Über die Notwendigkeit von negativen Leitzinsen

Die gefährlichen Folgen der Verdinglichung des Geldes

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Dass die Rezepte neoliberaler Wirtschaftsideologie die Patienten - zuvorderst Griechenland - nicht gesunden lassen, ist offenkundig. Die von den Zentralbanken verfolgte Finanzpolitik des billigen, gewollt Inflationsraten in die Höhe treibenden Geldes hat bislang lediglich zur Folge, dass eine ohnehin vermögende Minderheit noch reicher wurde. Hingegen haben "99 Prozent" (Occupy-Wall-Street Bewegung) unter bestenfalls stagnierenden Löhnen und Staats- wie Privathaushalte unter rapide steigender Verschuldung zu leiden. Wie lässt sich erklären, dass gleichwohl an dieser Finanzpolitik starrsinnig festgehalten wird, die kurzsichtig und -fristig einen finanziellen Kollaps lediglich dadurch aufschiebt, dass sie Kreditierung durch Leitzinsen nahe Null Prozent extrem erleichtert?

Die Disposition der modernen, plural in Funktionssysteme (etwa Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Massenmedien) ausdifferenzierten Gesellschaft1, ohne zentrale, "feudale" Institutionen der Steuerung, macht nicht plausibel, dass eine Finanzelite ("Wall-Street") eine Agenda der globalen Durchsetzung ihrer, ökonomische Ungleichheit Vortrieb leistenden Interessen durchsetzen könnte. Wobei nicht bestritten wird, dass es einflussreichen Lobbyismus gibt, der in kurzfristiger Sichtweise lediglich auf Besitzstandswahrung und -vermehrung aus ist. Es bleibt jedoch Fakt, dass eine tatsächliche Durchsetzung der Ziele dieser Lobbyistengruppen einen finanzwirtschaftlichen Kollaps zur Folge hätte, der auch das "eine Prozent" treffen würde.

Wir wollen deshalb davon ausgehen, dass es Grundüberzeugungen sind, die in ihrer Simplizität eine Funktionssysteme übergreifende Plausibilität geniessen, die die Dominanz gegenwärtiger Finanzpolitik verständlich macht. Perspektiven also, die in diesem Sinne tatsächlich als Weltsichten zu verstehen sind. Die Stossrichtung gegenwärtiger Finanzpolitik folgt nicht etwa nur politischen, nur wirtschaftlichen oder nur wirtschaftswissenschaftlichen Interessen bzw. Ansichten, sondern ergibt sich aus deren Gemengelage; wobei erwähnter Wall-Street Lobbyismus in diesem "Chor" sicherlich nicht die schwächste Stimme ist. Weltsichten sind als "kleinste gemeinsame Nenner" zu verstehen, dürfen in ihrer Komplexität nicht überfordern, damit sie unterschiedlichste gesellschaftliche (politische, wirtschaftliche, ökonomische, massenmediale, religiöse etc.) Perspektiven in eine bestimmte - hier: finanzpolitische - Richtung zu integrieren vermögen.

Im folgenden Abschnitt wird erläutert, dass gegenwärtige Finanzpolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners im wesentlichen der Geld verdinglichenden Logik der so genannten Trickle-down-Theorie gehorcht. Im Anschluss werden wir diese Theorie mit einer komplexeren, "konstruktivistischen" Geldtheorie kontrastieren, die zwar nicht den Status einer Weltsicht für sich vereinnahmen, gleichwohl aber mehr Realismus für sich verbuchen kann als die Trickle-down-Theorie, da sie besser mit den (negativen) Konsequenzen vergangener und gegenwärtiger Finanzpolitik in Einklang zu bringen ist.

