Twitter als Stimmungsbarometer

US-Wissenschaftler haben mehr als 45 Milliarden Tweets während 3 Jahren analysiert, um zu verfolgen, wie die Zufriedenheit oder das Glück steigt oder fällt

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Eigentlich sollte man annehmen, dass mit steigendem BIP auch die Zufriedenheit der Menschen in diesem Land wächst. Allerdings sagt das BIP nichts darüber aus, ob der wachsende Wohlstand auch bei allen ankommt, also ob nicht beispielsweise mit dem BIP auch die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in einem Land wächst und damit vielleicht auch die Unzufriedenheit. Und natürlich ist es auch fraglich, ob Wirtschaftswachstum und damit das BIP-Wachstum, wie das von vielen Politikern unterstellt wird, direkt verbunden sind. Mathematiker, Informatiker und Physiker von der University of Vermont wollen nun anhand der Analyse von Tweets herausgefunden haben, dass die Menschen in den USA trotz leicht wachsendem BIP nach einem kleinen Anstieg Anfang 2009 seit Mitte 2009 bis zur ersten Hälfte 2011 unglücklicher geworden sind, so dass das Bruttosozialprodukt nicht mit dem Bruttoglücksprodukt zusammenhängen zu scheint.

Auf die Verbindung von gesellschaftlicher oder auch persönlicher Zufriedenheit mit dem BIP kam man aufgrund der Hypothese, dass die Menschen wohl zufriedener bzw. glücklicherweise sein würden, wenn es mit dem Land aufwärts geht. Darin hat sich auch das Wachstum als Ideologie niedergeschlagen, die die Köpfe vieler Politiker beherrscht. Die "Glücksforschung" konnte die These allerdings nur anhand des BIP und der Befragung einer mehr oder weniger repräsentativen Auswahl von Menschen eines Landes belegen, richtig überzeugt waren die Meisten davon allerdings nicht, zumal mit dem BIP auch für die Menschen unerfreuliche Geschäftsvorgänge erfasst werden und auch beim Wirtschaftswachstum nur Materielles gilt.

Mittlerweile bietet das Internet die Möglichkeit, aus den öffentlichen Äußerungen von vielen Menschen etwa auf in den Sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter oder Google+ herauslesen zu können, in welcher Stimmung sie als Kollektiv sind. Voraussetzung ist freilich, ob man aufgrund der Vorkommnis bestimmter Wörter oder Ausdrucksformen auf die Stimmung der Person zurückschließen kann.

Soziologische oder psychologische Studien mittels Massendatenauswertung werden mit den wachsenden Datenmengen, die zugänglich sind und viele verbindbare Informationen bieten, immer attraktiver. Interessant ist das Data Mining im Zeitalter von "Big Data" in vielen Hinsichten nicht nur für Geheimdienste, Sicherheitsbehörden und Militärs, sondern auch für Politiker und Parteien, Unternehmen und Organisationen, die schnell auf sich verändernde Stimmungen und Verhaltensweisen reagieren wollen, beispielsweise um sich eine Dynamik zunutze zu machen oder etwa gegen aufkommende Unruhen und Proteste präventiv einzuschreiten.

Für ihre Studie, die in dem Open-Source-Magain PloS One erscheinen ist. haben die Wissenschaftler mehr als 46 Milliarden Wörter gesammelt und ausgewertet, die 63 Millionen Twitter-Nutzer über eine Zeitspanne von drei Jahren der Welt von September 2008 bis August 2011 zur gefälligen Kenntnisnahme in fast 4,5 Milliarden Tweets gepostet haben, nach Angaben der Wissenschaftler etwa 5 Prozent aller Tweets in dieser Zeit. Bei der Analyse der Wörter ging es den Wissenschaftlern nicht darum, aus den Tweets den psychischen Zustand des Menschen zu erschließen, der sie veröffentlicht hat, sondern aus den Milliarden von zusammenhanglosen Wörtern von "the" über "truck" bis "suicide" sollte die jeweils aktuelle, kurzfristige Gemütsverfassung einer großen sozialen Gruppe herausgelesen werden, unterstellt natürlich, es gebe so etwas wie die Stimmung eines großen Kollektivs - und die Nutzer von Twitter wären zumindest einigermaßen repräsentativ für die globale und lokale Stimmung, was doch sehr zweifelhaft ist.

Ausgewertet wurden dabei neben Uhrzeit und Datum, auch die Angaben, wo sich der Twitterer aufhielt, sowie die Zahl der Follower und Freunde, um die soziale Einbettung zu eruieren. Dabei kamen so spannende Ergebnisse heraus wie der Sachverhalt, dass die Wörter Frühstück, Mittagessen und Abendessen am häufigsten am Morgen um 8-9 Uhr, Mittags um 12-13 Uhr sowie Abends um 18-19 Uhr verwendet wurden, ähnlich wie verhungern, Huhn, hungrig, essen und Nahrung am stärksten Mittags und etwas schwächer am Morgan und am Abend einen Peak hatten.

