Türkischer Geheimdienst liefert Steilvorlage für Agententhriller

Wanderer auf den Kandil-Bergen, Nordirak. Foto: Wary Abdullah / CC BY-SA 4.0

Die Jagd auf den Staatsfeind Nr. 1, Cemil Bayik, und andere MIT-Aktivitäten

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Es ist eine wunderbare Vorlage für einen spannenden Agententhriller, was alles über den türkischen Geheimdienst MIT ans Licht kommt. Orte der Handlungen sind Nordirak, Syrien und Deutschland. Nimmt man ältere Vorkommnisse hinzu, kommt auch Frankreich ins Spiel.

Eine verpatzte, groß angelegte Operation gegen die PKK sollte die Erfolgsgeschichte für den mittlerweile auch international angeschlagenen türkischen Präsidenten im Kampf gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK seit der Verhaftung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan werden.

Nun bemüht sich Erdogan, die Geschehnisse möglichst vor der internationalen Presse zu vertuschen. Aber das Nachrichtenportal Al-Monitor machte ihm einen Strich durch die Rechnung und verbreitete die Geschichte, die sich wie aus einem Agententhriller liest.

Die Brisanz der misslungenen Aktion wurde von den westlichen Medien nicht erkannt. Die türkische Presse berichtete erwartungsgemäß gar nicht darüber, nur wenigen europäischen Medien war diese Geschichte eine Meldung wert.

Cemil Bayik ...

Nordirak, Suleymania: Der wichtigste Mann der PKK neben Abdullah Öcalan ist der 62 jährige Cemil Bayik, der Co-Vorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) und Mitbegründer der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Als Staatsfeind Nr. 1 in der Türkei gesucht, aber von zahlreichen internationalen Journalisten und Fernsehteams an geheimen Orten konsultiert, gibt er Interviews, die weltweit in den verschiedensten Medien Beachtung finden. Um diesen Mann dreht sich der Krimi.

Juli 2017: Im grauen Anzug, mit Hemd, aber ohne Krawatte hält sich Cemil Bayik zu medizinischen Konsultationen in Suleymania/Nordirak auf. Auf Fotos sieht man Bayik in der Regel nur in kurdischer traditioneller Kleidung. Zeitgleich befinden sich zwei Top-Agenten des türkischen Geheimdienstes mit ihrem Stab in der Stadt. Ihr Auftrag: Die Entführung oder Ermordung des PKK-Führers. Seit Monaten wurde diese Aktion durch MIT-Zellen in Suleymania vorbereitet, aber auch von der PKK selbst beobachtet.

... und die Lockvögel

Was die Agenten nämlich nicht wussten: Die PKK hatte einen kurdischen Lockvogel in die Reihen des MIT eingeschleust.

Über Wochen und Monate hinweg belieferte er den türkischen Geheimdienst mit Informationen aus dem Inneren der Organisation, die der Geheimdienst für glaubwürdig einstufte. Der vermeintliche Maulwurf in den Reihen der PKK soll auf diesem Wege das Vertrauen hochranginger Geheimdienstmitarbeiter gewonnen haben.

Civaka Azad

Der Mann soll dem türkischen Geheimdienst dann auch den Zeitpunkt genannt haben, wo sich Bayik zu medizinischen Konsultationen in Suleymania aufhalten sollte. Eigens dafür reisten zwei Top-Agenten des MIT mit ihrem Stab nach Suleymania, um die Aktion zu koordinieren.

Der Lockvogel lenkte die Truppe aber Richtung Kandil-Gebirge in den Urlaubsort Dukhan, wo die zwei Top-Agenten, darunter der Chef für die Ausspähung der PKK, mit 16 anderen Agenten von der PKK verhaftet und ins Qandil-Gebirge gebracht werden.

Es wird wahrscheinlich kein anderer als der Geheimdienstchef Hakan Fidan gewesen sein, der den tobenden Erdogan besänftigen musste und die schnelle Erledigung der peinlichen Schlappe versprechen musste. Zu diesem Zweck reist nun der Geheimdienstchef angeblich persönlich nach Erbil, der Hauptstadt der nordirakischen Autonomieregion.

Zwietracht säen

Ende August 2017, Ankara: Erste Konsequenz der Türkei war die Ausweisung des Beauftragten der kurdischen Partei PUK und weiteren 80 PUK-Mitgliedern aus der Türkei, die in der Region im Nordirak das Sagen haben (siehe dazu Warum das Büro der YNK in Ankara geschlossen wurde und Gescheiterte Entführung eines PKK-Kaders im Irak).

Sie sollen angeblich nicht ausreichend für die Sicherheit der Agenten gesorgt haben. PUK-Politbüromitglied Sadi Ahmed Pirê berichtete daraufhin dem US-Nachrichtensender Voice of America von einer misslungenen Operation des türkischen Geheimdienstes im Nordirak. In der Stellungnahme beschwerte sich die PUK darüber, von der türkischen Regierung für die Geheimdienstschlappe verantwortlich gemacht zu werden (siehe: Developing PKK kidnapping story concerns KRG officials).

Ziel dieser türkischen Operation sollte sein, glaubt man den kurdischen Medien, Zwietracht unter den konkurrierenden kurdischen Akteuren zu säen, um unter anderem das von dem "Präsident" der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Massud Barzani, initiierte Referendum Ende September für einen kurdischen Staat zu verhindern.

