Überbietungswettbewerb um Nato-Aufrüstungsziel

Nato-Staaten überbieten sich in Rüstungszielen. Nach zwei Prozent fordern manche nun drei, andere gar fünf Prozent des BIP. Doch wer soll das bezahlen?
Mit Ausnahme von sieben Ländern haben alle 32 Nato-Staaten 2024 das ein Jahrzehnt zuvor beschlossene Ziel erreicht, zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (BIP) für Verteidigung auszugeben.
Die europäischen Mitglieder und Kanada wenden jährlich 430 Milliarden Euro und die USA 970 Milliarden US$ auf. Eine militärische Bedrohung der Nato durch Russland behauptend, wird dieser Mitteleinsatz von vielen als unzureichend angesehen, obgleich dieser um ein Vielfaches über jenem Russlands liegt.
So fordert ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister drei Prozent, ein grüner Kanzlerkandidat 3,5 Prozent und US-Präsident Trump gar fünf Prozent. Ökonomen erhalten in Leitmedien viel Raum für Appelle, "sehr schnell für Sicherheit und Verteidigung sehr viel Geld in die Hand zu nehmen."1
Dass es diesen Ratgebern vor allem um "Konjunkturimpulse" durch Rüstungsindustrie sowie Rückbau des Sozialstaats durch Haushaltsumschichtungen geht, ist gut zu erkennen. Im Rahmen ihres Gipfels im Juni dürfte die Nato das Zwei-Prozent-Ziel auf die von Generalsekretär Rutte vorgeschlagenen drei Prozent anheben.
Finanzierungsprobleme
Die Ampelkoalition ist Ende 2024 an den Streitigkeiten über die Finanzierung der Ukraine-Unterstützung auseinandergebrochen. Einige Zahlen verdeutlichen die fiskalischen Herausforderungen einer signifikanten Erhöhung der Verteidigungsausgaben: 2014 lag der Verteidigungshaushalt bei 32 Milliarden Euro, bis 2024 wuchs er auf 53 Milliarden Euro auf (Gesamtetat: 480 Milliarden Euro). Unter Nutzung von "Zeitenwende"-100-Milliarden-Sonderschulden konnten 80 Milliarden Euro und damit 2,1 Prozent erreicht werden.
Bis 2027 soll der Verteidigungshaushalt bei 53 Milliarden verharren, wobei zur Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels erneut Mittel aus dem Sonderschuldentopf eingesetzt werden. Dieses Instrument wird 2027 aufgebraucht sein.
Wie die Aufstockung des Haushalts 2028 auf – dann für das Zwei-Prozent-Ziel erforderliche – 95 Milliarden Euro erreicht werden soll, ist unklar. Noch mehr in den Sternen liegt dies im Fall eines Drei-Prozent-Ziels für 140 Milliarden Euro. Fünf Prozent dürften nahezu der Hälfte des Bundeshaushalts entsprechen.
Der Präsident des Ifo Instituts Clemens Fuest empfiehlt einen mehrjährigen Umschichtungsprozess, der u. a. Verzicht auf Rentenerhöhungen, Kürzungen beim Bundeszuschuss für Krankenkassen, bei Ausgaben für Migranten und Integration sowie Verzicht der Länder auf Umsatzsteuer umfasst – "Kanonen und Butter" gebe es nicht gleichzeitig: "Ohne schmerzhafte und konfliktträchtige Konsolidierung wird es nicht gehen."
Dies dürfte umso mehr gelten, als ab 2028 die Tilgung von Notlagenkrediten (Corona, Sondervermögen Bundeswehr) mit jährlich 9,2 Milliarden Euro zu Buche schlägt und über die bereits geleisteten 44 Milliarden Euro sehr hohe Ausgaben für die Ukraine zu erwarten sind (Wiederaufbau!).
Signifikante Steigerungen des Verteidigungshaushalts werden daher nur durch Verschuldung sowie Fortsetzung der Unterfinanzierung zentraler Staatsaufgaben (Infrastruktur, Klimaschutz, Energiewende, Bildung, Forschung, Gesundheit, sozialer Wohnungsbau, Integration) erreichbar sein.
Zu welchen politischen Verwerfungen dies führen kann, hat die Agonie der Ampelkoalition gezeigt. Ferner illustriert der Streit um eine gemeinsame Finanzierung von Rüstungsprojekten in Höhe von 500 Milliarden Euro die auch auf EU-Ebene zu erwartende Belastung. Bleibt Deutschland bei seiner ablehnenden Haltung, wird es erneut als europapolitisch uninspirierter Bremser angegriffen.
Aufrüstungsbedarf?
Starke Erhöhungen der Verteidigungsausgaben müssen sicherheitspolitisch gerechtfertigt sein, da sie auf Kosten wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit sowie politischer und gesellschaftlicher Stabilität gehen. Die durch den Ukraine-Krieg mitverursachte wirtschaftliche und politische Krise Deutschlands gibt einen Vorgeschmack auf künftige Entwicklungen.
