Über die Notwendigkeit von negativen Leitzinsen

Seite 4: Analyse der (nicht intendierten) Folgen der Finanzpolitik der letzten Jahrzehnte

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Der Vergleich der faktischen finanzpolitischen Anwendung der simplen Trickle-down-Theorie mit der abstrakten Geldtheorie aus systemtheoretischer Perspektive erlaubt uns eine differenzierte Beurteilung der Finanzpolitik der letzten Jahre. Beginnen wir also damit, was richtig gemacht wurde.

Im Zahlungsverkehr - anders als in einer Tauschwirtschaft - werden nicht Werte "an sich" ausgetauscht. Vielmehr ist es das Vertrauen in seine Dynamik, das ihn stabilisiert. Das Vertrauen, dass sichergestellt ist, dass Zahlungen zeit- und wertstabil stets zu weiteren Zahlungen führen (können). Damit wird für wirtschaftliches Geschehen essentiell, ein Einfrieren des Zahlungsverkehrs - eine Gefahr, die im Jahr 2008 scheinbar konkret wurde - um jeden Preis zu verhindern (Mario Draghis "Whatever it takes"). Genau dies haben die Zentralbanken mit ihrer Politik in den letzten Jahrzehnten erfolgreich leisten können.

Der einseitige Fokus der Zentralbanken auf den Aspekt der Dynamik des Zahlungsverkehrs, ist jedoch nicht ausreichend, um langfristig seine Stabilität abzusichern. Es bedarf dafür, wie erläutert, der Anbindung des Zahlungsverkehrs an externe Bedingungen. Dies umso mehr, nachdem 1973 das Bretton-Woods-System und damit die Goldanbindung des Zahlungsverkehrs aufgegeben werden mussten. Obwohl Zentralbanken als unabhängige (externe) Institutionen gedacht sind, kann davon ausgegangen werden, dass sie (korruptions-)anfällig sind für die internen Ansprüche des Wirtschaftssystems, nämlich Profitabilität zu erleichtern.

Der Doppelkreislauf von fortlaufend zu Zahlungsfähigkeit führenden Zahlungen einerseits, und fortlaufend zur Zahlungsunfähigkeit führenden Zahlungen (Konsum) andererseits, erlaubt, Profite in Anlehnung an beide Zirkel zu erzielen. Einerseits orientiert am Zirkel fortlaufender Zahlungsfähigkeit und kurzfristige Gewinne versprechend, masturbativ und spekulativ an interne, finanzwirtschaftliche Bedingungen geknüpft. Andererseits an den konsumistischen Zirkel fortlaufender Zahlungsunfähigkeit geknüpft, durch wirtschaftsextern, nämlich politisch festzulegende Steuern und auf real-wirtschaftlichen Investments gegründeter Lohnarbeit (schließlich wird im Banken- und Finanzsektor auch "gearbeitet" und "entlohnt"). Eine Möglichkeit, die eher langfristig Profite verspricht.

Finanzpolitisch zentral ist also der Umgang mit Zahlungsunfähigkeit gemäß folgenden Möglichkeiten:

  1. Orientiert an den internen Bedingungen des Finanzsystems: Zahlungsunfähigkeit wird schuldenfinanziert, also durch (höhere) Zahlungsunfähigkeit entgegnet. Also durch kurzfristig profitable Kreditierung bzw. Schuldendienst.
  2. Orientiert an externen ("real-wirtschaftlichen" bzw. politischen) Bedingungen: Zahlungsunfähigkeit wird - langfristig profitabel - durch Lohnarbeit und Steuern entgegnet.

Klar ist, dass eine an langfristiger Stabilität des Zahlungsverkehrs orientierte Finanzpolitik die Anbindung des Zahlungsverkehrs an Möglichkeit (2) - real-wirtschaftliche Investitionen - fördern müsste. Zudem müsste die Höhe der Steuern (und allenfalls eine Mindestentlohnung) tatsächlich politisch geregelt werden. Es ist deshalb eine wahrhaft politische, also Zwang und deshalb Macht benötigende Aufgabe, da "freie" Märkte selbstredend die kurzfristig höhere Profitabilität versprechende Möglichkeit (1) bevorzugen; zumal sie prinzipiell die Tendenz haben, Steuern und Löhne als Kosten zu minimieren oder sich ihrer ganz zu entledigen. Ein profitmaximierendes Bestreben, das aktuell im internationalen Steuer- und Lohnwettbewerb sehr erfolgreich umgesetzt werden kann.

Möglichkeit (1) wird deshalb finanzwirtschaftlich bevorzugt, weil sie erlaubt, Zahlungsunfähigkeit kurzfristig profitabel zu bewirtschaften. Bei ohnehin geringem Eigenkapitalanteil der Geschäftsbanken werden durch die geldschöpfende Vergabe von Krediten instantan (komplementär) Vermögen geschaffen. Vermögen, mit denen spekulativ, also wiederum an interne Bedingungen des Finanzsystems geknüpft, erneut Profite erwirtschaftet werden können. Etwa durch Devisen- und Aktienspekulation oder sonstige der Spekulation dienliche derivative Finanzprodukte. Spekulanten bzw. Hedgefonds sind, im funktionalen Sinne, lediglich an den internen Bedingungen des Finanzsystems orientiert, eher als Wichser, denn als Geier zu verstehen.

In diesem Sinne ermöglicht aktuelle Leitzinspolitik Firmen ihre eigenen Aktienkurse mit "billig" finanzierten Aktienrückkäufen kurzfristig profitabel in die Höhe zu treiben. Aber auch die Finanzierung von Immobilien - das Hauptgeschäftsfeld der meisten Banken - ist, mangels ihres produktiven Charakters, eher spekulativ und nicht real-wirtschaftlich (orientiert an externen Bedingungen) disponiert. Es lässt sich mit Michael Hudson von einer "Finanzialisierung" des Wirtschaftsgeschehens sprechen, der Erzeugung von kurzfristig-spekulativen Profiten, orientiert ausschließlich an den internen und eben nicht real-wirtschaftlichen bzw. politischen Bedingungen des Finanzsystems.6

Tatsächlich wird seit Jahren schon, entgegen der eigentlich finanzpolitisch zu fördernden langfristigen Stabilität des Zahlungsverkehrs, Möglichkeit (1) sogar steuerlich subventioniert. Also die Generierung von hohen kurzfristigen, spekulativen Profiten in Bezug auf die internen Bedingungen des Finanzsystems gefördert. Kapitaleinkünfte werden steuerlich bevorzugt, Arbeitseinkommen steuerlich benachteiligt; so machen Einkommens- und Verbrauchssteuern den weitaus größten Anteil am Gesamtsteueraufkommen aus. Schuldendienst hingegen wird durch dessen steuerliche Absetzbarkeit finanzpolitisch Vortrieb geleistet. So wird zwar durch hohe und kurzfristige Profitabilität tatsächlich die Dynamik des Zahlungsverkehrs gefördert - die häufige Entstehung von Spekulationsblasen zeigt dies an -, gleichzeitig der Zahlungsverkehr, indem seine externe Anbindung sogar finanzpolitisch benachteiligt wird, mehr und mehr in ein gigantisches Schneeballsystem verwandelt, das, um seine Dynamik zu erhalten, von einer exponentiellen Zunahme von Schulden/Vermögen abhängig ist.