Türkei: Säuberungen im Bildungsbereich

MHP befürwortet Wiedereinführung der Todesstrafe

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Nachdem in den letzten Tagen 13.000 Mitarbeiter von Justiz, Polizei und Verwaltung aus dem Dienst entfernt wurden, ermitteln die türkischen Behörden örtlichen Berichten nach gegen 15.200 Staatsbedienstete an Schulen und Universitäten. Angeblichwurden alleine 1.577 Universitätsdekane zum Rücktritt aufgefordert.

21.000 Lehrer an Privatschulen dürfen vorerst nicht mehr unterrichten. Privatschulen werden in der Türkei in großer Zahl von der Gülen-Sekte betrieben, die Staatspräsident Erdoğans für den Putschversuch vom Freitag verantwortlich macht. Der in den USA lebende Sektenführer Gülen und der AKP-Anführer waren früher enge Verbündete, überwarfen sich aber vor einigen Jahren.

Von den inzwischen 8.660 Festgenommenen sollen 6.319 aus dem Militär, 1.481 aus der Justiz, 210 aus der Polizei und 650 aus anderen Berufsbereichen kommen. Hürriyet zufolge sollen sich unter ihnen auch zwei Angehörige der Luftwaffe befinden, die in den Abschuss eines russischen Flugzeuges im Syrieneinsatz verwickelt waren.

Auch um Medienbereich gehen die Säuberungen weiter: Die Zahl der Sender, denen die Telekommunikationsbehörde RTÜK seit Samstag die Lizenz entzog, liegt inzwischen bei 25. Unter den zahlreichen blockierten Websites befindet sich seit gestern auch WikiLeaks. Das Whistleblowerportal hatte vorher mehrere Hunderttausend E-Mails von Politikern der Regierungspartei AKP öffentlich zugänglich gemacht. WikiLeaks veröffentlicht auf Twitter regelmäßig Anleitungen, wie man trotz der Sperren auch von der Türkei aus auf diese E-Mails zugreifen kann.

Staatspräsident Erdoğan, Ministerpräsident Binali Yıldırım und die neue türkische Armeeführung zeigten sich in öffentlichen Stellungnahmen "offen" für eine Wiedereinführung der Todesstrafe. Der Tageszeitung Daily Sabah befürwortet die nationalistische Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) diese Wiedereinführung.

Hinrichtungsforderung „„Idam isteriz“

Die AKP könnte mit den Stimmen der MHP eine Volksabstimmung über die Wiedereinführung der erst 2004 abgeschafften Todesstrafe ansetzen, bei der eine einfache Mehrheit ausreicht - anders als im Parlament, wo eine Zweidrittelmehrheit nötig wäre. Darauf, dass dies geplant ist, deutet die Wortwahl Yıldırıms hin, der meinte, man könne den "Willen des Volkes" nicht ignorieren. Am Freitag und Samstag hatten Erdoğan-Anhänger mit der Hinrichtungsforderung "Idam isteriz" demonstriert. Damit die Todesstrafe auf Beteiligte am Putsch angewendet werden könnte, müsse allerdings auch noch Artikel 38 der türkischen Verfassung geändert werden, der ein Rückwirkungsverbot beinhaltet.

AKP-Ableger ermuntert Türken in Deutschland und Österreich zur Denunziation

In Deutschland und Österreich ermutigte der AKP-Ableger Union Europäischer Demokraten (UETD) dazu, dort lebende Erdoğan-Gegner über eine Präsidialamts-Hotline in Ankara zu denunzieren und "verdächtige Äußerungen" in Sozialen Medien zu melden. UETD-Präsident Cem Aslan gab dazu bislang keine Stellungnahme ab. Andere Erdoğan-Anhänger forderten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zufolge ebenfalls dazu auf, Namen und Adressen zu nennen, und kündigten Selbstjustiz an.

In Bielefeld, Hamm, Remscheid, Würzburg kam es zu Sachbeschädigungen, die mutmaßlich von Erdoğan-Anhängern verübt wurden. In Lyon verwüsteten sie ein Hotel, in Sens bei Paris steckten sie ein Gebäude in Brand und im elsässischen Mühlhausen wollten sie eine Einrichtung stürmen, die der Gülen-Sekte zugerechnet wird. In Wien wurde dagegen eine kurdische Gaststätte angegriffen (vgl. Kurz und Hofer besorgt über Pro-Erdoğan-Demonstrationen in Österreich). Dort und in Ingolstadt waren zahlreiche Symbole der Bozkurtçular und der islamistischen Millî Görüş zu sehen.

Österreichischer Justizminister sieht "Errungenschaften und Grundsätze unseres Rechtsstaates ausgenützt und mit Füßen getreten"

Nachdem sich Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) und Bundespräsidentenkandidat Norbert Hofer (FPÖ) besorgt über diese Entwicklung äußerten, kritisierten auch Vertreter anderer österreichischer Parteien die Demonstrationen: Der von den Grünen unterstützte Präsidentschaftsbewerber Alexander van der Bellen und Beate Meinl-Reisinger, die stellvertretende Vorsitzende der Neos, machten auf den Widerspruch aufmerksam, dass die unangemeldeten aber geduldeten Versammlungen zugunsten einer Regierung stattfanden, die "die Demonstrationsfreiheit mit Füßen tritt". Der sozialdemokratische Bundeskanzler Christian Kern sprach dagegen lediglich von einem "Unbehagen" das er angesichts der Aufmärsche verspüre.

Sehr viel deutlicher wurde Justizminister Wolfgang Brandstetter von der ÖVP: Ihm zufolge ist ein Nichteinschreiten bei Kundgebungen, auf denen der "Wolfsgruß" gezeigt wird und auf denen (auf türkisch) Slogans wie "Sag es und wir töten, sag es und wir sterben!" gerufen werden, "indiskutabel im Sinne einer wehrhaften Demokratie", weil dadurch "Errungenschaften und Grundsätze unseres Rechtsstaates ausgenützt und mit Füßen getreten" werden.

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