Türkei: ein Gedanke als Haftgrund

Der Kulturförderer Osman Kavala wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, Mitangeklagte zu langjährigen Freiheitsstrafen. Foto: ANF

Die Urteile im Istanbuler Gezi-Prozess zeigen den Charakter des Regimes, während der türkische Präsident Bedingungen für Nato-Beitritte anderer Länder stellt

Ende April wurde der Kulturmäzen und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala im Istanbuler "Gezi-Verfahren" zu lebenslanger Haft verurteilt. Sieben weitere Menschen erhielten Haftstrafen von 18 Jahren. Vorgeworfen wurden ihnen Umsturzpläne gegen die Regierung. Ihr einziges Vergehen: sie hatten sich für eine moderne, demokratische und diverse Türkei eingesetzt. Die Bundesregierung fordert die sofortige Freilassung Osman Kavala.

Aus Protesten 2013 wird Beteiligung an Putschversuch 2016 konstruiert

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Vernichtung des Gezi-Parks im Istanbuler Bezirk Taksim 2013 hatten sich mehrere Künstler und Intellektuelle zusammengeschlossen. Anstelle des Parks sollte ein riesiges Einkaufszentrum entstehen. Bürger, Umweltschützer, Gewerkschafter, Musiker, Künstler und Intellektuelle demonstrierten monatelang für den Erhalt des Gezi-Parks.

Der Protest wandte sich vor allem gegen eine Städtebaupolitik, die die Verdrängung ärmerer Bewohner von Taksim begünstigte. Der heutige türkische Recep Tayyip Präsident Erdogan war damals Ministerpräsident.

Die sieben Mitverurteilten, Yiğit Ali Ekmekçi, einer der Gründer der Istanbuler Bilgi-Universität; Ali Hakan Altanay, Direktor der Boğaziçi European School of Politics; die Architektin Mücella Yapıcı; der Architekt und Stadtplaner Tayfun Kahraman; der Anwalt Can Atalay; die Dokumentarfilmerin Mine Özerden sowie die Filmemacherin und Produzentin Cigdem Mater wandten sich damals an die Öffentlichkeit, um über die Konsequenzen der AKP-Planung zum Taksim zu informieren. Was aber in jedem demokratischen Rechtsstaat möglich ist, wird in der Türkei kriminalisiert.

Die Proteste weiteten sich auf die gesamte Türkei und gegen die Politik der AKP-Regierung aus. Für Millionen von Menschen, die sich daran beteiligt haben, war die Gezi-Park-Bewegung ein Beispiel für friedlichen Protest der Bürgerinnen und Bürger aus allen Gesellschaftsschichten.

Erdogans Regime reagierte auf die Proteste mit immer stärkeren Repressionen und unterstellte den Beteiligten schließlich Umsturzpläne gegen die Regierung. Künstlerinnen und Künstler, die auch nur die geringste Unterstützung für die Gezi-Park-Bewegung gezeigt hatten, wurden daraufhin auf schwarze Listen gesetzt, eingeschüchtert, ihre Werke und ihre Arbeit zensiert.

Daher verließen viele Künstler und Intellektuelle das Land und fanden nicht zuletzt in Städten wie Berlin Zuflucht. Andere, in der Türkei verbliebene Künstler schwiegen, äußerten sich nur zögerlich oder zensierten sich aus Angst vor Repressalien selbst.

In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich Erdogans Politikstil immer mehr zu einer autoritären Herrschaft: Wer gegen Erdogan und seine Pläne war, lief Gefahr, sich in einem der berüchtigten Gefängnisse wiederzufinden. Gewählte Bürgermeister und Bürgermeisterinnen der linken Oppositionspartei HDP wurden abgesetzt und durch AKP-treue Zwangsverwalter ersetzt. Oppositionelle Medien wurden verboten, die restlichen Medien gleich geschaltet.

Die Justiz verlor ihre Unabhängigkeit: Richter und Staatsanwälte, die nicht im Sinne Erdogans urteilten, wurden abgesetzt. Banker, die die Ursache der Wirtschaftskrise in Erdogans Zinspolitik sahen, wurden bei der Zentralbank ausgetauscht. Im Parlament wurde HDP-Politikern die Immunität aberkannt, damit sie wegen "Präsidentenbeleidigung, Terrorpropaganda oder -unterstützung" verurteilt werden konnten.

