Türkei im Ausnahmezustand: "Wir haben Angst"

Erdogan-Anhänger in Istanbul. Bild: Jonas Rathgeber

Präsident Erdogan hat für drei Monate den Ausnahmezustand ausgerufen. Wie erleben diejenigen, die nicht für die AKP sind, die Lage?

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Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli wurden in der Türkei fast 70.000 Menschen verhaftet, suspendiert oder entlassen. Soldaten, Polizisten, Richter, Lehrer, Dekane, Beamte, Zivilisten. Akademiker dürfen das Land nicht mehr verlassen. Gestern tagte der Nationale Sicherheitsrat bis in den späten Abend hinein. Zum Schluss der Sitzung verkündete Präsident Recep Tayyip Erdogan die Verhängung des Ausnahmezustands für die kommenden drei Monate (Erdogans Machtergreifung mit der Ausrufung des Notstands).

Seine Rede wurde landesweit im Fernsehen live übertragen, im Anschluss feierten seine Anhänger auf den Straßen, zogen mit Autokorsos hupend und johlend durch die Städte. Die Wähler der AKP feierten das Ende der Demokratie in ihrem Land - und sehen sich dabei selbst als die Retter der Demokratie. Denn das ist die Sprachlosung, die der Präsident seit Tagen ausgibt.

Folgendes muss man sich in dem Zusammenhang bewusst machen: Im Jahr 2014 wurde Erdogan zum Staatspräsidenten gewählt. Nach der türkischen Verfassung hat dieser Posten in etwa dieselben Befugnisse wie in Deutschland: Er darf keine direkten politischen Entscheidungen treffen und Anweisungen geben, er hat sich parteipolitisch neutral zu verhalten. Da Erdogan bislang sein Ziel, die Verfassung hin zu einem Präsidialsystem zu ändern, nicht realisieren konnte, ignoriert er sie einfach. De facto ist er es, der den Ton angibt im Land.

Ministerpräsident Yildirim ist ihm treu ergeben. Dessen Vorgänger Davotoglu drängte Erdogan zum Rücktritt, nachdem er es mehrfach gewagt hatte, dem Staatspräsidenten öffentlich zu widersprechen. Auch andere potentielle Gegenspieler innerhalb der Regierungspartei AKP wurden in den letzten Monaten abgesägt, um Ex-Präsident Abdullah Gül, der bereits Erdogans Vorgehen gegen den Gezi-Aufstand vorsichtig kritisiert hatte, ist es still geworden.

Der nun ausgerufene Ausnahmezustand macht Erdogan zum Alleinherrscher. Alle demokratischen Institutionen sind für die nächsten drei Monate außer Kraft gesetzt. Von ihnen ist ohnehin nicht mehr viel übrig. Die Gewaltenteilung gibt es nicht mehr, das Parlament ist kaum mehr als eine Alibi-Veranstaltung, die Medien sind gleichgeschaltet, die Gleichschaltung von Schulen und Universitäten ist in vollem Gange, die Polizei wird zur Privatarmee der AKP umstrukturiert.

Wie üblich schürt die AKP Verschwörungstheorien. Die Verantwortung für alles Schlechte im Land, vor allem aber für den Putschversuch vom Freitag, wird dem Prediger Fetullah Gülen und seinem Netzwerk zugeschoben, außerdem wird vom Einfluss "ausländischer Mächte" schwadroniert - all das kennen wir bereits aus den letzten Jahren. Gülen ist zweifellos nicht das Unschuldslamm, zu dem er sich derzeit stilisiert. Er ist ein Mann mit Macht und Einfluss, er verfügt über Milliardensummen, sein Netzwerk ist weltweit aktiv. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass er den Putsch organisiert hat. Manches spricht dafür, anderes dagegen. Nur gehört es zu den demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien, sich an Fakten zu orientieren, nicht an Mutmaßungen. Und die Beweise, die die AKP vorgeblich seit Jahren gegen Gülen hat, ist sie bislang schuldig geblieben.

Hexenjagd nach dem Putsch

Stattdessen wird eine Hexenjagd veranstaltet: Zehntausende Menschen werden verhaftet oder entlassen. Nimmt man vergleichbare Aktionen seit 2013 hinzu, sind es inzwischen weit über 100.000. Die Begründung ist immer dieselbe: Gülen-Kontakte, Beteiligung an der Gülen-Verschwörung. Erdogan ruft seine Anhänger zu Selbstjustiz auf - auch im Ausland, auch in Deutschland. In den letzten Tagen verbreitete sich in Sozialen Netzwerken der Aufruf, Gülen-Anhänger der türkischen Regierung zu melden - es wurden Mailadressen und Telefonnummern des Präsidialamtes in Ankara beigefügt.

Die Aufrufe waren mit dem Logo der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) versehen. Die Organisation steht der AKP nahe. Die UETD selbst distanzierte sich allerdings am 20. Juli via Facebook von derartigen Denunziations-Aufrufen und sagte, ihr Logo werde missbraucht. Ende 2015 sagte Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der kurdischen Gemeinde in Deutschland, die AKP habe in Deutschland eine Art "türkische Pegida" aufgebaut.

Ob nun die UETD oder andere Akteure hinter diesen Aufrufen stecken - sie wirken. Nicht nur in Gelsenkirchen gab es am vergangenen Wochenende gewaltsame Übergriffe auf Gülen-nahe Einrichtungen, auch weitere Lokalzeitungen berichten über derartige Vorfälle, und auch in Frankreich und Belgien soll es zu Angriffen durch AKP-Anhänger gekommen sein.

In der Türkei kennt man solche Auswüchse schon lange. Während Meinungsäußerungen, die sich gegen Erdogan oder seine Politik richten, hart verfolgt werden, gehen die Behörden mit Gewalt seitens der AKP-Anhänger vergleichsweise lax um.