UK: Minister fordern Brexit-Kampagnenfreiheit

Spekulationen über Camerons Forderungsliste an Brüssel

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Anfang November will der britische Premierminister David Cameron dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk eine Liste mit Reformforderungen überreichen, über die dann bis kurz vor Weihnachten verhandelt werden soll. Was die Liste genau enthalten wird, ist derzeit Gegenstand von Spekulationen.

Eine Forderung, die Cameron bereits bei seinem Besuch bei vier europäischen Regierungschefs im Mai angesprochen hatte, ist die Einschränkung von Sozialleistungen für Zuwanderer aus Osteuropa: Sie sollen erst eine Zeit lang Steuern zahlen, bevor sie vollen Anspruch auf Arbeitslosen- und Kindergeld bekommen. Damit sind viele Staats- und Regierungschefs osteuropäischer Länder nicht einverstanden, weil von dort immer noch viele Bürger nach England ziehen. Deshalb gilt in dieser Frage ein Kompromiss als wahrscheinlich, der so kompliziert ist, dass ihn beide Seiten als Erfolg verkaufen können.

Mit der polnischen Regierung, der Wortführerin des Widerstands gegen die oben geschilderten Änderungen, kam Cameron im Frühjahr darüber überein, dass Kompetenzen im Arbeits- und Sozialrecht, die derzeit in Brüssel liegen, an die Parlamente der Mitgliedsländer zurückübertragen werden müssten, und dass die Nicht-Euro-Staaten (zu denen Großbritannien und Polen gehören) gegenüber den Euro-Ländern nicht benachteiligt werden dürften. Hier werden eher kosmetische Veränderungen erwartet, für die keine EU-Verträge geändert werden müssen: Für den Fall solcher Vertragsänderungen befürchtet der französische Staatspräsident Hollande nämlich ein Referendum darüber - und eine Ablehnung durch das französische Volk, dass die Gelegenheit nutzen könnte, allgemeine Unzufriedenheit mit ihm und der EU zum Ausdruck zu bringen.

Eine andere Forderung, über die in britischen Medien debattiert wird, ist der Ausstieg aus dem umstrittenen Europäischen Haftbefehl (EuHB), der es Gerichten in anderen EU-Ländern erlaubt, britische Bürger wegen Vorwürfen festnehmen und ausliefern zu lassen, die in Großbritannien gar nicht strafbar sind (vgl. Europäischer Haftbefehl verabschiedet und Befürchtungen zum Europäischen Haftbefehl werden übertroffen). Die ebenfalls häufig angeschnittene Frage der Auslieferung von Islamisten wie Abu Hamza an Drittstaaten betrifft nicht die EU, sondern die vom Europarat verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention und den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

In der Landwirtschaftspolitik wird Cameron wahrscheinlich fordern, dass Großbritannien stärker selbst entscheidet, wohin Subventionen fließen und wohin nicht. Darüber hinaus ist wahrscheinlich, dass der Premierminister in Sachen Finanzmarktregulierung Interessen der "City of London" vertritt und darauf pocht, dass das Vereinigte Königreich unabhängig von der EU Verträge mit Drittstaaten abschließen darf.

Karte: Telepolis

Allgemein werden Forderungen erwartet, die Kompromisse ermöglichen, welche es Cameron erlauben, beim anschließenden Referendum für einen Verbleib in der EU zu werben. Allerdings sind sich nicht alle seine Minister sicher, dass das Ergebnis so ausfällt, dass sie die Teilnahme an solch einer Kampagne mit ihrem Gewissen vereinbaren können: Sechs Kabinettsmitglieder fordern dem Daily Telegraph zufolge deshalb, dass sie frei entscheiden können, ob sie an solch einer "In"-Kampagne teilnehmen oder den Bürgern eher zu einem "Out" raten.

Kurz vorher waren in britischen Medien Gerüchte laut geworden, dass Cameron eine "Säuberung" seines Kabinetts plant, in deren Rahmen der bekannte Euroskeptiker Chris Grayling nicht nur seine Posten als Lordkanzler und Justizminister, sondern auch als Unterhausführer verlieren soll.

Einer der nicht namentlich genannten Minister, die in der Brexit-Frage Gewissensfreiheit beanspruchen, sagte dem Daily Telegraph, es wäre "verrückt", wenn offen euroskeptische Politiker sich für Verbleibswerbung einspannen lassen müssten. Ein anderer warnte in diesem Zusammenhang vor mangelnder "Nachhaltigkeit" des Vorhabens und einer "erbittert gespaltenen Partei".

Downing Street No. 10 verlautbarte dazu bislang lediglich, dass noch keine Entscheidung darüber gefallen sei, ob in der Brexit-Frage die Kabinettsdisziplin gilt oder nicht. Diese fällt angeblich erst dann, wenn Camerons Verhandlungsergebnis auf dem Tisch liegt. Der Telegraph zweifelt diese offizielle Verlautbarung nicht nur deshalb an, weil Äußerungen in der Vergangenheit darauf schließen lassen, dass Cameron erwartet, dass alle Minister hinter seinem Verhandlungsergebnis stehen, sondern auch, weil der "Ministerial Code" letzte Woche geändert wurde:

Dort, wo vorher stand, "Das Prinzip der kollektiven Verantwortung gilt für alle Minister, außer dort, wo es ausdrücklich ausgesetzt wurde", steht nun nur noch "Das Prinzip der kollektiven Verantwortung gilt für alle Minister" - ohne die Ausnahme. Dafür heißt es nun neu: "Minister sind zudem verpflichtet, dass im Kabinett, in Kabinettsausschüssen und in Umläufen gefällte Entscheidungen umgesetzt werden". Laut Downing Street hat man diese Änderungen aber nicht wegen der Brexit-Frage vorgenommen, sondern weil es seit Mai keine Koalitionsregierung mehr gibt.

Bei der letzten Europa-Abstimmung vor 40 Jahren hatte es der damalige Labour-Premierminister Harold Wilson seinen Ministern freigestellt, ob sie sich öffentlich für oder gegen einen Anschluss an den "Common Market" aussprechen. Seitdem hat sich das Gebilde, das damals Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hieß, erheblich verändert. Es ist nicht nur deutlich größer geworden, sondern beansprucht auch deutlich mehr Zuständigkeiten für sich. Nigel Farage, der Vorsitzende der EU-kritischen United Kingdom Independence Party (UKIP), spricht deshalb von einem "überholten, erstarrten und überregulierten Block", weshalb seiner Ansicht nach die von Cameron und den Tories in den Vordergrund gerückte Frage der Sozialleistungen für Zuwanderer nur ein "marginales Detail eines weit größeren Problems" ist.

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