Die Dominanz der Trickle-down-Theorie in der gegenwärtigen Finanzpolitik

Die Trickle-down-Theorie kann am besten durch eine schlichte Metapher erläutert werden: "If you feed the horse enough oats, some will pass through to the road for the sparrows."2 Dabei soll gar nicht der Wahrheitsgehalt dieser "Theorie" diskutiert werden; zumal, wie erwähnt, die Stoßrichtung einer Finanzpolitik nicht lediglich ökonomischen Wahrheiten folgt. Behauptet wird lediglich, dass aktuelle Finanzpolitik faktisch genau der Weltsicht folgt, wie sie in genannter Metapher zum Ausdruck kommt.

Geld ("Hafer") erscheint in dieser Sichtweise als eine dingliche Sache, die es - unterstützt durch Finanzpolitik - gilt zu vermehren. Kosten hindern in dieser Sichtweise lediglich Rentabilität, sind der möglichst reichhaltigen und damit auch "armen Spatzen" zukommenden Produktion von Geld hinderlich: "Rentabilität bzw. Profitabilität wird [...] als derjenige Faktor ausgezeichnet, der ein Kalkül als wirtschaftlich markiert; und die Ausgabendisposition des Staates und der Kommunen ebenso wie der Konsum in Privathaushalten wird als nicht wirtschaftlich motiviert angesehen. Sie kommen deshalb nur in der Form von Kosten wirtschaftlich in Betracht."3

Die finanzpolitische Stoßrichtung ergibt sich unmittelbar: Ohnehin unprofitable, also ein Zuviel an Kosten verursachende politisch beeinflusste Staatsunternehmungen, etwa im Bereich der Infrastruktur, gilt es, etwa durch mehr "am Markt" orientierte und so Effizienz steigernde Privatisierungen, auf ein Minimum zu reduzieren. Selbst polizeiliche Aufgaben sind kein Tabu für Privatisierungen.

Politisch gesteuerte Armutsbekämpfung wird ohnehin obsolet, da in so erleichtert ermöglichter "Geldproduktion" genügend finanzielle Mittel für die Armen "durchsickern" ("trickle-down") sollten. Was Löhne und Steuern als Kosten betrifft, gilt es im Sinne besserer Wettbewerbsfähigkeit, (kurzfristig) bescheiden zu sein, um so (langfristig? für alle?) Vermögen zu schaffen. Eine Forderung, die sich vor allem in Deutschland (im Land der "schwäbischen Hausfrau") erfolgreich durchgesetzt hat.

Die wachsende ökonomische Ungleichheit zeigt sowohl die folgenreiche (erfolgreiche?) Anwendung dieser ökonomischen Weltsicht, wie deren naive, unrealistische Simplizität. Die Verdinglichung des Geldes, die Ansicht, dass (Geld-)Vermögen ein Produkt sei und der Finanzpolitik die Aufgabe zukäme, für möglichst günstige Produktionsbedingungen zu sorgen, lässt schlicht den komplementären Charakter von Vermögen und Schulden außer Acht. Die Notwendigkeit, sich beim Verständnis des Geldes an Differenzen - hier: die sich gegenseitig bedingende Unterscheidung von Forderung und Kredit - statt an verdinglichten Einheiten ("Tauschwerten") zu orientieren4, führt zu einer ökonomischen Sichtweise, die sich fundamental von der Trickle-down-Theorie unterscheidet.

Geldzahlungen als Differenzen generierende Differenzen

Wirtschaftliches Geschehen ist durch die Operation der Zahlungen generierenden Zahlungen, durch den Zahlungsverkehr, disponiert. Dabei ist offenkundig, dass mit jeder Zahlung im exakt gleichen Masse Zahlungsfähigkeit, wie -unfähigkeit weitergegeben wird: "Derjenige, der die Zahlungen erhält, wird entsprechend zahlungsfähig. Derjenige, der die Zahlung leistet, wird entsprechend zahlungsunfähig. Das ist eine triviale Feststellung, also ein guter, weil sicherer Ausgangspunkt für Theoriebildung."5

Im Zahlungsverkehr werden also nicht Einheiten im Sinne von (Tausch-)Werten weitergegeben, sondern "Nullstellen". Also eine Zahlung als Differenz von Schuld (Kredit) und Vermögen (Forderung) in exakt gleicher Höhe, die weitere Zahlungen in eben diesem Sinne (als Weitergabe von "Nullstellen") ermöglicht. Dass diese "Nullstellen" heute eben mit Scheinen aus Papier, oder, im elektronischen Zahlungsverkehr, lediglich durch Veränderung von Zahlwerten, also durch (fast) "Nichts" symbolisiert werden, ist also durchaus angemessen.

