über die Bedeutung dieses Wortes, "Boulevardjournalist". Sprach daraus der Neid der deutschen Gossenjournaille, die sich keine Ray-Bans leisten konnte? Oder war es, umgekehrt, die Verachtung einer elitären Schreiberriege aus den oberen Etagen auf die Kollegen von der Straße? Betrachtete man, fragte ich mich, Litchfield als einen, wie man in Österreich sagt, Adabei ["auch dabei": also als jemanden, der, per Definition, "... sich auf sämtlichen Buffets dick und dämlich frisst und dann eine Kolumne schreibt"]? Einen "Baby Schimmerlos" aus "Kir Royal" vielleicht? Litchfield ist genau das. Ein traditioneller journalistischer Spürhund, dem die Story das Wichtigste ist - was dem Berufsbild der Reporter in Australien, England und Amerika Jahrzehnte lang entsprach, bevor Rupert Murdoch auf dem Spielfeld erschien und alle Reporter zu abhängigen Marionetten degradierte. So hat auch Litchfield mit dem Image des "Boulevardjournalisten" kein Problem. Zitat TAZ:

Als Litchfield bei den Recherchen zu jener geglätteten Auftragsbiographie, für die man ihn angeheuert hatte, auf die Rechnitz Story stieß, legte er die Scheuklappen ab. Heini Thyssen-Bornemisza, der Kunst-Thyssen, hatte einen Fehler gemacht. Er hatte sich einen englischen Journalisten engagiert. Statt zum Beispiel einen deutschen.

10

Interessant auch diese Begegnung zwischen Litchfield und Jelinek, im Rahmen der Uni Wien.

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