Tut mir leid, Junge, aber dein Trainer darf dich nicht mehr nach Hause fahren

Die neuen Regelungen, die sexuelle Gewalt verhindern sollen, sind ein typisches Beispiel für sinnlosen Aktionismus, der Kindern mehr schadet als hilft

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Es ist eine bedauerliche Tatsache, dass (Gesetzes)initiativen, die vermeintlich dem Kinderschutz dienen sollen, oft genau das Gegenteil bewirken. Ein Beispiel hierfür war die Reform des Sexualstrafrechts, die unter der Ägide von Brigitte Zypries 2003 angegangen wurde.Sechs Jahre später unternahm Ursula von der Leyen einen ähnlichen Vorstoß, der scheiterte. Im Nachgang zur Aufarbeitung der diversen Missbrauchsfälle, in denen nicht die Erziehungsberechtigten, sondern diejenigen, die mit Kindern und Jugendlichem u.a. im Freizeitbereich zu tun hatten, die sexuelle Gewalt ausübten, soll nun zunächst ein Verhaltenscodex die Regeln im Umgang mit Kindern und Jugendlichen definieren. Ein späteres Gesetzeswerk ist nicht ausgeschlossen.

Federführend ist hier der Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauches, der mit den 20 Dachverbänden wie der Deutschen Bischofskonferenz eine solche Selbstverpflichtung aushandelt. Die neuen Regeln sollen für Lehrer, Erzieher und Trainer ebenso gelten wie für Internatsmitarbeiter oder ehrenamtlich Tätige in der Kinder- und Jugendpflege, und den sexuellen Missbrauch möglichst verhindern, hierfür gibt es klare Anweisungen darüber, was legitim ist und was nicht. Wer sich die Regelungen genauer ansieht, stellt jedoch schnell fest, dass sie weit über das Ziel hinausschießen und dabei letztendlich auch sich negativ auf diejenigen auswirken, die sie eigentlich schützen wollen.

Kinder, Jugendliche ... völlig egal

Die Probleme beginnen bereits damit, dass die Regeln nicht alterspezifisch aufgestellt wurden. Das heißt, dass der Umgang mit dem 5jährigen Kind durch die gleichen Regeln definiert wird wie der Umgang mit einem 17jährigen, was aber schon auf Grund von Aspekten wie der Einsichts- und Lernfähigkeit nicht vergleichbar ist. Einem 14jährigen Bodenturner muss niemand mehr erklären, wie Duschen funktionieren oder dass der Boden der Dusche rutschig ist, ein vierjähriger, der nach dem Bodenturnen duscht, bedarf nicht zuletzt auch wegen der Verletzungsgefahr einer Aufsicht. Wenn nun das Betreten von Dusch- und Waschräumen durch Erwachsene nur noch in Notfallsituationen möglich sein soll, so birgt dies auch ein hohes Risiko für die Trainer/Sportaufsicht, die letzten Endes erst dann einschreiten kann, wenn bereits ein Notfall eingetreten ist, nicht aber bereits im Vorfeld die Kinder beaufsichtigen und stets zur Stelle sein kann.

Kann mich jemand hören? Darf ich hereinkommen?

Ähnlich absurd mutet die Regelung an, dass Erwachsene die Schlafräume der Kinder erst nach einem Anklopfen betreten können. In den meisten Fällen werden Erwachsene dies sowieso beherzigen, gerade auch bei Heranwachsenden, doch bei Schlafräumen, die von mehreren Kindern oder Jugendlichen frequentiert werden, stellt sich die Frage, wie z.B. der Erwachsene vorgehen soll, wenn er Lärm im Zimmer hört. Anklopfen und auf das "Herein" warten? Lediglich anzuklopfen wäre letztendlich keine Veränderung der bisherigen Vorgehensweise, insofern muss das "Herein" abgewartet werden, doch was, wenn dieses "Herein" nicht erfolgt?

Tut mir leid, ich kann das Kind nicht mehr nach Hause bringen

Die Bevorzugung einzelner Kinder soll ausgeschlossen werden, Geschenke sind insofern tabu. Zu bedenken ist, dass sich diese Regeln ja nicht nur auf Freizeitgestaltungen auswirken, sondern auch auf Kindern in Heimen. Ist insofern ein Geburtstagsgeschenk tabu oder gelten Ausnahmeregelungen für bestimmte Festivitäten? Was ist mit Geschenken / Belohnungen bei Wettkämpfen?

Auch ist die Abgrenzung zwischen "Geschenk" und "Hilfeleistung" nicht klar ersichtlich. So soll beispielsweise das Heimfahren von Kindern durch den Trainer (z.B. nach Übungsstunden) nicht mehr erlaubt sein. Hierbei ist wichtig zu bemerken, dass gerade in ländlichen Gebieten die sportlichen Aktivitäten von Kindern oft von ehrenamtlich tätigen Menschen gefördert werden, die dann beispielsweise Kinder nicht nur im Fußball unterrichten, sondern diese auch nach dem Spiel zurück zu ihren Familien bringen. Gerade auch wenn die Familien abgelegen wohnen und über kein eigenes Fahrzeug verfügen, ist dies eine gern genutzte Hilfeleistung um Kinder mit Gleichaltrigen in Kontakt zu bringen. Nach dem neuen Regelkatalog wäre dies jedoch zu unterbinden, was in einem solchen Fall dazu führen würde, dass der abgelegen wohnende Junge theoretisch nicht vom Trainer, sondern höchstens von anderen Eltern nach Hause gebracht werden dürfte, selbst wenn der Trainer näher bei dem Kind wohnt.