Nun traf es auch die kemalistische CHP. Die Vorsitzende der CHP in Istanbul, Canan Kaftancioglu wurde Mitte Mai zu fünf Jahren Haft wegen AKP-kritischen Tweets verurteilt. Sie hatte diese Tweets vor neun Jahren geteilt. Wie fast allen Kritikern von Erdogan wurde "Terrorpropaganda" vorgeworfen.

Die Islamisierung des Landes wird mit großem Tempo vorangetrieben. Gesetze und Konventionen, die die Demokratisierung des Landes voranbringen sollten, - wofür Erdogan einst im Westen gelobt wurde - wurden wieder abgeschafft. So trat 2021 die türkische Regierung auf Anweisung Erdogans aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aus – die Zahl der Morde an Frauen ist seither rasant gestiegen. Gleiches gilt für Kinderheirat und Zwangsverheiratung.

Die Verhaftung von Osman Kavala

Der 62-jährige Firmenerbe Osman Kavala hatte sich seit Jahren mit seiner Stiftung "Anadolu Kültür" für die Verständigung der Volksgruppen in der Türkei eingesetzt sowie Kunst und Kultur von Minderheiten – beispielsweise kurdischer und armenischer Herkunft – unterstützt. Die Stiftung arbeitete eng mit dem Goethe-Institut zusammen. Im Oktober 2017 wurde Kavala verhaftet. Als die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift 2020 nach drei Jahren Haft endlich präsentierte, bestand diese weitgehend aus Fotos und Protokollen von Treffen Kavalas und der anderen Angeklagten mit Vertretern ausländischer Medien, Konsulate und Kultureinrichtungen.

Aufgrund der nicht haltbaren "Beweise" sprach ein türkisches Gericht Kavala 2020 von den Vorwürfen frei. Am selben Tag wurde jedoch ein neues Verfahren gegen ihn eröffnet: Er sollte nun in den Putschversuch im Jahr 2016 involviert gewesen sein. Auch dafür gab es keine Beweise.

Über vier Jahre saß Osman Kavala letztendlich ohne Urteil im Gefängnis. Am 25. April 2022 wurde er nun wegen des Vorwurfs des versuchten Umsturzes der Regierung zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt. Eine Möglichkeit der Bewährung schloss das Istanbuler Gericht aus.

Obwohl die Bundesregierung sich mit Kritik am Erdogan-Regime extrem zurückhält und bisweilen sogar die türkischen Regierungsstatements gegen Regimekritiker unhinterfragt übernimmt, wenn es zum Beispiel um die völkerrechtswidrige militärische Aktivitäten der Türkei in den Nachbarländern Syrien und Irak geht, forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in diesem Fall immerhin die sofortige Freilassung Kavalas.

Das Gerichtsurteil stehe in krassem Widerspruch zu den rechtsstaatlichen Standards und internationalen Verpflichtungen, zu denen sich die Türkei als Mitglied des Europarats und als EU-Beitrittskandidat bekenne, so Baerbock.

Wir erwarten, dass Osman Kavala unverzüglich freigelassen wird – dazu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verbindlich verpflichtet.


Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne)

Das Auswärtige Amt in Berlin bestellte zudem den türkischen Botschafter in Deutschland ein, um gegen das Urteil zu protestieren. Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach von einem "kafkaesken Verfahren". Die Verurteilung Kavalas sei ein Schlag gegen die Zivilgesellschaft und die Demokratie in der Türkei, sagte die Grünen-Politikerin im Deutschlandfunk und forderte klare und harte Reaktionen von europäischer und deutscher Seite – aus Politik, Wirtschaft und etwa von Partnerstädten.

Die USA äußerten ebenfalls ihre Beunruhigung über das ungerechte Urteil. Dieses sei unvereinbar mit der Achtung der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. Bei solchen verbalen Protestnoten dürfte es wohl bleiben. Mit ernsten Konsequenzen muss das AKP-Regime nicht rechnen.

Zwar forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) schon 2019 die Freilassung Kavalas – das Urteil wurde 2020 rechtskräftig – aber der EMGR hat keine Möglichkeit, dieses Urteil auch durchzusetzen. Die AKP-Regierung erkennt die Hoheit des Europarat-Gerichts wie bei früheren Urteilen auch im Fall Kavala nicht an. Mit der Verurteilung des Angeklagten sei der Fall abgeschlossen, das Einspruchsrecht des Menschenrechtsgerichts habe sich "erledigt", erklärte Erdogan.