Die Disposition der Operation der Zahlung lässt den komplementären Charakter von Vermögen und Schulden (Forderung und Kredit) unmittelbar einsichtig werden. Eine unmittelbar abzuleitende "triviale Feststellung" ist deshalb ebenso, dass sich weltweit Schulden und Vermögen, weltweit Handelsbilanzdefizite und - überschüsse stets zu Null addieren. Die Exportorientierung Deutschlands als Rezept gegen die Krise weltweit zu exportieren, ist demnach schlicht logisch unsinnig.

Nicht der gewissermaßen für sich selbst stehende Wert von Geldzahlungen (etwa Goldmünzen) motiviert Zahlungen - schließlich werden hier lediglich "Nullstellen" bewegt -, sondern das Vertrauen in die Dynamik des Zahlungsverkehrs. Es besteht nur dann die Bereitschaft "Nichts" (sei es ein Fetzen Papier oder eine Goldmünze) anzunehmen, in der Sicherheit, dass dieses "Nichts" zu annähernd gleichen Bedingungen weitergegeben werden kann. Also weder zu übermäßig inflationären, noch zu unmäßig deflationären Bedingungen. Bei inflationären Bedingungen wandert die "Nullstelle" in den negativen, Zahlungen übermotivierenden Bereich, während Zahlungen, wenn die "Nullstelle" deflationär in den positiven Bereich wandert, demotiviert werden. Vermögenswerte haben also keine vom Zahlungsverkehr unabhängige für sich selbst stehende "Existenz", sondern werden erst in der Dynamik des Zahlungsverkehrs konstruiert.

In der Perspektive bislang lediglich akzentuierter Dynamik des Zahlungsverkehrs erscheint dieser als Tautologie, als ein Schneeballsystem, das binnen kurzer Zeit in sich zusammenbrechen müsste. Es bedarf weiterer Bedingungen um eine langfristige Stabilität des Zahlungsverkehrs zu ermöglichen. Der Zahlungsverkehr ist gewissermaßen zu "enttautologisieren" - also an externe Bedingungen zu knüpfen -, um Vertrauen in seine Stabilität, d.h. die langfristige Bereitschaft zur Weitergabe von Zahlungen, zu schaffen. Zu benennen sind folgende Externalisierungen:

  • Die Menge des Geldes muss durch nicht leicht und willkürlich änderbare Bedingungen limitiert werden. Traditionell wurden Zahlungen an die begrenzte Menge von Metallen (Gold/Silber) gekoppelt. Wobei auch hier etwa inflationäre Einbrüche nicht auszuschließen sind. So nachdem Europa, im Zuge der "Entdeckung" Amerikas, mit diesen Metallen, durch die Raubzüge der Spanier in Südamerika, überflutet wurde. Mittlerweile, nachdem 1973 die Goldanbindung von Zahlungen (Bretton-Woods System) angesichts globaler Märkte zusammenbrach, verlässt man sich auf die mehr Flexibilität erlaubenden Steuerungsmöglichkeiten von politisch unabhängigen, und in diesem Sinne als extern gedachten Zentralbanken.
  • Komplementär zum durch Zahlungen zur Zahlungsfähigkeit führenden "Kreislauf", etabliert sich ein konsumatorischer "Kreislauf" von Zahlungen, der zur fortgesetzten Zahlungsunfähigkeit führt. Diese Kreisläufe sind durch die Bedingung der Profitabilität wirtschaftsintern miteinander verknüpft; der Konsumtionszirkel sollte sich allerdings an wirtschaftsexternen Bedingungen orientieren. Nämlich durch den Faktor Steuern - wirtschaftsextern insofern, als dieser politisch festzulegen ist - und den Faktor der Lohnarbeit, der an externe Bedingungen im Sinne seines real-wirtschaftlichen Bezugs anknüpft.
  • Nicht zuletzt findet eine Enttautologisierung von Zahlungen - als der Differenz von Schulden/Vermögen, die weitergegeben wird -, zumindest in der deutschen Sprache, durch Moralisierung statt. Die Seite der Zahlungsfähigkeit (Vermögen) ist positiv konnotiert, während die komplementäre Seite der "Schuld" moralisch negativ aufgeladen wird. Zinszahlungen erscheinen so, zumindest in der simplen, Geld verdinglichenden Sicht der "schwäbischen Hausfrau", gewissermaßen als fortlaufend zu leistende Bußen.

