US-Truppen: Abzug aus Afghanistan bis 11. September

Komando zurück? Transport von Großgerät nach Afghanistan. Foto: Bundeswehr-Fotos Wir.Dienen.Deutschland / CC BY 2.0

Nato beschließt geordneten Rückzug. Deutschland schließt sich dem an: "Wir haben immer gesagt: Wir gehen gemeinsam rein, wir gehen gemeinsam raus". Die Türkei organisiert eine Friedenskonferenz

Alle US-Soldaten sollen bis zum 20. Jahrestag von 9/11 aus Afghanistan abgezogen werden, kündigte gestern ein ranghoher Vertreter der US-Regierung in einer Erklärung an. Ab Mai soll mit dem ordentlichen Abzug begonnen werden, so die Entscheidung des US-Präsidenten, die er am heutigen Mittwoch offiziell bestätigte.

Heute sind US-Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin im Nato-Hauptquartier in Brüssel, um die Modalitäten eines koordinierten Abzugs aller Truppen der Nato-Operation "Resolute Support" zu besprechen. Zusammen mit den US-Soldaten geht es laut Medienangaben um den Abzug von zwischen 9.500 und 10.000 Soldatinnen und Soldaten aus 38 Ländern.

Phänomen "Afghanistan"

Dass die Zahl nicht exakt genannt wird oder genannt werden kann, entspricht ganz dem Phänomen "Afghanistan": Vieles bleibt der westlichen Öffentlichkeit unbekannt; man hat wenig Ahnung davon, was sich im Hintergrund der Top-Meldungen tut.

Als Beispiel dafür seien die brutalen Einsätze der CIA-Truppen im Land erwähnt (CIA-Schattenmilizen), die die Afghanen sehr schmerzhaft spürten und oft mit ihrem Leben bezahlten, die westliche Öffentlichkeit erfuhr davon aber erst viel später wie auch von Kriegsverbrechen anderer Nationen (Jagd auf Afghanen wurde von Elite-Soldaten als eine Art Sport sowie als Aufnahmeritual für Neuankömmlinge betrachtet).

Beim Zählen tut man sich nicht nur bei den Soldaten der Operation "Resolute Support" schwer:

In fast zwei Jahrzehnten wurden seitens des US-Militärs, der CIA und ihren Verbündeten viele unschuldige Afghanen getötet. Wie viele es genau gewesen sind, weiß niemand, weil man sie kaum gezählt hat.

Emran Feroz, 131 Dollar für einen toten Afghanen

Freilich sind die CIA-Brutalitäten nur ein Ausschnitt aus der nun fast zwanzig Jahre dauernden Afghanistan-Mission. Aber eben auch exemplarisch wie auch die völlige Ignoranz der Kultur und der Geschichte des Landes, wo das Leben der Bewohner von der Willkür dieser trainierten Killer und dem protzigen Bombenwahnsinn aus Washington abhing.

Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung Bidens zum Abzug richtig und gut, er war längst nötig.

Am späten Nachmittag des heutigen Tages gibt es noch kein offizielles Kommuniqué zu den Konsultationen im Nato-Hauptquartier. Generalsekretär Jens Stoltenberg äußerte Einverständnis mit dem Abzug: "Wir sind gemeinsam hineingegangen, wir haben unsere Präsenz miteinander abgestimmt und wir werden auch gemeinsam rausgehen."

[Update: Später gab es dann aus Brüssel die offizielle Nato-Erklärung zum Abzug: "In der Erkenntnis, dass es keine militärische Lösung für die Herausforderungen in Afghanistan gibt, haben die Bündnispartner beschlossen, dass wir bis zum 1. Mai mit dem Abzug der Kräfte der Mission 'Resolute Support beginnen werden. Dieser Abzug wird geordnet, koordiniert und überlegt erfolgen. Wir planen, den Abzug aller US- und Resolute-Support-Truppen innerhalb weniger Monate abzuschließen. Alle Angriffe der Taliban auf alliierte Truppen während dieses Abzugs werden mit aller Härte beantwortet."]

Russland ist jetzt wichtiger

Die weiteren Punkte der Tagesordnung zeigen an, dass man sich in der Nato jetzt anderen Aufgabenfelder zuwenden will: Es geht heute auch und ganz besonders um "Russlands aggressive Aktionen in und um die Ukraine und die Unterstützung der NATO für Kiew", so Stoltenberg. Und es geht um die Vorbereitung des nächsten Nato-Gipfels mit der künftigen strategischen Ausrichtung, in der China und Asien eine große Rolle spielen werden.

