"Traumnovelle": Sex und Exzess im Berlin von heute

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Der Traum vom Leben in Mitte: Florian Frerichs Adaption von Arthur Schnitzler Novelle im Sündenbabel der Hauptstadt in den neuen Zwanzigern.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf.

Michael Heltau

Unter dem Pflaster liegt die Sünde. So stellen wir es uns gerne vor, das Leben in Berlin-Mitte, dem Herz der babylonischen Metropole, in der grünlinke Anywheres ihr Geld verprassen, auf Kosten der ausgebeuteten Massen.

In dieses Berlin der – nicht mehr "Goldenen", eher "Eisernen" – Zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts hat der Berliner Filmemacher Florian Frerichs seine Adaption von Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" verpflanzt. Im Film heißen Fridolin und Albertine nun Jacob und Amelia, wie Menschen in Berlin-Mitte eben heißen. Statt der Droschke gibt's ein Taxi, immerhin nicht von Uber. Die Mode ist von Prada und Tom Ford.

Und die Gedanken sind auch so banal wie der Zeitgeist unserer Gegenwart.

Nur die Musik ist von Thomas Kantelinen geschickt geschrieben: voller Anklänge an den Schostakowitsch-Walzer, der durch Stanley Kubricks großartige Verfilmung des Stoffs 1999 neue Berühmtheit bekam.

"Willst du ficken?"

"Es gibt geheime Tropfen, gebraut aus einem Zauberkraut ..." – das könnten K.-o.-Tropfen sein, doch zumindest der Anfang dieses Films ist ganz unschuldig. Da liest ein Kind sich selbst in den Schlaf.

Der Nachthimmel, von dem in der Gutenachtgeschichte der Novelle die Rede ist, ist hier eine Bettdecke und eine Tapete. "Süße Träume" wünscht der Vater und wird sie vor allem bald selbst bekommen. Giuseppe Verdis "Maskenball" ist deutlich ins Bild gerückt und demaskiert für uns von Anfang an das, worum es hier gehen wird.

Dann setzt die Frau Gattin etwas bemüht locker an: "Also wo waren wir? Ah, du wolltest mir gerade verraten, was dir letzte Nacht durch den Kopf ging." Will der Gatte nicht. Sondern legt eine Schallplatte auf: "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum", wird dann Friedrich Nietzsche zitiert.

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Ob Nietzsche aber das Berghain gemeint hatte? Dort oder an einem verwandten Ort wechselt die Geschichte dann hin. Amelia bekommt von einem maskierten Trottel zweideutige Angebote, Jakob wird eindeutiger gefragt: "Willst du ficken?" Mit zweien gleichzeitig, die zum besseren Verwechseln Domino und Domina heißen.

Dann wird doch einander gebeichtet: "Gestern in diesem Club, da ... Ich weiß auch nicht .., möglicherweise ... aber jetzt ... Nein!"

Geheime erotische Fantasien und Lebensängste

Das Verschmockte der Vorlage, unter dem schon Kubricks "Eyes Wide Shut" litt, den man aber noch als Abgesang auf das 20. Jahrhundert und das Werk des kurz zuvor gestorbenen Regiemeisters verstehen konnte, lässt sich heute erst recht nicht mehr ganz ablegen. Auch nicht, wenn man sie mit Referenzen ans neue Berlin übertüncht.

Denn wie kaum ein zweiter Schriftsteller steht Arthur Schnitzler für die Literatur des Wiener "Fin de Siècle": Er diagnostizierte die Albträume dieser Epoche und seiner eigenen Generation, ihre enttäuschten Liebeswünsche, die geheimen erotischen Fantasien und ihre in Depressionen mündende Lebensängste, denen sich auch Sigmund Freud, ein Zeitgenosse und Seelenverwandter Schnitzlers, allzu gerne annahm.

Die Nachwelt sieht den Doktor Schnitzler gerne als Doppelgänger des Doktor Freud, der dieser Sichtweise im Briefwechsel mit dem Autor selbst Vorschub geleistet hat.

