Ukraine: Geschichtsunterricht mit Beigeschmack
Seite 2: Der Mord an den Juden
Die Ukraine war einer der Haupt-Tatorte des gezielten Massenmords an europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Das ist heute sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine nur wenig bekannt. Jedes vierte Opfer der Shoah, also 1,5 Millionen Juden, wurde während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 auf ukrainischem Boden umgebracht. Dabei gab es dort gar keine Vernichtungslager. Die ukrainischen Juden wurden erschossen, ertränkt, totgeprügelt, lebendig begraben, eingemauert oder verbrannt.8 Die Nazis ließen jüdische Rotarmisten in Kriegsgefangenenlagern separat eingezäunt verhungern oder erfrieren. Zudem testete die SS erste Vergasungs-Wagen auch an ukrainischen Juden.
International bekannt ist eigentlich nur das Massaker von Babyn Jar (Russisch: Babij Jar) - einer Schlucht am damaligen Kiewer Stadtrand. Dort erschossen deutsche Soldaten und ukrainische Hilfstruppen9 kurz nach der Eroberung Kiews Ende September 1941 mehr als 33.000 jüdische Einwohner in nur zwei Tagen. Zehntausende weitere Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionszugehörigkeiten wurden dort noch in den folgenden zwei Jahren umgebracht.
"Wir hörten in wechselnden Abständen Maschinengewehrgarben: ta-ta-ta, ta-ta…", schrieb der ukrainische Schriftsteller Anatolij Kusnezow, der als Zwölfjähriger im angrenzenden Bezirk Kureniwka wohnte. "Zwei Jahre lang hörte ich sie, Tag für Tag. Meine Ohren sind noch heute voll davon."10
Ein ganzes Land als Gräberfeld
Doch praktisch jede ukrainische Ortschaft hat ihr eigenes Babyn Jar, betont der jüdische ukrainische Historiker Boris Zabarko.11 Massenerschießungen von jüdischen Einwohnern gab es in so gut wie jedem ukrainischen Ort, den die deutsche Armee erreichte. Eine Ahnung davon verschafft eine interaktive Karte der Organisation "Yahad-In Unum", die nur die bislang entdeckten Exekutionsorte darstellt. Schätzungen gehen von 1500 bis 2000 solcher Massengräber im gesamten Land aus.12 Die Mehrzahl davon ist bis heute nicht markiert, geschweige denn mit Gedenksteinen gewürdigt.
Die Ukraine ist ein einziges Gräberland, schreibt der französische Pfarrer Patrick Desbois in seinem Buch "Der vergessene Holocaust".13
Ein riesiger Friedhof voller namenloser Grabstätten, in die Männer, Frauen und Kinder hineingeworfen wurden.
Desbois ermittelte durch mühsame Nachforschungen und gegen manch Widerstände vor Ort hunderte Massengräber in der gesamten Ukraine. Jahrelang war er dort mit einem kleinen Team herumgereist und hatte in Dörfern und Städten die wenigen noch lebenden Augenzeugen von damals befragt und mit ihrer Hilfe die Exekutionsplätze wieder aufgespürt. Viele ukrainische Zivilisten wurden damals von Deutschen gezwungen, sich indirekt an den Morden zu beteiligen.14 Es gab also zahllose Augenzeugen.
Nur wenige Zeilen in Lehrbüchern
Trotz der großen Zahl an einheimischen Zeugen und der ungeheuren Dimensionen dieses Massenmordes an jüdischen Einwohnern im ganzen Land taucht das Verbrechen im Geschichtsunterricht lediglich am Rande auf.15 "In ukrainischen Schulbüchern kommt die Shoah zwar vor, aber nur irgendwo in einem Nebensatz mit wenigen Zeilen", sagt der Hamburger Osteuropahistoriker Frank Golczewski gegenüber Telepolis.
Als Beispiel sei hier das Lehrbuch "Geschichte der Ukraine" (11. Klasse) von Fedir G. Turtschenko angeführt.16 Der Autor ist Historiker aber auch Regionalpolitiker von Julia Timoschenkos Vaterlandpartei. Sein 2011 erschienenes Lehrbuch wurde noch im selben Jahr vom ukrainischen Bildungsministerium empfohlen17 - und zwar als einziges Buch für Geschichts-Leistungskurse ("Profilnij Riwen"). Das Lehrbuch ist für das Fach Ukrainische Geschichte bestimmt und behandelt somit ausschließlich Geschehnisse in der Ukraine. Auf den 57 Seiten in denen es sich mit der Zeit von 1941 bis 1945 auseinandersetzt, wird der Holocaust jedoch explizit in gerademal sechseinhalb Zeilen abgehandelt. In diesem kurzen Abschnitt heißt es:
Innerhalb der 103 Wochen der Okkupation wurden jeden Dienstag und Freitag in Babyn Jar in Kiew Menschen verschiedener Nationalitäten erschossen, vor allem Juden. Die Massenvernichtung der Juden ist unter dem Namen ‚Holocaust‘ (‚vollständige Verbrennung‘) in die Geschichte eingegangen. Ein eigenes ‚Babyn Jar‘ gab es in jeder großen Stadt der Ukraine. Insgesamt sind in den ersten Monaten der Okkupation der Ukraine 850.000 Juden Opfer der Nazis geworden. Die Okkupation haben wenige überlebt. Ein Teil von ihnen verdankt das eigene Leben der einheimischen Bevölkerung - den ‚Gerechten unter den Völkern‘.
Warum wird der gigantische Massenmord an Einwohnern des Landes in seriösen Lehrbüchern18 so nebenbei abgehandelt? Schon in der Sowjetunion war dies so, erläutert Golczewski. Damals habe es einen allgemeinen staatlichen Antisemitismus gegeben. Juden sollten keinen speziellen Opferstatus bekommen. Opfer hießen pauschal "friedliche Sowjetbürger". Zudem wollten die Machthaber keinen "Opferkult" um den Zweiten Weltkrieg sondern einen Heldenkult.
Bis heute herrscht in der Ukraine die Vorstellung einer jüdischen Nationalität, sagt der Professor für Osteuropäische Geschichte weiter. Vor allem das Leiden der nicht-jüdischen Ukrainer im Krieg sei das zentrale Anliegen in Geschichtsbüchern. Das damalige Leiden jüdischer Einwohner sei hingegen Nebensache. "Aus der Perspektive eines großen Teils heutiger ukrainischer Historiker ist das eine Angelegenheit der Juden."19
Es sei bitter und beschämend, schreibt der Historiker Boris Zabarko rückblickend, dass Forschungen zur Shoah etwa durch die Aufnahme von Zeugenberichten auf ukrainischem Gebiet nicht von einheimischen, sondern erst von ausländischen Forschern begonnen wurden. Inzwischen sind viele Zeugen verstorben. "Wir haben die Zeit versäumt, wir haben uns selbst bestohlen."20