Die Wissenschaftler setzten zur Erstellung einer Wortliste erst einmal den Amazon-Dienst Mechanical Turk ein, d.h. sie bezahlten Menschen dafür, die bekanntesten englischen Wörter aus den Quellen Twitter, New York Times, Google Books und Songtexten auf einer Glücklichkeits- oder Zufriedenheitsskala von 1 bis 9 einzustufen. Damit sollte die "emotionale Temperatur" eines Wortes bestimmt werden, um aus dieser Wertigkeit dann einen Hedonometer zu entwickeln, mit dem sich die emotionale Temperatur eines Kollektivs - das "gesellschaftliche Glück" messen ließe. Für ihr Programm wurde von den menschlichen Bewertern eine umfangreiche Wortliste von 10.000 Wörtern gebildet. Gelächter wurde beispielsweise mit 8,5, Nahrung mit 7,44, Lastwagen mit 5,48, "the" mit 4,98, Gier mit 3,06 oder Terrorist mit 1,3 eingestuft.

Die Menschen scheinen nach den Tweets, die sie absondern, Wochentagsmuffel zu sein

Angewandt auf die Tweets zeigt sich, dass die Menschen weltweit offenbar doch nicht so gerne arbeiten, wie manchmal behauptet wird. Am zufriedensten sollen sie jeweils am Samstag und Sonntag sein, während es am Montag ein Tief gibt. Auch tagsüber stehen die Menschen zufriedener auf, während des Tages geht die Stimmung nach unten. Allerdings gerät man hier in Grübeln, warum ausgerechnet um 5 und 6 Uhr am Morgen die Stimmung blendend sein soll, hingegen um 22 und 23 Uhr tiefschwarz. Sind die noch auf oder tatsächlich um die Zeit so happy?

Nach der Analyse scheint die Stimmung Ende 2008 auf einen Tiefpunkt gelangt zu sein, seitdem aber geht es leicht, aber deutlich nach unten. Januar ist immer ein Knick nach unten zu verzeichnen, Weihnachten und Silvester hingegen ein Peak, aber auch bei Tagen wie dem Valentine's Day, dem Mutter- und Vatertag, Ostern oder dem 4. Juli. Da zeigt sich nicht nur die Dominanz der US-Twitterer, sondern auch wohl die Verfälschung des Stimmungsbarometers durch rituelle Glückwünsche und Freudensäußerungen, die keineswegs der wirklichen Stimmung entsprechen müssen.

Kurzzeitig sank die Stimmung während der Ausbreitung der Schweinegrippe, der Bekanntgabe der Bankenrettung in den USA, dem Tsunami in Japan und auch dem Tod von Michael Jackson oder des Schauspielers Patrick Swayze, was offenbar die Gemüter ebenso in Trauer versetzen kann wie eine Naturkatastrophe. 2011 ließen auch das Massaker in Norwegen, der Tod von Amy Whinehouse, die Unruhen in Großbritannien oder die Tötung von Osama bin Laden die Stimmung in den Keller gehen. Auch hier wird deutlich, wie verkehrt der Stimmungsbarometer ausschlägt, da hier viele negativ besetzte Wörter wie dead, death, killed, kill, died, killing, terrorist oder buried auftauchten, die aber hier weniger die Stimmung wiedergeben, sondern eher eine Beschreibung und Feststellung eines Ereignisses.

2010 kam der Sieg von Deutschland über England in der Fußballweltmeisterschaft nicht gut an, das Spanien zum Weltmeister wurde, hinterließ jedoch kaum Spuren, während beim Ende der Fernsehserie "Lost" offenbar ebenfalls miese Stimmung war. Auf der anderen Seite scheint ein Ereignis wie die Hochzeit von Prince William und Catherine Middleton die Stimmung deutlich zu heben. Seit Januar 2011 geht es allgemein aber beständig nach unten, obgleich das BIP in den USA ein wenig nach oben geklettert ist. Ob die allgemeine Stimmung mit dem BIP zusammenhängt oder nicht, ist mit der Tweet-Analyse natürlich nicht beantwortet, zumal die Stimmung sich gerne erst dann aufhellt, wenn der Aufschwung sich auch als stetig erwiesen hat.

Die Wissenschaftler sind sich bei allen Mängeln sicher, dass sie einen "einstellbaren, in Echtzeit funktionierenden, aus der Ferne messenden und nichtinvasiven textbasierten Hedonometer" entwickelt haben. Jetzt sei das Instrument nur in den Händen von Wissenschaftlern, aber diese stellen sich vor, dass es sich auch gewinnbringend verkaufen ließe. Es könne doch wichtig für Behörden und Politiker sein, wenn sie die Dynamik der Zufriedenheit im Hinblick auf "individuelle Stabilität, soziale Korrelation und sozialen Zusammenhang sowie Zusammenhänge mit dem Wohlergehen und der Gesundheit" erkunden wollen, oder für Menschen, die umziehen und erst mal schauen wollen, wie die Stimmung in einem Stadtviertel ist.