"Über Mitglieder der griechischen Regierung wurde mehrheitlich negativ berichtet"

Seite 3: Journalisten wollen zunehmend die Meinung der Leser beeinflussen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Lassen Sie uns nochmal auf die wertenden "Zuschreibungen" eingehen, die in den nachrichtlichen Artikel zu finden waren. Was meinen Sie damit?

Kim Otto: Damit Meinungen für die Leser nachvollziehbar als solche zu erkennen sind, ist die Trennung von Nachricht und Meinung ein wichtiges Kriterium für journalistische Qualität. Die Trennung von neutralen und wertfreien Nachrichten von journalistischen Wertungen resultiert ebenso wie die Ausgewogenheit aus den rundfunkrechtlichen Regelungen und hat sich nach 1945 auch in der Presse etabliert, auch wenn sie hier nicht explizit gesetzlich fixiert ist.

Hier wird sie mit den vielfältigen Funktionszuschreibungen an den Journalismus begründet. An dieser Stelle sind zwei besonders relevant: Auf der einen Seite steht die Informations- und Chronistenfunktion, auf der anderen Seite die Mitwirkung an der Meinungsbildung. In den Medien hat sich mit dem politischen Kommentar jedoch ein Genre ausdifferenziert, in dem Meinungsäußerung legitim und erwünscht ist. Wenn Nachrichten und Meinungen eindeutig gekennzeichnet sind, weiß der Leser, welcher Interpretationsrahmen angemessen ist. So kann der Verdacht einer verdeckten Einflussnahme zerstreut werden.

Ein erstaunliches Ergebnis der Studie ist: Journalisten vertreten auch in eigentlich neutralen Darstellungsformen ganz offen ihre Meinung. In rund 15 Prozent der Nachrichten und Berichte sowie auf jeden zehnten Hintergrundartikel trifft das zu, wodurch das Qualitätskriterium der Neutralität verletzt wird. Als neutrale Darstellungsformen sollten Nachrichten, Berichte und Hintergrundberichte frei von Meinungsäußerung der Journalisten sein.

Haben Sie Beispiele?

Kim Otto: Sätze wie "Was Varoufakis sagt, ist Hohn und Spott für den Bundestag" oder "Varoufakis tut, als wäre nichts geschehen" oder "Schäuble beweist damit eindrucksvoll, dass er mindestens so geübt im Werfen von Nebelkerzen ist wie sein griechischer Kollege Yanis Varoufakis". Solche Meinungsäußerungen haben in Nachrichten und Berichten nichts zu suchen. Genauso wie: "Die griechische Regierung verweigert sich bislang in bemerkenswertem Maß auch innovative Ansätze zur Erleichterung ihrer Schuldenlast." Da muss der Leser den Eindruck haben, er bekomme eine neutrale Information. Aber das ist doch ganz klar eine Meinungsäußerung.

Wie erklären Sie sich diese Verwendung von wertenden Begrifflichkeiten in nachrichtlichen Formaten?

Kim Otto: Wie bereits gesagt: Das allgemeine Deutungsmuster "die Griechen sind selber schuld" und "die Griechen haben die Reformen zu machen" hat sich aber bei vielen Journalisten durchgesetzt. Die Journalisten haben wahrscheinlich aufgrund dieses Deutungsmusters unprofessionell gearbeitet.

Die fehlende Trennung von Meinung und Nachricht ist bei Boulevardmedien häufig zu finden. Allerdings haben die Journalisten der Qualitätszeitungen in ihrer Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise ebenfalls unprofessionell gearbeitet. Generell gibt es einen Trend: Das Ziel, mit seiner Meinung den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen, wird für Journalisten in den Wirtschaftsredaktionen immer wichtiger, dass zeigte eine Redaktionsbefragung. Während 1990 nur jeder 5. Wirtschaftsjournalist angab, die Meinung der Rezipienten beeinflussen zu wollen, verfolgen 2014 drei Viertel aller Journalisten in den Wirtschaftsredaktionen dieses Ziel.

Was bedeutet es für einen Qualitätsjournalismus, wenn die Grenzen zwischen nachrichtlicher Berichterstattung und Kommentierung bzw. Meinung verschwimmen?

Kim Otto: Europäische Wirtschaftspolitik ist durch ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet, wie sich auch in der griechischen Staatsschuldenkrise zeigt. Hier ist eine Vielzahl von nationalen, europäischen und internationalen politischen Akteuren an Verhandlungen und Entscheidungen beteiligt. Die europäischen Staaten und Bürger haften mit Milliardenbeträgen füreinander. 851 Milliarden Euro wurden bereits für die Rettung europäischer Krisenstaaten ausgezahlt, weitere 944 Milliarden Euro wurden zugesagt.

Kompetenter Wirtschaftsjournalismus muss diese komplexen und vernetzten Zusammenhänge erklären. Dafür muss er Kriterien journalistischer Qualität einhalten, damit in dieser griechischen Staatsschuldenkrise in der Bevölkerung keine Verunsicherung entsteht. Wirtschaftsjournalismus muss daher umfassend, ausgewogen, hintergründig, vielfältig und neutral über relevante Aspekte und Vorgänge informieren, um seiner gesellschaftlichen Aufgabe nachzukommen.

Wie lässt sich die Berichterstattung zukünftig wieder ins rechte Lot bringen?

Kim Otto: Ein weiteres Ergebnis der Studie ist und das ist das Grundproblem: Zwei nationale Akteure, die griechischen und die deutsche Regierung, stehen erkennbar im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Berichterstattung. Die untersuchten Medien stellen durch ihre bi-nationale Berichterstattung einen bi-nationalen Konflikt da. Von einer europäisierten Öffentlichkeit kann nicht gesprochen werden. Das heißt: Die Journalisten haben aus einer rein deutschen Sichtweise berichtet und nicht versucht die Perspektive der Griechen einzunehmen. In diesem Moment berichte ich natürlich nicht über die Reformen in Griechenland und ihre Folgen für die Bevölkerung, sondern über die Folgen eines Schuldschnittes für Deutschland.

Sie fordern also, dass Journalismus stärker von einer europäischen Perspektive geprägt sein sollte?

Kim Otto: Genau das ist es. Ich glaube wir Journalisten müssen eine europäische Perspektive einnehmen. Angesichts der Bedeutung europäischer Institutionen und Zusammenhänge in der Wirtschaftspolitik ist eine europäische Perspektive im Wirtschaftsjournalismus von besonderer Relevanz. Dies gilt insbesondere in der griechischen Staatsschuldenkrise, in der politische Entscheidungen über die Finanzhilfen aus Steuergeldern der europäischen Bürger für die Rettung Griechenlands von europäischen Institutionen, wie der Europäischen Kommission, der EZB oder der Eurogruppe, getroffen werden.

Die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit trägt wesentlich zum Verständnis europäischer Entscheidungen und so zu deren Legitimität bei. Diese Studie zeigt, dass die Journalisten in Deutschland in der Berichterstattung die europäische und griechische Perspektive zu wenig beachtet haben.