Der Kanzlerkandidat der Grünen Habeck vertritt die in der Nato vorherrschende Sichtweise: "Wir müssen fast doppelt so viel für unsere Verteidigung ausgeben, damit Putin nicht wagt, uns anzugreifen".2 Vom Szenario eines russischen Angriffs in fünf Jahren ausgehend, will Verteidigungsminister Pistorius Deutschland schnellstens "kriegstüchtig" machen.
Ein weitreichendes und kostspieliges Nato-Aufrüstungsprojekt ist programmiert: Beschaffung vieler Waffensysteme, Bundeswehrbrigade an Nato-Ostflanke, US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, Raketenschirme für Europa und USA etc.
Papst Franziskus bringt die Minderheitsposition in der Deutungsdiskussion prägnant auf den Punkt: "Die Nato hat vor der Tür Russlands gebellt." Ohne die Verantwortung Russlands in Abrede zu stellen, wird hier davon ausgegangen, dass der Versuch, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk zu machen, zu der von weitsichtigen Realisten wie Henry Kissinger befürchteten Konfrontation mit Russland geführt hat.
In dieser Perspektive verfolgt Moskau begrenzte Ziele: Anerkennung russischer Souveränität über die Krim und die annektierten vier Oblaste, Verzicht auf Nato-Mitgliedschaft sowie Begrenzungen für die ukrainischen Streitkräfte. Umfangreiche Nato-Aufrüstung ist daher nicht nur unnötig, sondern setzt ein Frieden und Sicherheit gefährdendes Wettrüsten in Gang.
Friedensregelung als Gamechanger
Einer Beendigung des russisch-ukrainischen Kriegs kommt daher größte Bedeutung zu. Wer diese will, sollte Positionen zur Kenntnis nehmen. Russland hat z. B. vor der Bürgenstock-Friedenskonferenz Mitte 2024 erklärt, den Krieg bei ukrainischer Akzeptanz der o.g. begrenzten Forderungen sofort zu beenden.
Ob die Ukraine auf Vorschläge eingeht, ist ihre Sache. Werden Vorschläge aber nicht ausgelotet, ist die Behauptung schwer zu halten, dass Russland zu einer Konfliktregelung oder auch nur zu Verhandlungen vor vollständiger Unterwerfung der Ukraine nicht bereit sei und Kiew daher keine andere Option als Fortführung des Kriegs habe.
Die in Richtung des russischen Vorschlags gehenden Vorstellungen Trumps sowie Selenskyjs inzwischen erklärte Bereitschaft, mit Putin zu verhandeln und einen vorübergehenden Verzicht auf die besetzten Gebiete in Betracht zu ziehen, lassen auf Bewegung hoffen.
Weitere Bedrohung durch Russland?
Auch wenn eine Konfliktregelung die Schubkraft für Aufrüstung dämpfen dürfte, wird die in die Köpfe eingebrannte Vorstellung eines revisionistisch-imperialistischen Russland und die Sorge vor einem drohenden Angriff auf die Nato wirkmächtig bleiben, zumal wenn – wie zu erwarten – die Regelung störanfällig sein wird.
Seriöse sicherheitspolitische Bedrohungsanalyse muss daher klären, ob Russland in überschaubarer Zeit über die Mittel für einen Erfolg versprechenden Angriff auf die Nato verfügen wird und die Annahme einer solchen Absicht plausibel ist.
Fähigkeiten
Den russischen Streitkräften ist es in drei Jahren nicht gelungen, die vier annektierten Oblaste in der Ukraine vollständig einzunehmen. In Bezug auf Militärausgaben, Truppenstärke, Besitz von Großwaffensystemen, Einsatzbereitschaft und Rüstungsproduktion ist die Nato Russland weit überlegen.3 Das starke Wachstum russischer Rüstungsproduktion ist für ein Land in einem verlustreichen Krieg ohne absehbares Ende nicht ungewöhnlich, zumal dabei viel Depotgerät instand gesetzt wird. Russland wird über Jahre hinweg wirtschaftlich geschwächt bleiben und große Verluste in seinen Streitkräften ausgleichen müssen.
Daraus folgt: Russland verfügt nicht über die Fähigkeiten, die 32 Staaten umfassende Atlantische Allianz mit Aussicht auf Erfolg angreifen zu können. Zu der nach Trumps erneutem Einzug in das Weiße Haus viel geäußerten Sorge vor einer Abkehr der USA von Europa in Verbindung mit der Behauptung eines hoffnungslosen Angewiesenseins der Europäer auf militärischen Schutz durch die USA4 ist festzustellen, dass dies für die US-Nukleargarantie zutrifft, nicht jedoch für die konventionelle Verteidigung.