Das Kalkül war, dass über eine Verhaftung oder Eliminierung von Cemil Bayik die PKK die Parteien in der nordirakischen Autonomieregion für diese Aktion des MIT mitverantwortlich machen würden und dass dies zu Zerwürfnissen zwischen den Kurden führen würde und die Region ins Chaos stürzen würde. Das ist glücklicherweise in die Hose gegangen.

Ein Faustpfand?

Es ist nicht davon auszugehen, dass die PKK die gefangenen MIT-Agenten laufen lassen. Sie könnten evtl. Faustpfand für die Freilassung von Abdullah Öcalan sein, der seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali in der Türkei inhaftiert ist. Seit Frühjahr 2015 gibt es kein Lebenszeichen mehr von Öcalan, da er in Isolationshaft sitzt. Bei den Friedensgesprächen zwischen türkischer Regierung und PKK 2012 war Geheimdienstchef Hakan Fidan der wichtigste Gesprächspartner für Öcalan.

Fidan reiste mehrmals zu Gesprächen nach Imrali. Möglich, dass er auch diesmal eine Botschaft aus Imrali im Gepäck hat… Die gefangenen Agenten könnten aber auch als Druckmittel eingesetzt werden, damit die Türkei aufhört, die syrischen SDF-Verbände und den Kanton Afrin und die Sheba-Region anzugreifen.

August 2017, Tal Afar: Nachdem die irakische Armee den IS in Tal Afar besiegt hatte, zog der türkische Geheimdienst seine Agenten aus dem IS dort ab. Es wurde brenzlig für den MIT, aber auch für Barzani. ANF berichtete über konspirative Kontakte zwischen MIT, IS und dem Kurdenführer der nordirakischen Autonomieregion, Massud Barzani, und dessen Geheimdienst.

Unter den IS-Mitgliedern, die sich ergeben haben, sollen laut ANF nach auch viele türkische Staatsbürger sein, die evtl. Zuarbeit für den MIT geleistet haben. Nach der Befreiung von Tal Afar wurden sechs turkmenische IS-Kämpfer gefunden, die mit Händen auf dem Rücken gefesselt, erschossen wurden. Es wird vermutet, dass es sich dabei um IS-Verbindungsleute zum MIT handelte, derer sich der MIT entledigen wollte, damit sie nicht über die Verbindungen zwischen MIT, IS und KDP auspacken können.

Man darf gespannt sein, was in nächster Zeit, wenn der IS besiegt ist, die Protagonisten des IS über die Rolle der Peschmerga beim Überfall auf die Eziden im Shengal im August 2014 zu Tage bringen.

Schauplatz Deutschland

August 2017, Deutschland: Ein weiterer Spion des MIT wird in den Reihen der Polizeiführung von Hessen enttarnt. Dies erhärtet den Verdacht, dass der MIT mittlerweile seine Leute auch im deutschen Polizeiapparat hat und zwar an exponierter Stelle. Recherchen deuten darauf hin, dass es womöglich auch eine Verbindung zu dem Mörder von Halim Dener gegeben haben könnte.

Der alevitische Aktivist wurde 1994 von einem Polizisten in Hannover erschossen. Jener Polizist wurde von der Vorgesetzten des vermuteten MIT-Spions als Teil ihres Teams gedeckt. Ebenfalls in Hessen arbeitete beim Verfassungsschutz ein gewisser Andreas T., der in dem Internetkiosk "zufällig" zugegen war, als 2006 der kurdische Besitzer Halit Yozgat erschossen wurde.

Dieser Mord war der letzte der sogenannten NSU - Dönermorde. T. soll türkische V-Leute aus der rechtsextremen Szene (Graue Wölfe) beschäftigt haben. Dass der türkische Geheimdienst gerade in diesen Kreisen rekrutiert, dürfte bekannt sein.

September 2017, Deutschland: Der Prozess gegen einen mutmaßlichen MIT-Agenten hat in Hamburg begonnen. Dieser verstrickt sich in der Vernehmung in Widersprüche, widerruft frühere Versionen seiner Aussagen. Das Gericht verhandelt ausschließlich über den Vorwurf der geheimdienstlichen Tätigkeiten, nicht jedoch über die Mordaufträge an kurdischen Politikern. Diese werden erst gar nicht als Nebenkläger zugelassen

Koblenz, 2015: Vor knapp zwei Jahren gab es einen Gerichtsprozess, der vielleicht noch spektakulärer war als der gegenwärtige Hamburger Prozess. Muhammed Taha G., ein ehemaliger Erdoğan-Berater, und zwei weitere Personen wurden in Koblenz angeklagt, weil sie ebenfalls im Dienste des türkischen Geheimdienstes u.a. Informationen über kurdische Aktivisten in Deutschland sammelten. Das Verfahren wurde merkwürdigerweise eingestellt.

Ein Prozess in Frankreich

9. Januar 2013, Frankreich/Paris: Geht man ein bisschen zurück in der Geschichte, stößt man auf den dreifachen Mord an kurdische Politikerinnen in Paris, darunter die "rechte Hand" Abdullah Öcalans, Sakine Cansiz. Der in Frankreich inhaftierte Mörder hatte, wie im Nachhinein ans Licht kam, ebenfalls enge Kontakte zum türkischen Geheimdienst.

Frankreich verschleppte den Prozess über Jahre. Der gesundheitlich Angeschlagene verstarb in der Haft, bevor es zur Hauptverhandlung kam …

Diese Beispiele liefern ein perfektes Drehbuch für einen Agententhriller, der aktueller nicht sein könnte. Fatih Akin, übernehmen Sie!