Das aktuelle Wirtschaftsgeschehen, bei dem Zentralbanken in der Festlegung von negativen Leitzinsen Schuldner für ihre "Schuld" sogar "belohnen", kann demnach bei der "schwäbischen Hausfrau" nur verständnisloses Kopfschütteln auslösen. In vorliegender abstrakter Perspektive, bei der der unmittelbare komplementäre Zusammenhang zwischen Vermögen und Schulden klar wird, erscheinen Negativzinsen keineswegs absurd. Warum sollten Schuldner, die mit ihrer grundsätzlichen (sogar moralisch unterfütterten) Bereitschaft, ihrer "Schuld" durch Zahlungen nachzukommen, nicht grundsätzlich "belohnt" werden? Die gegenwärtige Krise macht deutlich, dass die "Schuld" der Schuldner keineswegs selbstverständlich ist. Ebenso plausibel ist nämlich die Ansicht, dass Vermögende in der Schuld der Schuldner stehen. Erst Schuldner garantieren den Vermögenden ihre Vermögen durch ihre sich im Schuldendienst ausdrückende Zahlungsbereitschaft.

Es zeigt sich, dass der Status quo des Finanzsystems mit seiner extrem ausufernden Verschuldung mittlerweile selbst "Vermögenssteuern" erzwingt, um seine Funktionalität zu bewahren; genau diese Steuern werden durch negative Zinsen nämlich bewirkt. Diese Form von Vermögenssteuern ist nur deshalb wenig zielführend, weil sie derart undifferenziert erhoben werden. Nationalstaatlich organisierter Macht mangelt es an Spielraum, Vermögenssteuern zielgerichtet politisch zu gestalten (etwa progressiv und noch "negativer").

Analyse der (nicht intendierten) Folgen der Finanzpolitik der letzten Jahrzehnte

Der Vergleich der faktischen finanzpolitischen Anwendung der simplen Trickle-down-Theorie mit der abstrakten Geldtheorie aus systemtheoretischer Perspektive erlaubt uns eine differenzierte Beurteilung der Finanzpolitik der letzten Jahre. Beginnen wir also damit, was richtig gemacht wurde.

Im Zahlungsverkehr - anders als in einer Tauschwirtschaft - werden nicht Werte "an sich" ausgetauscht. Vielmehr ist es das Vertrauen in seine Dynamik, das ihn stabilisiert. Das Vertrauen, dass sichergestellt ist, dass Zahlungen zeit- und wertstabil stets zu weiteren Zahlungen führen (können). Damit wird für wirtschaftliches Geschehen essentiell, ein Einfrieren des Zahlungsverkehrs - eine Gefahr, die im Jahr 2008 scheinbar konkret wurde - um jeden Preis zu verhindern (Mario Draghis "Whatever it takes"). Genau dies haben die Zentralbanken mit ihrer Politik in den letzten Jahrzehnten erfolgreich leisten können.

