Ukraine-Krieg: Demilitarisierte Zone als Weg zum Frieden?

Ukrainischer Soldat mit einem Gewehr in einem Schützengraben.

Ukrainischer Soldat in der Region Donezk. Bild: Drop of Light /shutterstock.com

Während Kiew einen Nato-Beitritt als Bedingung für einen Waffenstillstand sieht, ist genau dies für Moskau ein No-Go. Wie kommt der Krieg aus der Sackgasse? Interview mit Wolfgang Richter, Teil 2.

Der Ukraine-Krieg ist gegenwärtig geprägt von strategischen Geländegewinnen Russlands, begrenzten ukrainischen Gegenoffensiven und verstärkten militärischen Aktivitäten beider Seiten. Oberst a. D. Wolfgang Richter warnt vor den geopolitischen Risiken für Europa und einer unkontrollierten Eskalation, die durch den Einsatz moderner Waffen und neue Nukleardoktrinen verstärkt wird.

Im folgenden Teil zwei des Interviews mit dem Sicherheits- und Militärexperten richtet sich der Blick auf die Eskalationsrisiken und die Frage, wie ein Waffenstillstand und der Weg zu Friedensverhandlungen aussehen können, welche Vorstellungen, Begrenzungen und Vorgeschichten ihn bedingen.

Zivile Verluste und ein rücksichtsloser Krieg

▶ Friedrich Merz hat erklärt, er würde als Bundeskanzler Russland ein 24-Stunden-Ultimatum stellen, um die Bombardierungen zu beenden, ansonsten würde Deutschland Taurus-Raketen an die Ukraine liefern. Was halten Sie von solch einem Ultimatum?

Wolfgang Richter: Friedrich Merz hat diese Aussage, glaube ich, später relativiert. Erstens hat er von der Bombardierung der Zivilbevölkerung gesprochen und nicht von militärischen Zielen. Die Frage, ob es tatsächlich das Ziel Russlands ist, mit der begrenzten Zahl an militärisch wertvollen und teuren Raketen Wohnhäuser zu zerstören, ist durchaus strittig, auch wenn es immer wieder zu zivilen Verlusten kommt.

Hier hilft ein Vergleich mit dem Krieg im Gazastreifen und im Libanon. Er hat innerhalb eines Jahres auf weitaus kleinerer Fläche vierfach höhere Zivilverluste gefordert als der dreijährige Krieg in der Ukraine, obwohl Israel für sich in Anspruch nimmt, militärische Ziele anzugreifen. Das spricht nicht dafür, dass sich russische Luftangriffe vorwiegend gegen die Zivilbevölkerung richten.

Sicher kann man aber sagen, dass auch dieser Krieg rücksichtslos geführt wird. Aus den Militärnachrichten Kiews geht hervor, dass es überwiegend abgeschossene Trümmerteile sind, die auf Städte und Wohnhäuser niedergehen, während die eigentlichen Ziele der russischen Luft-, Drohnen- und Raketenangriffe die Energieinfrastruktur, aber auch Rüstungsbetriebe wie in Dnipro oder Eisenbahnlinien, Verkehrsknotenpunkten und Flugplätze sind. Auch wenn es sich vorwiegend um militärische Ziele handelt, entstehen allerdings Grauzonen.

Das Humanitäre Völkerrecht verbietet, den Krieg rücksichtslos zulasten der Zivilbevölkerung zu führen. Das gilt auch für die Luft- und Artillerieangriffe im Frontgebiet. Allerdings greifen dort auch die Ukrainer mit Mitteln an, die unweigerlich Kollateralschäden in den betroffenen Siedlungen verursachen.

Die komplexe Lage zeigt, dass der Vorwurf des gezielten Terrors gegen die Zivilbevölkerung, den Merz erhoben hat, fragwürdig ist. Er bedarf zumindest einer neutralen Untersuchung, die nicht allein von Kiew zu erwarten ist.

