Ukraine-Krieg: Atomkraftwerke im Fadenkreuz – ein gefährliches Spiel
- Ukraine-Krieg: Atomkraftwerke im Fadenkreuz – ein gefährliches Spiel
- Atomkraft: Riskante Schlüsse
- Auf einer Seite lesen
Beschuss von Atomkraftwerken könnte zur ultimativen Eskalation führen – ein riskantes Kalkül beider Kriegsparteien. Eine Einschätzung.
Es sind zutiefst beunruhigende Bilder, die schreckliche Erinnerungen erwecken: Dicker schwarzer Rauch steigt am Sonntagvormittag über dem größten Atomkraftwerk Europas auf, dem Kraftwerk Saporischschja. Mit seinen sechs Druckwasserreaktoren kommt es auf eine installierte Gesamtleistung von 5,7 Gigawatt.
Zum Vergleich dazu kommt das größte Kraftwerk in Deutschland, das Kohlekraftwerk Neurath, auf nur 4,3 Gigawatt.
Saporischschja: Brand in einem der beiden Kühltürme
Am Sonntag kam es zu einem Brand in einem der beiden Kühltürme des Kraftwerkes. Das klingt beunruhigend. Doch das riesige Atomkraftwerk befindet sich in einem relativ sicheren Kaltabschaltzustand.
Das bedeutet, dass der Kernbrennstoff das Wasser des Kühlkreislaufs nicht zum Kochen bringen kann. In diesem Kaltabschaltzustand werden die Kühltürme des Kraftwerkes also nicht dazu benötigt, um die Anlage in einem sicheren Zustand zu belassen.
Das Atomkraftwerk Saporischschja hat zwei Kühltürme, die sich rund 1,3 Kilometer westlich der eigentlichen Reaktoren befinden, unmittelbar am Kühlteich des Kraftwerkes.
Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, das Feuer verursacht zu haben.
Russland unter Druck setzen
Immer wieder kommt es zu einem gefährlichen Beschuss des Atomkraftwerkes, wie etwa noch vor einem Monat, als ein Kontrollposten für Strahlung getroffen worden ist, Reuters berichtete.
Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA untersucht regelmäßig derartig schwerwiegende Verletzungen der Sicherheit des Atomkraftwerkes, ohne einen Täter benennen zu können oder wollen. In der Tat könnten beide Seiten Motive für den Brand im Kühlturm haben.
Die Ukraine könnte durch eine solche Aktion versuchen, Russland mit der Drohung einer nuklearen Eskalation des Ukrainekriegs unter Druck zu setzen. Andererseits könnte Russland bei einer möglichen ukrainischen Rückeroberung die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks durch einen selbst gelegten Brand erheblich erschweren wollen.
Das Atomkraftwerk ist lediglich durch den Dnjeper vom nördlichen, noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Flussufer getrennt. Immer wieder wird über einen möglichen Versuch der Ukraine spekuliert, durch eine Offensive die Kontrolle über das Kernkraftwerk zurückzugewinnen. Der Brand im Kühlturm hat eine solche Wiederinbetriebnahme vorerst unmöglich gemacht.
Mögliches strategisches Ziel: AKW bei Kursk
Ein weiteres Atomkraftwerk steht ebenfalls im Fokus der aktuellen Entwicklungen: das Kraftwerk bei Kursk. Im Zusammenhang mit der neuen Offensive der Ukraine gibt es Spekulationen über mögliche strategische Ziele.
Eine These besagt, dass die Ukraine im Falle einer Eroberung des Kursk-Kraftwerks dieses gegen das von Russland besetzte AKW Saporischschja eintauschen könnte. Allerdings hat der jüngste Brand im Kühlturm von Saporischschja den potenziellen Wert dieser Anlage für die Ukraine deutlich gemindert.
In sozialen Medien, insbesondere auf Telegram, kursieren Berichte, wonach ein ukrainischer Gefangener die Eroberung des Atomkraftwerkes Kursk als strategisches Ziel der sogenannten Sumy-Offensive genannt haben soll.
Diese Information ist jedoch bislang unbestätigt und sollte mit Vorsicht betrachtet werden. Selbst wenn diese Behauptung zuträfe, lässt sich angesichts der aktuellen militärischen Lage bereits jetzt feststellen, dass die Ukraine dieses mutmaßliche Ziel verfehlt hat.