Der einseitige Fokus der Zentralbanken auf den Aspekt der Dynamik des Zahlungsverkehrs, ist jedoch nicht ausreichend, um langfristig seine Stabilität abzusichern. Es bedarf dafür, wie erläutert, der Anbindung des Zahlungsverkehrs an externe Bedingungen. Dies umso mehr, nachdem 1973 das Bretton-Woods-System und damit die Goldanbindung des Zahlungsverkehrs aufgegeben werden mussten. Obwohl Zentralbanken als unabhängige (externe) Institutionen gedacht sind, kann davon ausgegangen werden, dass sie (korruptions-)anfällig sind für die internen Ansprüche des Wirtschaftssystems, nämlich Profitabilität zu erleichtern.

Der Doppelkreislauf von fortlaufend zu Zahlungsfähigkeit führenden Zahlungen einerseits, und fortlaufend zur Zahlungsunfähigkeit führenden Zahlungen (Konsum) andererseits, erlaubt, Profite in Anlehnung an beide Zirkel zu erzielen. Einerseits orientiert am Zirkel fortlaufender Zahlungsfähigkeit und kurzfristige Gewinne versprechend, masturbativ und spekulativ an interne, finanzwirtschaftliche Bedingungen geknüpft. Andererseits an den konsumistischen Zirkel fortlaufender Zahlungsunfähigkeit geknüpft, durch wirtschaftsextern, nämlich politisch festzulegende Steuern und auf real-wirtschaftlichen Investments gegründeter Lohnarbeit (schließlich wird im Banken- und Finanzsektor auch "gearbeitet" und "entlohnt"). Eine Möglichkeit, die eher langfristig Profite verspricht.

Finanzpolitisch zentral ist also der Umgang mit Zahlungsunfähigkeit gemäß folgenden Möglichkeiten:

  1. Orientiert an den internen Bedingungen des Finanzsystems: Zahlungsunfähigkeit wird schuldenfinanziert, also durch (höhere) Zahlungsunfähigkeit entgegnet. Also durch kurzfristig profitable Kreditierung bzw. Schuldendienst.
  2. Orientiert an externen ("real-wirtschaftlichen" bzw. politischen) Bedingungen: Zahlungsunfähigkeit wird - langfristig profitabel - durch Lohnarbeit und Steuern entgegnet.

Klar ist, dass eine an langfristiger Stabilität des Zahlungsverkehrs orientierte Finanzpolitik die Anbindung des Zahlungsverkehrs an Möglichkeit (2) - real-wirtschaftliche Investitionen - fördern müsste. Zudem müsste die Höhe der Steuern (und allenfalls eine Mindestentlohnung) tatsächlich politisch geregelt werden. Es ist deshalb eine wahrhaft politische, also Zwang und deshalb Macht benötigende Aufgabe, da "freie" Märkte selbstredend die kurzfristig höhere Profitabilität versprechende Möglichkeit (1) bevorzugen; zumal sie prinzipiell die Tendenz haben, Steuern und Löhne als Kosten zu minimieren oder sich ihrer ganz zu entledigen. Ein profitmaximierendes Bestreben, das aktuell im internationalen Steuer- und Lohnwettbewerb sehr erfolgreich umgesetzt werden kann.

Möglichkeit (1) wird deshalb finanzwirtschaftlich bevorzugt, weil sie erlaubt, Zahlungsunfähigkeit kurzfristig profitabel zu bewirtschaften. Bei ohnehin geringem Eigenkapitalanteil der Geschäftsbanken werden durch die geldschöpfende Vergabe von Krediten instantan (komplementär) Vermögen geschaffen. Vermögen, mit denen spekulativ, also wiederum an interne Bedingungen des Finanzsystems geknüpft, erneut Profite erwirtschaftet werden können. Etwa durch Devisen- und Aktienspekulation oder sonstige der Spekulation dienliche derivative Finanzprodukte. Spekulanten bzw. Hedgefonds sind, im funktionalen Sinne, lediglich an den internen Bedingungen des Finanzsystems orientiert, eher als Wichser, denn als Geier zu verstehen.

