"Über Mitglieder der griechischen Regierung wurde mehrheitlich negativ berichtet"

Seite 2: Die Berichterstattung war in ihrer Gesamtheit nicht ausgewogen

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Zu welchen Ergebnissen sind Sie gelangt?

Kim Otto: Diese Studie zeigt, dass die Journalisten in Deutschland in der Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise wesentliche Qualitätskriterien zu wenig beachtet haben. Die Berichterstattung war in ihrer Gesamtheit nicht ausgewogen zwischen unterschiedlichen Positionen und Meinungen. Auch über die Gesamtheit der untersuchten Medien und über das gesamte politische Spektrum kann eine unausgewogene Berichterstattung postuliert werden. Sie erfüllte auch in vielen Artikeln das Qualitätskriterium der Neutralität nicht, weil Journalisten ihre Meinung in Nachrichten einbrachten. Journalisten bezogen eigene Positionen auch außerhalb von meinungsorientierten Darstellungsformen. Bei der Auswahl von direkt und indirekt zitierten Akteuren wurde das Qualitätskriterium der Vielfalt in zahlreichen untersuchten Artikeln nicht gewahrt.

Es fiel auf, dass einige der untersuchten Medien nur Akteure zitierten, die die Meinung des Blattes vertraten. Vielfach fand eine differenzierte Hintergrundberichterstattung zu den Reformvorhaben der griechischen Regierung nicht statt. Die Reformvorschläge wurden nur oberflächlich und nicht ausführlich behandelt. Die untersuchte deutsche Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise erfüllte demnach die untersuchten Qualitätsmerkmale der Vielfalt, Ausgewogenheit, Neutralität und Hintergrundberichterstattung nur sehr begrenzt.

Wie haben sich die Schwachstellen in der Berichterstattung denn bemerkbar gemacht?

Kim Otto: 558 der 1.442 untersuchten Artikel zur griechischen Staatsschuldenkrise haben keinen einzigen konkreten Reformvorschlag aufgegriffen. Wenn die Journalisten über Reformen berichteten, dann standen die Politikfelder Haushaltspolitik und die Steuer- und Finanzpolitik im Mittelpunkt. Sozialpolitik, Infrastrukturpolitik und Tarifpolitik u.a. spielten nur eine geringe Rolle. Die Liste der gar nicht oder kaum thematisierten Reformvorhaben ist lang. "Bild" berichtete über 73 Reformziele gar nicht, auch alle anderen untersuchten Medien erwähnten jeweils über 20 konkrete Reformvorhaben nicht einmal.

Wenn es auf dem Höhepunkt der deutschen Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise oft nicht um die konkreten Reformvorschläge gegangen ist, stellt sich die Frage: Womit haben sich die Medien denn stattdessen befasst?

Kim Otto: Wir haben festgestellt, dass es in fast jedem zweiten Artikel allgemein um Hilfsprogramme und dabei hauptsächlich um Fragen des Auslaufens, der Zusammensetzung, der Raten, der Zustimmung und Ablehnung gegangen ist. Bei der Analyse der deutschen Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise fällt zudem auf, dass in vielen Artikeln die Inhalte und Reformziele, über die gestritten wurde zwischen Griechenland und den Institutionen, nicht benannt wurden, dafür jedoch sehr oft eine mögliche Konsequenz des Scheiterns von Verhandlungen: der Grexit.

Insgesamt wurde ein Euro-Austritt Griechenlands in fast in jedem dritten Artikel erwähnt. In der Summe blieben die Journalisten der untersuchten Medien in ihrer Berichterstattung über die Reformen in Griechenland größtenteils an der Oberfläche. Nur wenige Artikel lieferten eine tiefe Hintergrundberichterstattung über die diskutierten Reformen in Griechenland.

Können Sie genauer erklären inwiefern die Berichterstattung nicht ausgewogen war? Und: Was genau verstehen Sie unter einer ausgewogenen Berichterstattung?

Kim Otto: Ausgewogenheit ist eines der zentralen Qualitätskriterien des Journalismus auf normativ-demokratietheoretischer Ebene, das heißt, bei Kontroversen sollen Befürworter und Gegner, bzw. ihre Positionen, in etwa in einem ausgewogenen Verhältnis, zu Wort kommen.

Das geht auch aus dem dem Rundfunkstaatsverstrag und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervor.

Kim Otto: Das Bundesverfassungsgericht nutzt dafür den Begriff der "gleichgewichtigen Vielfalt". Die Vielfalt an Meinungen und Interessen muss gleichgewichtig zum Ausdruck kommen. Auch wenn es gesetzliche Regelungen für die Presse hinsichtlich der Ausgewogenheit nicht gibt, so sollten auch hier in der Gesamtheit der Berichterstattung gegensätzliche Positionen in einem ähnlichen Verhältnis berücksichtigt werden, um die öffentliche Meinung nicht ungleichgewichtig zu beeinflussen. Damit ist nicht gemeint, dass alle möglichen Positionen, Gruppen und Akteure genannt werden müssen, jedoch mindestens zwei zentrale gegensätzliche Richtungen und Positionen.

