Ukraine: Geschichtsunterricht mit Beigeschmack

Seite 4: Der Massenmord an polnischen Zivilisten

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Ganz ähnliches gilt für ein noch unbekannteres Kapitel des Zweiten Weltkriegs: der Massenmord an polnischen Zivilisten in den heute ukrainischen Gebieten Wolhynien und Galizien von 1943 bis 1944. Nachdem polnische Nationalisten 1942 bei Zamość ukrainische Zivilisten ermordet hatten, rächten sich die Partisanen der UPA in den folgenden Jahren grausam. Bei ihren ethnischen Säuberungen in Wolhynien und Galizien töteten sie 60.000 bis 100.000 polnische Einwohner. Ein systematischer Massenmord, wie der schwedische Historiker Per Anders Rudling schreibt.32

Die Polen in der Region waren vogelfrei. "Es wurden keine Gefangenen gemacht, sondern Männer, Frauen und Kinder auf zum Teil bestialische Weise umgebracht", betont Frank Golczewski. Wie bei den Judenpogromen ging es den ukrainischen Nationalisten auch hierbei um die Auslöschung nicht-ukrainischer Gruppen auf dem Gebiet eines zukünftigen ukrainischen Staates. Neben dem Massenmord wurde auch gut eine halbe Million Polen aus heute westukrainischen Gebieten vertrieben.

Schulbücher sprechen von "Tragödie"

Die Verbrechen waren während der Sowjetzeit tabuisiert. Aber selbst in den 24 Jahren seit der Unabhängigkeit gab es in der Ukraine wenig Interesse das Thema aufzuarbeiten. Während die Geschehnisse in Polen "Rzeź wołyńska" ("Wolhynisches Massaker") genannt werden, bezeichnet man sie in der Ukraine als "Wolhynische Tragödie"- also eine unglückliche Fügung, an der niemand Schuld hat. Auch in Schulbüchern taucht dieser Terminus auf. Genau wie beim Holocaust wird auch dieses Ereignis in wenigen Zeilen abgearbeitet. Im empfohlenen Lehrbuch heißt es hierzu lediglich:

Tragisch war das Verhältnis der UPA zu polnischen Militäreinheiten verschiedener politischer Richtungen, die in der Westukraine operierten. Ukrainer beschuldigten Polen, sich die Wiederherstellung Polens in dessen Vorkriegsgrenzen zu wünschen, die Polen sahen den Grund der Feindseligkeit in der Unnachgiebigkeit der Ukrainer. Opfer dieses politischen Antagonismus‘ war vor allem die friedliche Bevölkerung. Ein besonders dunkler Schatten auf den ukrainisch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs liegt auf der Wolhynischen Tragödie - der Massenvernichtung der einheimischen polnischen und teilweise ukrainischen Bevölkerung dieser Region.

Schulbuchautor Turtschenko nennt weder Opferzahlen noch macht er deutlich, wer die Täter und was ihre Motive waren. Zudem erweckt er den falschen Eindruck, Polen und Ukrainer hätten im gleichen Umfang gemordet. Durch anonymisierte Passivsätze vermeidet der Autor, UPA-Kämpfer als Täter zu bezeichnen.

Nach neuesten Parlamentsbeschlüssen, ist es heute in der Ukraine strafbar, die UPA für Massaker zu beschuldigen, sagt Osteuropa-Fachmann Golczewski. "Das ist eine fatale Entwicklung und das Gegenteil von dem, was man als Angleichung an mittel- und westeuropäische Standards sehen kann."

Historische Lehren ziehen statt Verschweigen

In Deutschland hätte man inzwischen gelernt, dass die Einbeziehung negativer Seiten der eigenen Landesgeschichte keine Beschädigung der Nation zur Folge habe. Man müsse aus den dunklen Kapiteln seiner Geschichte Lehren ziehen, so der Historiker. Bei den ukrainischen Machteliten ist dies noch nicht angekommen. Alle bisherigen Regierungen - egal zu welcher politischen Fraktion sie gehörten - traten für eine unkritisch patriotische Sichtweise auf die Ukraine ein. Und alle ignorieren deshalb dieselben historischen Ereignisse.

Schulbuchforscher Rober Maier vom Georg-Eckert-Institut hat aber Hoffnung für die zukünftige Entwicklung. "Das ukrainische Bildungsministerium bekundet, dass es die Landesgeschichte als Teil der europäischen Geschichte gelehrt sehen will." Es gebe also keine streng nationalistische Isolierung, und die Bildungspolitik sei weiter offen für fortschrittliche westliche Entwicklungen.

Ein Lichtblick sind zudem ausgerechnet Schüler: Als im Juni und Juli mit Geld des Auswärtigen Amtes erste Mahnmale für ermordete Juden in der Westukraine eröffnet wurden, beteiligten sich laut Welt.de gerade Schüler aus der Region sehr engagiert. Sie zeigen Interesse und Einsatz für die Geschichte ihrer Heimat, auch wenn oder vielleicht gerade weil diese nicht unbefleckt ist. Die Jugendlichen beweisen damit mehr Reife im Umgang mit der Nationalgeschichte als die Machteliten ihres Landes.