In diesem Sinne ermöglicht aktuelle Leitzinspolitik Firmen ihre eigenen Aktienkurse mit "billig" finanzierten Aktienrückkäufen kurzfristig profitabel in die Höhe zu treiben. Aber auch die Finanzierung von Immobilien - das Hauptgeschäftsfeld der meisten Banken - ist, mangels ihres produktiven Charakters, eher spekulativ und nicht real-wirtschaftlich (orientiert an externen Bedingungen) disponiert. Es lässt sich mit Michael Hudson von einer "Finanzialisierung" des Wirtschaftsgeschehens sprechen, der Erzeugung von kurzfristig-spekulativen Profiten, orientiert ausschließlich an den internen und eben nicht real-wirtschaftlichen bzw. politischen Bedingungen des Finanzsystems.6

Tatsächlich wird seit Jahren schon, entgegen der eigentlich finanzpolitisch zu fördernden langfristigen Stabilität des Zahlungsverkehrs, Möglichkeit (1) sogar steuerlich subventioniert. Also die Generierung von hohen kurzfristigen, spekulativen Profiten in Bezug auf die internen Bedingungen des Finanzsystems gefördert. Kapitaleinkünfte werden steuerlich bevorzugt, Arbeitseinkommen steuerlich benachteiligt; so machen Einkommens- und Verbrauchssteuern den weitaus größten Anteil am Gesamtsteueraufkommen aus. Schuldendienst hingegen wird durch dessen steuerliche Absetzbarkeit finanzpolitisch Vortrieb geleistet. So wird zwar durch hohe und kurzfristige Profitabilität tatsächlich die Dynamik des Zahlungsverkehrs gefördert - die häufige Entstehung von Spekulationsblasen zeigt dies an -, gleichzeitig der Zahlungsverkehr, indem seine externe Anbindung sogar finanzpolitisch benachteiligt wird, mehr und mehr in ein gigantisches Schneeballsystem verwandelt, das, um seine Dynamik zu erhalten, von einer exponentiellen Zunahme von Schulden/Vermögen abhängig ist.

Der Aufbau eines gigantischen Schneeballsystems

Gefährlich ist, dass dem Finanzsystem möglich wurde, oben genannte (langfristig) profitable Bewirtschaftung durch Möglichkeit (2) mit Möglichkeit (1) kurzzuschließen. Es lässt sich in Anlehnung an eine Denkfigur von Jürgen Habermas von einer finanzwirtschaftlichen "Kolonialisierung der Arbeitslohn- und Steuerwelt" sprechen, von einer zunehmenden Internalisierung der externen Verankerung des Zahlungsverkehrs, die unabdingbar ist für die langfristige Stabilität des Zahlungsverkehrs.

Dabei ist nicht davon auszugehen, dass Finanzpolitik tatsächlich strategisch die "Finanzialisierung" von Löhnen und Steuern angestrebt hätte. Finanzpolitik - die in ihrer Machtlosigkeit kaum diesen Namen verdient - folgt vielmehr den Sachzwängen der Globalisierung. Internationaler Wettbewerb erlaubt vor allem steuerfluchtanfällige Steuern (etwa Unternehmenssteuern, Gewinnsteuern, Kapitalertragssteuern) und Löhne als wirtschaftliche Kosten faktisch zu minimieren. Erst diese Schwächung ermöglichte, dass die Finanzwirtschaft in diese Bresche springen konnte. So konnte es sogar zu einer profitablen, kreditfinanzierten Bewirtschaftung von Steuern und Löhnen - also von Forderungen! - kommen. Staaten haben sich mittlerweile vermehrt an den internationalen Finanzmärkten (statt direkt durch die Einnahme von Steuern) zu (re-)finanzieren, steigende Kreditkartenschulden, in Deutschland Hartz IV-Lohnkostenzuschüsse, zeigen, dass Löhne unterfinanziert sind.

Daraus ergibt sich eine selbstverstärkende Dynamik. Selbst zunächst orientiert an externen Bedingungen (o.g. Möglichkeit (2)) eingenommene Steuern und Löhne müssen im wachsenden Maße auch für den Schuldendienst (o.g. Möglichkeit (1)) aufgewendet werden, was erneute (höhere) Verschuldung notwendig macht, um die entstandenen konsumatorischen Lücken aufzufüllen, was wiederum den aufzubringenden Schuldendienst erhöht ... Es entsteht eine Dynamik im Sinne eines Schneeballsystems, die Vermögen/Schulden in exponentieller Geschwindigkeit aufbläht.

