"Tyrannei des Neurotypischen"
Wie das Bemühen um Diversität in Sachen Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung die Diversität im Denken einschränkt
Der bekannte Evolutionsbiologe Richard Dawkins wies letzte Woche auf einen kurz vorher in Quilette erschienenen Aufsatz des Evolutionspsychologen Geoffrey Miller hin, in dem dieser ein Paradoxon der Diversitätspolitik an US-Universitäten schildert: Die Bemühungen, solche Bildungseinrichtungen nach Kriterien wie Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierungen "diverser" zu machen, haben dort nämlich den Nebeneffekt, dass eine andere Art von Diversität verschwindet: Die "Neurodiversität" - die Vielfalt unterschiedlicher Denkweisen, die auch eine biologische Basis hat.
Newton und das Office for Equity, Diversity, and Inclusion
Um das zu illustrieren, lädt Miller, der an der University of New Mexico forscht, seine Leser ein, sich vorzustellen, wie es bekannten Exzentrikern wie Isaac Newton an US-Universitäten wohl heute ergehen würde: Seiner Ansicht nach wäre der britische Naturwissenschaftler mit den neuen Tabus in den USA noch weniger gut zurechtgekommen als mit den alten religiösen und ständischen im barocken England, in dem er lebte. Anhand von Äußerungen, die Newton zu seinen Lebzeiten machte, vermutet Miller, dass der geniale Gravitationsbeschreiber bald in den Fokus von SJW-Medien wie Jezebel und des Office for Equity, Diversity, and Inclusion geraten würde, das er mit der damaligen Inquisition vergleicht.
Der Evolutionsforscher ist sich anhand vieler Hinterlassenschaften Newtons sicher, dass der womöglich wichtigste Physiker der Weltgeschichte eine Neuro-Besonderheit aufwies, die man heute Asperger nennt (vgl. Deine Unsicherheit ist nicht mein Problem). Diese Besonderheit bringt es seiner Ansicht nach mit sich, dass man es sehr viel schwerer hat, sich an kulturelle und soziale Codes zu halten, die an US-Universitäten in den letzten Jahren deutlich restriktiver wurden - und deren Verschärfung man mit dem Argument durchsetzte, das würde die "Diversität" fördern (vgl. Der Irrweg der "Safe Spaces").
Weniger Neurodiversität führt ins Mittelmaß
Die meisten "echten Genies", die Miller kennt, sind seiner Meinung nach "nicht neurotypisch" - vor allem im Bereich der evolutionären Spieltheorie. Das vermutet er auch für brillante Köpfe, die er nicht persönlich kennt - etwa bei der Strahlungsentdeckerin Marie Curie, beim Relativitätstheoriebegründer Albert Einstein, beim Elektropionier Nikola Tesla, beim Informatiker Alan Turing, beim Evolutionstheoriebegründer Charles Darwin, beim Komponisten Béla Bartók, beim Bach-Interpreten Glenn Gould, bei den Regisseuren Alfred Hitchcock und Stanley Kubrick, bei den Philosophen Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein und bei Autoren wie Lewis Carroll, Mark Twain, H. G. Wells oder Emily Dickinson.
Exzentrizität, so Miller, ist eine "kostbare Ressource", die leicht verloren gehen kann, wie der Philosoph John Stuart Mill bereits in seinem Klassiker On Liberty bereits 1859 postulierte: "Die Menge an Exzentrizität in einer Gesellschaft" ist danach "generell proportional zur Menge an Genialität, geistiger Frische und moralischen Mutes, die sie enthält." Die Gefahr, vor der Mill damals warnte, nennt Miller heute die "Tyrannei des Neurotypischen", die von der falschen Annahme ausgeht, dass alle menschlichen Gehirne gleich seien.
Start-Ups statt Universitäten
Finden Exzentriker an Universitäten keine Heimat mehr, wenden sie sich Miller zufolge anderen Bereichen zu: Paul Allen, Bill Gates, Elon Musk, Larry Page, Peter Thiel und Mark Zuckerberg sind Millers Ansicht nach frühe mögliche Beispiele dafür. Vergrault man Personen, die anderes denken als andere, von den Universitäten, begibt man sich jedoch auf einen Pfad zum Mittelmaß, der neue Entdeckungen eher behindert als fördert: Um neue Entdeckungen zu machen, muss man nämlich anders denken.
Anders als die ausgetretenen Pfade und die links und rechts aufgestellten Warnschilder, nicht vom Weg abzukommen, vorgeben. Früher waren Universitäten Millers Beobachtungen nach Zufluchtsstätten für "Exzentriker", die anders dachten - heute sind sie das in zunehmendem Maße nicht mehr. Die Dogmen, die sie daran hindern, entstammen einer Mode, die vor wenigen Jahrzehnten selbst noch als exzentrisch galt, und die damalige Toleranz, die ihr Wachstum erst ermöglichte, noch weniger lange gelten ließ als der hegemonial gewordene Mysterienkult Christentum die relative religiöse Duldsamkeit in der Antike (vgl. Verdrehte Geschichte der Intoleranz).
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