Drohungen mit Disziplinarmaßnahmen des Europarats und die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren im Dezember 2021 liefen ins Leere. Erdogan erklärte im Oktober 2021 sogar zehn ausländische Botschafter vorübergehend zu "unerwünschten Personen", weil sie in einem Offenen Brief die Freilassung von Kavala forderten, darunter Vertreter Deutschlands, Frankreichs und der USA.

Aber anstatt den Botschaftern den Rücken zu stärken, wurde von einigen westlichen Politikern der Offene Brief als "undiplomatisch" kritisiert. Das konfrontative Verhalten Erdogans wurde mit der Wirtschaftskrise und der enormen Verschuldung der Türkei entschuldigt: Erdogan stehe mit dem Rücken zur Wand, erklärte der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt am 27. Oktober 2021 im Deutschlandfunk.

Nun in der Opposition, erklärte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Menschenrechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Brand, am 26. April nach dem Urteil:

In einem offenkundig inszenierten Verfahren ist der türkische Kulturmäzen und Menschenrechtsverteidiger Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das ist ein Schandurteil und eine Schande für die Türkei, denn es ist ausschließlich politisch motiviert. Es entbehrt jedweder rechtsstaatlichen Grundlage und dokumentiert den Marsch des Erdogan-Regimes in einen totalitären Staat. Erdogan gebärdet sich immer autoritärer im Inneren.

Auch seine kriegerischen Handlungen in Irak und Aserbaidschan werfen ein ungutes Licht auf ihn. Deshalb gehört Erdogan auf das internationale Radar. Die Bundesregierung und ihre Partner in der EU dürfen dieses Schandurteil nicht ohne Konsequenzen lassen.


Michael Brand (CDU/CSU)

So funktioniert Politik in Deutschland: Die neue Ampel-Regierung übernimmt den Kurs der alten CDU-SPD Regierung, die CDU in der Opposition entdeckt plötzlich das totalitäre Regime Erdogans.

Künstler aus der Türkei protestieren gegen das Urteil über Osman Kavala

Kurz nach der Urteilsverkündung veröffentlichten Filmschaffende eine Erklärung, die unter anderem auch von den weltweit bekannten Regisseuren Nuri Bilge Ceylan, Fatih Akın und Yeşim Ustaoglu unterzeichnet wurde. Darin heißt es:

Wir werden unsere Wut über dieses Urteil in Hoffnung und Mut umwandeln, unermüdlich daran arbeiten, unser Land aus der Dunkelheit ins Licht zu führen und eine Türkei aufzubauen, in der wir gemeinsam in Freiheit leben. Wir werden uns nicht zum Schweigen bringen oder einschüchtern lassen.


Erklärung Filmschaffender nach dem Urteil

Innerhalb von zwei Tagen unterzeichneten 5000 Filmschaffende die Erklärung. Nach der Veröffentlichung schlossen sich 15 Filmgewerkschaften und Berufsverbände zusammen, um gegen das Urteil zu protestieren. Die Organisation "International Coalition for Filmmakers at Risk" (ICFR) forderte die Freilassung aller Angeklagten.

Das Dokumentarfilmfestival Documentarist wies darauf hin, dass die Filmproduzentin Cigdem Mater für den bloßen "Gedanken", einen Dokumentarfilm über die Gezi-Park-Proteste zu drehen, verurteilt worden war. Die Produzentin sagte zu ihrer Anklage: "Ich habe an den Gezi-Park-Protesten als Aktivistin zum Schutz des Parks teilgenommen und als Filmemacherin. Ich habe keinen Film darüber gedreht, wie in der Anklageschrift behauptet wird, aber ich hätte es tun können. Das ist etwas, das wir nicht in Gerichtssälen, sondern in Kinosälen diskutieren müssen."

Mater lebte in Deutschland im Exil und war in die Türkei gefahren, um der Anhörung beizuwohnen. Sie war sich sicher, dass sie freigesprochen werden würde. Aber auch sie wurde – lediglich für einen Gedanken – wegen "versuchten Umsturzes der Regierung" verurteilt.

"Cigdem Mater wurde für einen Film, den sie nicht gemacht hat, zu 18 Jahren verurteilt", kommentiert die queerfeministische Aktivistin und Autorin Burçin Tetik, die seit 2016 in Berlin lebt, das Urteil. "Ich befürchte, dass dies zu einer immensen Selbstzensur und zum Schweigen in der Kunstszene führen wird, da die Filmfestivals, die Maters Werke zeigen, zögern, sich zu ihr zu bekennen."