Bauch, Beine, Po

Beim Sportunterricht soll der Griff an die Geschlechtsteile durch die Trainer untersagt sein, was die Frage im Raum stehen lässt, inwiefern bei welchen sportlichen Aktivitäten die Trainer denn die Geschlechtsteile der Kinder bisher angriffen. Doch die "nicht anfassen"-Regelungen gehen noch weiter. Im Intimbereich sowie am Bauch und an den Oberschenkeln sollen die Erziehungsberechtigten nur in Notfällen eine medizinische Versorgung vornehmen dürfen, was letztendlich z.B. die Zeckenentfernung in ländlichen Gebieten für die Leiter von Schulfreizeiten, Wanderungen usw. zur Tretmine werden lässt. Ist ein Zeckenbiss ein Notfall? Eine kleine Schnittwunde? Ein Wespenstich?

Auch das morgendliche Wecken soll, z.B. in Heimen, ohne jeglichen Körperkontakt vor sich gehen. Zu Recht fragen sich einige Erzieher, wie sie den Kindern in Heimen, die, oft genug traumatisiert oder kaum an liebevolle Zuwendung gewöhnt, klarmachen sollen, dass nun von einem Moment auf dem anderen ein Streichen über den Kopf beim Wecken oder Gutenachtsagen nicht mehr möglich sein soll.

Zwar enthalten die Regelungen durchaus einige sinnvolle Ansätze, z.B. in den Satzungen der Institutionen die Prävention hinsichtlich sexueller Gewalt zu verankern und Mitarbeiter entsprechend zu schulen, doch mehrheitlich gehen die Regelungen, die den Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern betreffen, zu weit und werden gerade auch das ehrenamtliche Engagement im Bereich Kinder- und Jugendpflege weiter durch diesen Aktionismus gefährden.

Update:


Der Unabhängige Bundesbeauftragte für sexuellen Missbrauch hat zum Artikel in der Märkischen Zeitung vom 11.05.2012, der den Verhaltenscodex zum Thema hatte, folgende Stellungnahme abgegeben:

Die Vereinbarungen zwischen dem Unabhängigen Beauftragten und Dachorganisationen zur Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ zu Prävention und Intervention enthalten keinen konkreten Maßnahmenkatalog, wie in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ) vom 12.05.2012 berichtet.

Die Vereinbarungen finden sich auf der Homepage.

Joachim Riecker, Chefredakteur der Märkischen Allgemeinen Zeitung, hat als Antwort auf die Richtigstellung in der Printausgabe der MAZ Stellung genommen. Da diese Stellungnahme nicht in der Onlineausgabe der MAZ zu finden ist, hat Herr Riecker sie per Mail zur Verfügung gestellt.

Die Sprecherin des Unabhängigen Beauftragten der Regierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs hat gestern darauf hingewiesen, dass sich die 20 Dachverbände, mit denen man derzeit eine Rahmenvereinbarung anstrebt, nur dazu verpflichten, den Schutz der Kinder und Jugendlichen vor sexueller Gewalt in ihren Einrichtungen generell zu verbessern. Der Verhaltenskodex, über den die MAZ am Sonnabend exklusiv berichtet hat, wird in den Vereinbarungen nicht ausdrücklich erwähnt.

Auch wenn die Verbände selbst entscheiden, wie sie die Rahmenvereinbarung umsetzen wollen, empfiehlt ihnen der Beauftragte aber konkrete Regeln, für die demnächst auch mit einer großen Öffentlichkeitskampagne geworben werden soll.

Er fordert unter anderem, dass es zwischen Betreuer und Betreutem keine Facebook-Kontakte geben soll, dass bei Übernachtungen die Räume der Jugendlichen erst nach Anklopfen betreten werden dürfen und dass die Anwesenheit von Erwachsenen in Dusch- und Waschräumen untersagt ist – Notfälle ausgenommen. Auch Besuche von einzelnen Kindern und Jugendlichen in Privatwohnungen der Lehrer, Erzieher und Trainer sollen tabu sein.

Die Sprecherin des Bundesbeauftragten hat weiterhin das Vorhandensein eines Verhaltenscodex dementiert. Zwar gäbe es die einsehbaren Vereinbarungen und auch sei eine Öffentlichkeitskampagne geplant, doch konkrete Verhaltensrichtlinien, die sich auf Duschen, Anklopfen etc. beziehen, gäbe es nicht, hier seien die einzelnen Einrichtungen selbst bezüglich der Ausgestaltung der Vereinbarung verantwortlich.

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