Die in Europa stationierten US-Streitkräfte machen nämlich nur zehn Prozent des westlichen Dispositivs aus und die viel gescholtenen "Trittbrettfahrer" geben für Verteidigung nicht nur deutlich mehr als Russland aus, sondern besitzen auch mehr Großwaffensysteme.
Die Europäer brauchen sich daher nicht kleiner zu machen, als sie sind. Es ist bezeichnend, dass die pausenlos angebliche europäische Schwäche verbreitenden Medien seit Jahren einen großen Bogen um Streitkräftevergleiche machen, obwohl die Daten leicht zugänglich sind.
Absichten
Dass die gemeinsame Einschätzung aller US-Nachrichtendienste: "Russland will mit größter Wahrscheinlichkeit keine direkte militärische Konfrontation mit den USA und Nato-Streitkräften"5 in Deutschland völlig ignoriert wird, sagt alles.
Unter Bedrohungsanalyse wird hierzulande verstanden, aus Putins Bedauern über den Untergang der Sowjetunion messerscharf auf russische Absicht zum Angriff auf die baltischen Nato-Staaten ("Test") oder gar auf frühere Warschauer Pakt-Staaten zu schließen.
Nicht erforderliche Operation gelungen – Patient tot?
Nach 20 Jahren Fokussierung auf ressourcenfressende Auslandseinsätze in Afghanistan und Afrika erfordert der Rückbau der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung große Anstrengungen. Nachdem die Verteidigungsaufwendungen in nur einer Dekade von 32 auf 80 Milliarden Euro rasant gestiegen sind, müssen jetzt effektivere Mittelverwendung und Behebung vieler Schwachstellen in der Organisation und im Management der Streitkräfte im Vordergrund stehen.
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Das 2024 erreichte Zwei-Prozent-Niveau, das Deutschland in den Kreis der fünf Staaten mit den größten Verteidigungsausgaben aufrücken lässt und dessen dauerhafte Finanzierung bereits eine große Herausforderung darstellt, erscheint angesichts der Überlegenheit von Nato bzw. Nato-Europa allein sowie der Unwahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs für die überschaubare Zukunft vollkommen ausreichend.
Hierfür spricht auch, dass die europäische Rüstungsindustrie bei der Absorption des schnellen Wachstums der westlichen Verteidigungshaushalte auf Leistungsgrenzen stößt. Auch kann Trumps überspannte und mit Drohungen eines Schutzentzugs unterlegte Fünf-Prozent-Aufrüstungsforderung, die nicht zuletzt durch den Wunsch nach Waffenkäufen in den USA motiviert ist, nicht Maß für den deutschen Verteidigungshaushalt sein.
Schon gar nicht darf es dazu kommen, dass sich Deutschland mit übermäßig vorangetriebener Aufrüstung derart verschuldet, dass es wegen anhaltender Unterfinanzierung zentraler Staatsaufgaben wirtschaftlich und politisch absteigt.
Einstimmung auf Krieg oder Politik der Verständigung
Kein Krieg ohne Propaganda und Dämonisierung des Gegners. Russland wähnt sich in einer epochalen Auseinandersetzung mit einem auf seine Vernichtung ausgehenden Westen und der Westen sieht die Dinge spiegelbildlich nicht viel anders.
Wenn Buchtitel wie "Die Rückkehr des Kriegs". Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen"6 erscheinen und Professoren in Leitmedien in einer an das geistige Klima zu Beginn des 1. Weltkriegs erinnernden Weise den Deutschen die Überwindung ihrer historisch überkommenen Kriegsangst ans Herz legen, damit sie sich "auf die Kriege, die in Zukunft in Europa ausgetragen werden, einstellen"7, steht für Deutschland in seiner Mittellage sehr viel, im Zeitalter der Nuklearwaffen möglicherweise alles auf dem Spiel.
Die Beilegung des russisch-ukrainischen Konflikts sollte daher Auftakt einer neuen Anstrengung zum Interessenausgleich und schrittweisen Aufbau von Vertrauen und Strukturen der Zusammenarbeit sein. "Nie wieder Krieg" heißt nicht, dass es nie wieder Kriege geben wird – wer wollte dies behaupten? – sondern dass Verhinderung von Krieg und ggf. schnelle Beendigung von Kriegen durch Verhandlungen wieder als vornehmste Aufgabe von Politik begriffen werden muss.
Hellmut Hoffmann, Botschafter a.D. geb. 1951, 1982-2016 im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland, darunter Teilnahme an den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa und 2009-2013 Leiter der deutschen Abrüstungsmission in Genf.
Der Artikel erscheint im Rahmen der Medienkooperation mit WeltTrends – Zeitschrift für Internationale Politik.
Die neueste Ausgabe WeltTrends Nr. 203: Welt 21 im Umbruch spannt den Bogen von einer Bilanz des Versagens aktueller deutscher Außenpolitik, den Krieg im Nahen Osten bis zum Übergang von der transatlantischen zur eurasisch-pazifischen Zentralität.