Die 72-jährige Architektin Mücella Yapıcı gehört ebenfalls zu den Verurteilten. Sie gab an, Osman Kavala seit 2000 weder gesehen noch telefonisch gesprochen zu haben. Dennoch werde behauptet, dass sie mit ihm an einer Intrige gegen das türkische Regime beteiligt gewesen sei. Beweise oder Zeugen gibt es wie bei allen politischen Prozessen gegen Kritiker der Regierung nicht.

Auch Schriftsteller und Schriftstellerinnen veröffentlichten eine Erklärung, die von 198 Personen, darunter Latife Tekin und Aslı Erdogan, unterzeichnet wurde. Darin erklären sie: "Wir waren alle dort, wir sind immer noch dort. Wir betrachten das Urteil als unser eigenes. Wir haben keine Angst; wir geben nicht nach."

Die erschreckende Veränderung der Türkei

2016 floh die Autorin Ece Temelkuran mit vielen anderen kritischen Intellektuellen nach Deutschland. Wie so viele hoffte sie, dass der Spuk schnell ein Ende habe und sie bald in die Türkei zurückkehren könnte. Mit dem Urteil gegen Kavala und die Mitverurteilten ist diese Hoffnung nun endgültig wie eine Seifenblase zerplatzt. "...am 25. April 2022 wurde das, was mir von Freunden in der Heimat mehrmals gesagt worden war, zur Realität: ‚Die Türkei, die du vermisst, gibt es nicht mehr.‘"

In der Türkei herrscht mittlerweile Angst und Schrecken im aufgeklärten, westlich orientierten Teil der Bevölkerung. 2013 schlossen sich Millionen Menschen den Gezi-Protesten in der ganzen Türkei an, zum Gerichtsprozess gegen Kavala und den sieben Mitangeklagten, die stellvertretend für die Protestierenden verurteilt wurden, kamen hingegen nur wenige. Der ehemalige Journalist und Abgeordnete, Ahmet Şık, wandte sich daher wütend an die damaligen Protestierenden: "Schaut euch im Spiegel an und fragt euch: ‚Was für ein Mensch bin ich?‘"

Daraufhin twitterten Zehntausende unter dem Hashtag #WeWereAllThere ihre Empörung über das Urteil.

Dieses Urteil zeigt, wie politisiert und dysfunktional das türkische Gerichtswesen unter Präsident Recep Tayyip Erdogan seit der Entlassung Tausender Richter und Staatsanwälte in der Folge des gescheiterten Militärputsches von Juli 2016 geworden ist. Die neu eingesetzten Juristen glänzen durch Inkompetenz und Parteilichkeit. Sie sind oft schon damit überfordert, eine fehlerfreie Anklageschrift zu verfassen.

20 Jahre Autoritarismus und eine grenzenlose Unterdrückung aller Kritiker von Erdogans Politik, die Pandemie und die Wirtschaftskrise haben in der Türkei zu einer Grabesruhe geführt, in der Erdogan schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. Die westliche Welt scheint diese Veränderung nicht wahrgenommen zu haben.

Immer noch werden der türkische Präsident und seine Minister freundlich empfangen, "Freunde und Partner" genannt, kritische Themen wie Menschenrechtsverletzungen oder die völkerrechtswidrigen Besatzungen und ständigen Drohnenangriffe in Nordsyrien nicht benannt.

Stattdessen lässt man sich vom türkischen Präsidenten am Nasenring durch die Arena ziehen, fürchtet Erdogans Veto gegen die Nato-Beitritte Finnlands und Schwedens und macht sich zum Erfüllungsgehilfen der türkischen Regierung gegen die Opposition. Der türkische Außenminister Cavusoglu erklärte kürzlich, das Ausland sorge sich deshalb so sehr um Kavala, weil sie Leute wie ihn benutzen und finanzieren, um sich in der Türkei einzumischen und die türkische Innenpolitik zu lenken.

Daher habe sein Ministerium dem deutschen Botschafter in Ankara, Jürgen Schulz, klargemacht, dass er sich nicht in die türkische Innenpolitik einzumischen habe.

Seit Jahren entwickelt sich das Erdogan-Regime in die gleiche Richtung wie das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Vergleichbare Konsequenzen gibt es aber im Westen nicht. Diese Doppelmoral macht westliche Regierungen unglaubwürdig. Die Ampel-Koalition scheint diese Tradition fortführen zu wollen.