Diese Spekulationen unterstreichen die komplexe Rolle, die Atomkraftwerke in diesem Konflikt spielen - nicht nur als kritische Infrastruktur, sondern auch als potenzielle strategische Verhandlungsmasse.
Gleichzeitig verdeutlichen sie die Risiken und ethischen Fragen, die mit der militärischen Auseinandersetzung um solch sensible Anlagen einhergehen.
Diese Komplexität wird noch verstärkt durch die umfassende Strategie der russischen Streitkräfte, die seit dem Winter 2023 eine strategische Luftkampagne gegen die gesamte Energieinfrastruktur der Ukraine führen
Russische Luftangriffe: Ukrainische Energieinfrastruktur schwer in Mitleidenschaft gezogen
Diese Strategie erweist sich aus militärischer Sicht als äußerst effektiv und stellt die ukrainische Führung vor enorme Herausforderungen.
Ein aktueller Bericht der renommierten britischen Militär-Denkfabrik Royal United Services Institute (RUSI) bietet eine detaillierte Analyse der prekären Energieversorgungssituation in der Ukraine. Diese Analyse verdeutlicht die weitreichenden Auswirkungen der russischen Strategie auf die zivile Infrastruktur und das tägliche Leben in der Ukraine.
Demnach haben die russischen Angriffe die Energieinfrastruktur der Ukraine schwer in Mitleidenschaft gezogen. Vor der großangelegten Invasion konnte die Ukraine bis zu 32 Gigawatt (GW) Strom erzeugen, wobei die tatsächliche Erzeugung bei etwa 25 GW lag.
Heute kämpft das Land darum, gerade einmal neun GW zu produzieren. Diese drastische Reduzierung der Stromerzeugungskapazität hat bereits zu rollierenden Stromabschaltungen geführt.
Die Schäden betreffen verschiedene Bereiche des Energiesektors. Die verbleibenden neun Atomreaktoren haben eine Gesamtkapazität von knapp acht GW. Russland hat zwar die Reaktoren selbst nicht direkt angegriffen, dafür aber die Transformatorenstationen, die für die Energieverteilung zuständig sind, massiv beschädigt.
Massive Unterversorgung und Folgen
Auch Wasser- und Wärmekraftwerke wurden in den letzten zweieinhalb Jahren stark in Mitleidenschaft gezogen. Besonders die thermische Stromerzeugung wurde erheblich beeinträchtigt. Die Übertragungskapazität des ukrainischen Energiesystems ist von ehemals 56 GW auf einen Wert geschrumpft, der nur noch knapp über der aktuellen Erzeugungskapazität liegt. Dies schränkt die Möglichkeiten zur Umleitung von Energie bei Ausfällen stark ein.
Die Gesamtsituation ist äußerst prekär. Während der Strombedarf der Ukraine im Winter zwischen 15 und 18 GW liegt, kämpft das Land derzeit darum, überhaupt neun GW zu erzeugen. Diese massive Unterversorgung könnte im kommenden Winter zu einer humanitären Krise führen, insbesondere wenn es zu einem harten Winter mit Temperaturen im zweistelligen Minusbereich kommen sollte.
Das Worst-Case-Szenario ist düster. Die ukrainischen Städte verfügen über zentralisierte Systeme für Wasser, Abwasser und Heizung. Bei Stromausfällen ist die Versorgung mit allen drei Systemen gefährdet. Vor allem die Heizung wird von den Kommunen entweder durch das Füllen der Rohre mit heißem Wasser zur Verfügung gestellt, oder sie ist abgeschaltet.
Wenn aber die Rohre gefüllt sind und der Strom für die Heizung ausfällt, kann das Wasser gefrieren, die Rohre können platzen, und ganze Gemeinden können ohne Heizung dastehen. Die letzten beiden Winter waren in der Ukraine sehr mild.
Ein strenger Winter mit Temperaturen im zweistelligen Minusbereich könnte nach ukrainischen Schätzungen dazu führen, dass Millionen von Ukrainern in Europa Zuflucht suchen.
Royal United Services Institute (RUSI)