Insofern passt auch die Wahl des symbolischen Abzugsdatums 11.09.2021. Biden will nicht die Vergangenheit beschwören, sondern ein neues Datum, das eine Veränderung signalisiert: "This is not 2001; it is 2021" - es geht um neue Herausforderungen:

Im Gegensatz zu denen von 2001 müssen wir unsere Energie, unsere Ressourcen, unser Personal, unsere - die Zeit unserer außenpolitischen und nationalen Sicherheitsführung auf die Bedrohungen und Herausforderungen konzentrieren, die für die Vereinigten Staaten am akutesten sind: auf die Herausforderung des Wettbewerbs mit China, auf die Herausforderung durch die aktuelle Pandemie und künftige Pandemien, auf die Herausforderung durch die viel stärker verteilte terroristische Bedrohung in mehreren Ländern.

Erklärung White House

Die deutschen Bündnispartner werden sich den USA anschließen. Das gilt für den Abzug aus Afghanistan.

"Wir werden heute Nachmittag ein Sondertreffen in Brüssel der NATO dazu haben, Verteidigungs- und Außenminister", sagte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Mittwochmorgen in der ARD. Auf die Frage, ob die Bundeswehr das Land zusammen mit den USA verlassen werde, erklärte die CDU-Politikerin: "Wir haben immer gesagt: Wir gehen gemeinsam rein, wir gehen gemeinsam raus", sagte AKK. "Wir stehen für einen geordneten Abzug und deswegen gehe ich davon aus, dass wir das heute so beschließen."

ntv

Und das gilt aller Erfahrung und Wahrscheinlichkeit nach auch für künftige strategisch wichtige Gebiete wie zum Beispiel dem Indopazifik.

Pakistan, Indien, Iran, Russland und die Taliban

Allerdings steht nicht wirklich genau fest, wie es in Afghanistan weitergeht. So heißt es in der bereits erwähnten Erklärung des ungenannten Vertreters der US-Regierung, dass man "erhebliche Mittel in der Region belassen" (retaining significant assets) werde, "um dem potenziellen Wiederauftreten einer terroristischen Bedrohung des Heimatlandes von Afghanistan aus entgegenzuwirken".

Das deutet an, dass bestimmte Truppen bleiben, dass es weiterhin verdeckte Operationen geben wird. Wo sie stationiert werden, ist nicht bekannt.

Afghanistan ist ein strategisch wichtiges Land, an dessen Verhältnissen viele Länder ein mehr oder weniger proaktives Interesse haben: Pakistan, Indien, Iran, Russland und, wie sich am Bemühen um eine Friedenskonferenz zeigt, auch die Türkei. Das Nato-Mitgliedsland hat für den 24. April eine Friedenskonferenz angesetzt, die bis Anfang Mai dauern soll und sich eine politische Vereinbarung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban zum Ziel gesetzt hat.

Der US-Sonderbeauftragte der USA für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, hat für die Konferenz "getrommelt", die afghanische Regierung hat einen Stufenplan vorbereitet, aber die Taliban wollen nicht mitmachen.

Die Frage, wie es in Afghanistan weitergeht, hängt nun sehr an ihnen. Vereinbart worden war bei den Gesprächen in Doha/Katar zwischen US-Vertretern und denen der Taliban während der Amtszeit von Trump, dass die USA (und mit ihnen die Verbündeten) ihre Truppen vollständig bis Mai dieses Jahres abziehen.

Bislang hat man von den Taliban noch nichts gehört, wie sie zum neuen, verzögerten Abzugsplan stehen, ob sie sich mit den neuen Bedingungen einverstanden erklären. (Update: Laut deren Sprecher gilt das in Doha verabredete Datum, das einen kompletten Abzug bis 1. Mai vorsieht. Sollten die Abmachungen nicht eingehalten weren, werde es Probleme geben. Biden meinte zuletzt, dass der Abzug bis 1. Mai nicht machbar sei).

Aus der Biden-Regierung wird die große Kursänderung damit verdeutlicht, dass man den Abzug nicht mehr wie die Jahre zuvor an Bedingungen knüpft - gemeint ist die Lage im Land, wie stabil es ist und nicht zuletzt, wie es um die Präsenz der Terrormilizen al-Qaida und IS steht. Jetzt soll der Abzug "bedingungslos" erfolgen.

Man wird sehen.