Mit Stücken wie dem lange von Schnitzler zurückgehaltenen "Reigen" oder der "Traumnovelle", die er 1921 nach seiner Ehescheidung begann, aber erst ab 1925 als Fortsetzungsgeschichte im Berliner Magazin "Die Dame" veröffentlichte, traf der da längst zum Skandalliteraten abgestempelte Erotomane Schnitzler zwar einen Nerv insbesondere beim Großbürgertum; andererseits blieb ihm der lange Weg durch die Gerichtsinstanzen im Kampf mit den Zensurbehörden nicht erspart.

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Aus heutiger Sicht betrachtet waren Schnitzlers Novellen und Theaterstücke ihrer Zeit weit voraus – doch schon 60 Jahre später taugte die Adoption der Traumnovelle bereits in der Verfilmung durch Regie-Legende Kubrik selbst in den prüden USA kaum mehr zum Aufreger.

Repressive bürgerliche Sexualität wie eh und je

Harmlose und doch lauernde Fragen, verschmitzte, doppeldeutige Antworten wechselten hin und her; keinem von beiden entging, dass der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt.

Arthur Schnitzler

Schnitzler schickte sein Upper-Class-Ehepaar im Folgenden auf einen Nachtreigen durch die mit allen sieben Todsünden getränkten Wiener Straßen. Der Trip ist gesäumt von Prostituierten, Lolitas und dem Maskenball eines Orgien feiernden Geheimbunds.

Kubrick besetzte die Hauptrollen mit Tom Cruise und Nicole Kidman, die seinerzeit auch in wirklichen Leben miteinander verheiratet waren – und versetzte den Trip vom Wien der Jahrhundertwende ins moderne New York.

Florian Frerichs besetzt nun Nicolai Kinski, was gut funktioniert, folgt aber ansonsten der altbekannten Handlung, der zufolge Amelia ihrem Göttergatten Jakob gegenüber eines Tages damit beginnt, von ihren heimlichen sexuellen Träumen zu erzählen – in denen ein fremder Mann eine Rolle spielt.

Für Jakob Anlass genug, das eigene sexuelle Verlangen erforschen zu wollen und dann doch vor allem den eigenen Skrupeln und Gewissensbissen zu begegnen. Es kommt, wie es kommen muss: Die bürgerliche Fassade voller unterdrückter Sehnsüchte bricht entgegen aller Erwartungen nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammen – repressive bürgerliche Sexualität wie eh und je.

Altherrenphantasie, verquast und schmierig

Aber wahrscheinlich hat er alles sowieso nur geträumt, selbst die Träume seiner Frau. Ein Traum in einem Traum in einem Traum.

Vielleicht ist es trotzdem einfach so, dass die Traumnovelle die am meisten überschätzte Novelle von Schnitzler ist. Eine Altherrenphantasie, verquast, schmierig, extrem zeitabhängig und in irgendeiner Form auch barock onduliert mit diesem ganzen Maskenspielzeug, den verklemmten Bordellgängen, mit der Angst eines Mannes vor der Sexualität seiner Frau und der gleichzeitigen Beschwörung der eigenen Verführungskraft.

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Das, was gut ist an diesem Stoff, es ist die Bedeutung des Traumes, das ist das Spiel mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Traumdeutung.

Alles steht hier, bis zum möglicherweise versöhnlichen Ende, an dem die Eheleute weise Sentenzen austauschen, unter dem Gesetz der Zweideutigkeit.

Aber es sind die Gesetze des Erzählers Schnitzler. Das Doppelgängertum mit Freud war nur Maskerade, wie das Kostüm aus Schauerroman und Kolportage, das Schnitzler der "Traumnovelle" übergeworfen hat. Wenn die Eheleute am Ende wieder zusammenfinden, erschöpft ebenso sehr vom Erzählen der Träume wie vom Erleben des Traumhaften, traut man ihrer Versöhnung kaum.

"Kein Traum ist völlig Traum", sagte Arthur Schnitzler. Wenn sich in diesem Film die Grenze zwischen Realem und Fantasiertem auflöst, ist dies die glanzvolle Selbstbehauptung der Kunst gegenüber der Psychoanalyse. Und des Kinos gegenüber der Literatur.