Türkei schafft Fakten für ihre Annexion von Teilen Nordsyriens

Seite 2: Internationale Konferenz zu Nord- und Ostsyrien im Europaparlament

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Letzte Woche fand in Brüssel eine zweitägige Konferenz mit dem Titel 'Nord- und Ostsyrien - ein regionaler und globaler Lackmustest' statt.

Die Veranstaltung wurde von den Grünen im Europaparlament, der Internationalen Allianz für Rechte und Freiheiten (AIDL) und der Vertretung der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien organisiert. Namhafte Politiker, Journalisten, Menschenrechtler und Wissenschaftler sowie Vertreterinnen aus Nordsyrien diskutierten über die Kriegsverbrechen und die Expansionspläne der Türkei.

Der korsische EU-Abgeordnete François Alfonsi (Grüne) eröffnete die Konferenz mit einer Schweigeminute für die ermordete Vorsitzende der Zukunftspartei Syriens, Hevrin Khalaf. Khalaf wurde am 12. Oktober in Nordsyrien von den türkischen Dschihadistenmilizen in einem Hinterhalt regelrecht hingerichtet. Khalaf sollte ebenfalls an der Konferenz teilnehmen.

Bernard Kouchner, der ehemalige französische Außenminister und Mitbegründer der Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), bezeichnete das Vorgehen der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten als Barbarei. Den Kurden bescheinigte er, weitaus demokratischer zu sein als ihre Nachbarn.

Der zypriotische EU-Abgeordnete Costas Mavrides verglich die türkische Invasion in Nordsyrien mit der Invasion in Zypern, die er als Kind selbst miterlebte. Er wies auf die Ähnlichkeiten der türkischen Titulierung der Annektionen hin: In Zypern hieß sie 'Friedensoperation', in Nordsyrien wird sie 'Operation Friedensquelle' genannt. Beide Male hätte dies nichts mit Frieden zu tun, sondern mit der Terrorisierung der Bevölkerung.

Mavrides forderte ein Kriegsverbrechertribunal, um die Verbrechen des türkischen Staates anzuklagen. Ein Tribunal fand bereits im Frühjahr letzten Jahres in Paris statt, wurde von den westlichen Medien jedoch weitgehend ignoriert. Der saudische Journalist und Terrorismus-Experte Suleiman Ansari, der ägyptische Journalist Nashed al-Heedy und die amerikanische Wissenschaftlerin Amy Austin Holmes erinnerten an die Parallelen zum Völkermord an den Armeniern und bezeichneten Erdogan als eine "Gefahr für die gesamte Welt".

Al-Heedy warnte davor, dass Erdogan ein neues osmanisches Reich errichten wolle, weshalb er im ganzen Nahen und Mittleren Osten aktiv sei. In Ägypten versuche er bspw. über die Muslimbruderschaft Einfluss zu gewinnen, in Libyen über die islamistische Einheitsregierung.

Der ehemalige griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas kritisierte, die Türkei produziere neue Flüchtlinge, für die die EU der Türkei auch noch Geld bezahlen soll, während den hunderttausenden innersyrischen Flüchtlingen in Nordsyrien nicht geholfen werde.

Zu Gast in Brüssel war auch Nazire Gawriye von der Assyrischen Partei der Demokratischen Einheit in Nordsyrien. Die Christin nannte die Türkei "Terrorismusexporteur" und die Invasion einen "terroristischen Angriff".

Der Direktor der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR), Rami Abdul-Rahman, bezeichnete die türkische Besatzung von Afrin als Verstoß gegen das Völkerrecht, da sie sich sowohl gegen die Zivilbevölkerung und ihren Besitz, als auch gegen das kulturelle Erbe wende. Er kritisierte das Schweigen der EU, welches trotz aller bekannten Menschenrechtsverletzungen in Afrin bis heute andauere und die erneute Verletzung des Völkerrechts ignoriere.