Ein Spätstadium dieser Entwicklung ist der immer lauter werdende Ruf nach De-Regulierung und Privatisierung. Um hochverschuldeten öffentlichen Haushalten den - kaum tragbaren - Schuldendienst dennoch zu ermöglichen, sollen nunmehr, unter dem Deckmantel von Effizienzsteigerungen öffentliche Monopole, etwa Verkehrswege-Infrastruktur oder Wasser- und Energieversorgung, an private Gläubiger verkauft werden. Dies erlaubt eine besonders profitable (für den Konsumenten also teure) Mautstellen- und Gebührenbewirtschaftung. Schließlich lassen sich Monopole in relativ willkürlicher Höhe mit Kosten für die Konsumenten (bzw. Profiten für Gläubiger) belegen.

Auf diese Weise lassen sich hoch verschuldete Staatshaushalte, die einen noch höheren Schuldendienst kaum tragen könnten, immer noch profitabel bewirtschaften. Es entspricht dies wiederum der Dynamik eines Schneeballsystems, das die externen (real-wirtschaftlichen und politischen) Bedingungen des Zahlungsverkehrs (Löhne und Steuern) internalisiert, also Forderungen zunehmend in einen profitabel zu bewirtschaftenden Schuldendienst überführt.

Dabei zeigt mittlerweile das Finanzsystem in der Aufrechterhaltung seiner Funktionalität selbst an, was unabdingbar ist. Die aufgrund exorbitanter Verschuldung privater wie öffentlicher Haushalte notwendig gewordene Finanzpolitik extrem niedriger Leitzinsen - bis hin in den negativen Bereich als undifferenziert erhobene Vermögensabgaben -, indiziert die Notwendigkeit von Vermögenssteuern, bzw., auf das Gleiche hinauslaufend, von Schuldenschnitten. Kurzfristig praktikabel wäre eine Kombination von beidem. Bei weltweit extrem ungleicher Vermögensverteilung, die mittlerweile sogar eine individuelle Adressierung zulässt ("8 Männer sind reicher als die halbe Welt"), könnten durch (einmalige) Vermögensbesteuerung, trotz hoher persönlicher Steuerfreibeträge bis in den Bereich von Millionen Euro/Dollar, sehr hohe Erträge erzielt werden. Ebenso könnten im Hauptgeschäftsfeld der Banken - der Immobilienspekulation - Schuldenschnitte angesetzt werden. So würde der Schuldendienst der "Eigentümer" (oftmals wohl eher: Besitzer) von Immobilien erleichtert.

Mit den Erträgen wäre öffentlicher wie privater Konsum möglich, der nicht schuldenfinanziert wäre. So könnte etwa die Modernisierung von maroder Infrastruktur, von Bildungs- und Forschungseinrichtungen finanziert werden, oder Maßnahmen zum Umweltschutz bzw. zur Luftreinhaltung ergriffen werden. Auch dem "einen Prozent" wäre geholfen. Indem der Zahlungsverkehr so wieder verstärkt an "realpolitische" (externe) Bedingungen geknüpft wird, wird der immer konkreter werdenden Gefahr entgegnet, dass unser Schneeballsystem dann notwendig exponentiell wachsender Vermögen/Schulden in sich zusammenbricht.

Bislang mag der "Geist" unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems durch "protestantische Ethik" (Max Weber) bestimmt worden sein. Es ist nunmehr notwendig, sich durch eine "buddhistische Ethik" leiten zu lassen. Diese bringt mehr Verständnis für "Differenzen generierende Differenzen" auf, für das Prozessieren von "Leere", das (nicht nur) den Zahlungsverkehr auszeichnet. So mag Leiden vermindert werden.