Vorherrschendes Denkmuster: "Die Griechen sind selber schuld"

Gut, und jetzt übertragen auf die Berichterstattung zu Griechenland.

Kim Otto: In der Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise heißt die Forderung nach Ausgewogenheit, dass die zentralen unterschiedlichen Positionen und die wichtigsten sie vertretenden Akteure in diesem aktuellen Konflikt gleichgewichtig in der Gesamtberichterstattung vorkommen sollten. Hierzu zählt auf der einen Seite eine angebotsorientierte Position, die eine Verringerung der Staatsverschuldung fordert und insbesondere von der deutschen Regierung in der griechischen Staatsschuldenkrise vertreten wurde, und auf der anderen Seite eine nachfrageorientierte Position, die höhere Staatsausgaben zur Belebung der Wirtschaft in der Krise vorsieht und von der griechischen Regierung vertreten wurde.

Nun haben Sie ja bereits dargelegt, dass Sie in Ihrer Studie zu dem Ergebnis gekommen sind: Die "Griechenland-Berichterstattung" war sehr stark von Meinung durchsetzt.

Kim Otto: So ist es. Die Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise ist mehrheitlich meinungsorientiert und damit auch zugleich wertend. Über Mitglieder der griechischen Regierung wird mehrheitlich negativ berichtet. Rund die Hälfte der untersuchten Artikel in denen Wertungen der griechischen Regierung enthalten sind, stellen die griechische Regierung negativ dar, nur 16,9 Prozent weisen eine positive Wertung auf und in 32,4 Prozent ist die Darstellung in der Berichterstattung ausgewogen. Akteure, die sich ausgewogen oder positiv gegenüber Griechenlands Regierung äußern, kommen zwar häufig zu Wort, ihrer Position wird jedoch im Text bei den meisten untersuchten Medien häufiger widersprochen als bei Akteuren, die sich negativ gegenüber der griechischen Regierung äußern.

Wie kam denn die deutsche Regierung in der Berichterstattung weg?

Kim Otto: Die deutsche Regierung wird in den Artikeln viel weniger bewertet. Wenn sie bewertet wird, dann wird über sie ausgewogener berichtet. In 40,5 Prozent der Artikel wurde die Position der deutschen Regierung negativ dargestellt, in 14,1 Prozent positiv und in 45,6 Prozent der Artikel wurde ausgewogen berichtet. Damit wird auch über die beiden gegenüberstehenden Positionen einer angebotsorientierten und einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik in der griechischen Staatsschuldenkrise und die diese Positionen vertretenden Akteure ‒ die griechische und die deutsche Regierung ‒ nicht gleichgewichtig berichtet. Die Berichterstattung über die zentralen Positionen und Akteure ist nicht ausgewogen.

Lassen Sie uns doch mal eine Zahl aufgreifen. In der Studie zeigen Sie auf, dass in über 50 Prozent der untersuchten Artikel Mitglieder der griechischen Regierung negativ dargestellt wurden; 16,9 Prozent der Artikel waren den Regierungsmitgliedern positiv gestimmt. Nun könnte man ja auch einfach sagen: Die "berichterstattenden" Journalisten haben eben erkannt, dass die griechische Regierung aufgrund ihres Agierens es verdient, negativ dargestellt zu werden. Eine zu einfache Erklärung? 


Kim Otto: Allerdings: Ich glaube, es hat sich bei den Journalisten ein Deutungsmuster durchgesetzt. Die Griechen sind selbst schuld an ihrer Krise, und wenn wir Deutsche für die Griechen mit Milliarden bürgen, dann haben sie auch die Reformen zu machen. Natürlich haben die griechischen Regierungen in der Vergangenheit viel falsch gemacht. Aber wir vergessen zwei Sachen. Erstens sind die Griechen wie andere Länder auch in die Staatsschuldenkrise wegen der weltweiten Finanzkrise gerutscht. Die Griechen mussten - wie andere auch - mit Milliarden ihre Banken retten. Zweitens gibt es wohl kaum ein Land, das so massiv, in so kurzer Zeit, so viele Reformen durchsetzen musste. Das Land und seine Menschen liegen am Boden, 25 Prozent Arbeitslosigkeit, 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, fast jeder dritte griechische Haushalt gilt inzwischen als arm.

Im Februar 2015 übernahm das Linksbündnis Syriza die Amtsgeschäfte in Athen, forderte ein Ende des drastischen Sparkurses, höhere Sozialausgaben und einen Schuldenschnitt. Dem verweigerte sich die so genannte Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, aber auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.