Der ehemalige US-amerikanische Diplomat und politische Berater Peter W. Galbraith wandte sich mit deutlichen Worten und einem Appell an die Öffentlichkeit:

Ich stimme der Meinung von Recep Tayyip Erdogan zu, dass es ein Problem des Terrorismus an den Grenzen gibt. Aber die Kurden in Rojava stellten keine Bedrohung für die Türkei dar. Im Gegenteil, es ist eine Tatsache, dass viele Terroristen aus der Türkei nach Rojava gekommen sind. Damit es klar ist: Alle ausländischen Terroristen, die nach Syrien einreisten, haben die Türkei passiert.

Peter W. Galbraith

Galbraith wies damit darauf hin, wer die eigentlichen Terroristen seien: die Angehörigen des Islamischen Staates und die islamistischen Milizen. Er appellierte an Europa, die Führung für einen Friedensprozess zu übernehmen, da die US-Regierung mit einem Präsidenten wie Trump dazu nicht in der Lage sei. Er forderte gleichzeitig, dass die kurdische Arbeiterpartei PKK ebenfalls mit an den Verhandlungstisch kommen müsse, denn es handele sich bei ihr um eine Widerstandsbewegung, die von der Terrorliste gestrichen werden sollte: "Es ist an der Zeit, die PKK nicht mehr als terroristische Organisation zu betrachten."

Die Kurden der verschiedenen politischen Richtungen mahnte er zur Einigung. Vor allem die Feindseligkeiten zwischen der irakischen Autonomieregierung von Barzani und der nordsyrischen Selbstverwaltung müssten überwunden werden.

Die Konferenz endete mit einer Reihe von Empfehlungen an das EU-Parlament und an die verschiedenen internationalen Gremien, die mit der Syrien-Frage befasst sind: Die Konferenzteilnehmer mahnten eine Verurteilung der türkischen Aggression durch das europäische Parlament und die Vereinten Nationen an. Die türkische Armee müsse sich mit ihren verbündeten dschihadistischen Milizen komplett aus Nordsyrien zurückziehen - einschließlich Idlib und Afrin.

Die Rückkehr aller Vertriebenen in ihre Heimatorte müsse sichergestellt werden. Ein lokales Gericht mit internationaler Trägerschaft müsse in Nord- und Ostsyrien zur Verfolgung aller an Kriegsverbrechen Beteiligten eingerichtet werden, egal ob es nun türkische Staatsangehörige, Dschihadisten oder IS-Mitglieder seien. Außerdem müsse auch die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in den von den UN gebildeten Ausschuss für eine neue syrische Verfassung einbezogen werden.

Die Einrichtung einer Flugverbotszone über Nordsyrien würde zumindest die türkischen Luftangriffe verhindern. Auch müsse die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien durch internationale Institutionen, wie die EU und die UNO, sowie durch einzelne ausländische Staaten anerkannt werden.

Ein aktueller Bericht im Deutschlandfunk gibt einen guten Überblick über die komplizierte aktuelle Lage in Nordsyrien. Dass in dem Bericht allerdings der sogenannte 'Kurdische Nationalrat', besser bekannt als ENKS mit Sitz in Istanbul als relevante Kraft erwähnt wird, mag der Unkenntnis der Autorin entlehnt sein.

Der ENKS, den die türkische Regierung in der Vergangenheit immer wieder als Alibi benutzt hatte, um der westlichen Welt zu beweisen, dass seine militärischen Operationen sich nicht gegen die Kurden per se richten, spielt seit Jahren keine Rolle mehr in der kurdischen Bevölkerung. In Nordsyrien verloren sie ihre Glaubwürdigkeit vollends, als sie sich bei der Annektion von Afrin in den von der Türkei eingesetzten Rat von Afrin bestellen ließen. Die Bundesregierung soll mittlerweile die Finanzierung dieser Gruppierung sowie das Büro in Berlin eingestellt haben.

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