Wenn man aber ein Ultimatum ausspricht, dann muss man sich sicher sein, dass man sich dadurch nicht selbst in eine Situation begibt, die man nicht mehr in der Hand hat, weil dann Dritte über eine weitere Eskalation entscheiden. Dann würde Deutschland die Initiative und die Handlungsfreiheit verlieren.

Die Resolution des EU-Parlaments

▶ Vor wenigen Tagen hat die EU eine Resolution verabschiedet, in der sie unter anderem fordert, "ihre militärische Unterstützung für die Ukraine weiter zu verstärken, unter anderem durch die Bereitstellung von Flugzeugen, Langstreckenraketen, einschließlich Taurus". Wie beurteilen Sie diese Resolution?

Wolfgang Richter: Es handelt sich nicht um die Europäische Union, sondern um das Europäische Parlament. Das ist ein großer Unterschied.

Das Europäische Parlament hat eine Mehrheitsresolution verabschiedet; es gibt aber eine Minderheit, die gegen diese Entscheidung gestimmt hat. Entscheidend aber ist, das EU-Parlament ist eine gesetzgebende Versammlung, die die Kommission überwacht und die nur in denjenigen Bereichen tätig werden kann, in denen die Staaten ein Stück Souveränität an die Kommission abgegeben haben. Der Lissaboner Vertrag legt dies im Detail fest.

Und es ist der Verteidigungsbereich, in dem die Vertragsstaaten die meisten Vorbehalte gemacht haben. Dort legt der Artikel 42.7 zum Beispiel fest, unter welchen Bedingungen man Verteidigungsbefugnisse an die EU abgeben könnte, sofern darüber ein Konsens hergestellt wird. Die meisten EU-Staaten sind zugleich Nato-Staaten. Sie haben auf einem Nato-Vorbehalt im EU-Vertrag bestanden.

Aber das Entscheidende ist, dass das EU-Parlament die nationalen Regierungen nicht zwingen kann, in den Bereichen, in denen weiterhin die Souveränität der Nationalstaaten gilt, also insbesondere in der Verteidigungspolitik, Entscheidungen durchzuführen, die die Mehrheit des EU-Parlaments bevorzugen würde. Solche Resolutionen sind daher unrealistisch. Kernfragen der nationalen Verteidigung bleiben weiter politische Entscheidungen souveräner Staaten.

Vorschlag Selenskyjs zum Waffenstillstand

▶ Vielen Dank für die Aufklärung! Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schlägt nun die Option einer Waffenstillstand vor, wenn im Gegenzug ein Nato-Beitritt für den unbesetzten Teil der Ukraine garantiert wird. Wie ist Ihre Einschätzung dieses Vorschlags?

Wolfgang Richter: Die bisher vorgelegten Friedens- oder auch Siegespläne von Selenskyj beruhen im Kern darauf, dass die Ukraine durch mehr Waffenhilfe und durch weitreichendere Waffen militärisch gestärkt werden muss, um zu siegen.

Zum Zweiten solle der Westen der Ukraine stabile Sicherheitsgarantien geben, am besten ihren Nato-Beitritt erlauben. Selenskyj hat jetzt nochmal klargemacht, dass nicht nur der Teil der Ukraine der Nato beitreten solle, der unter der Kontrolle Kiews steht.

Dies wäre auch schwer vorstellbar, wenn man gleichzeitig die Ukraine in den Grenzen von 1991 völkerrechtlich anerkennt. Selenskyj will erreichen, dass die Nato politisch die Ukraine als Ganzes zum Beitritt einlädt, aber den Artikel 5, also die Verteidigungsgarantie, zunächst nur auf diejenigen Gebiete anwendet, die unter Regierungskontrolle stehen.

"Unrealistisch"

Das halte ich aus verschiedenen Gründen für unrealistisch. Denn dann blieben bestimmte Grauzonen ungeregelt, selbst wenn die jetzt noch bewegliche Front einmal zum Stillstand kommen sollte. Wie will man dann auf Luftangriffe reagieren, oder auf Provokationen durch Renegaten?

Wie verfährt man mit Fehlperzeptionen einer Seite, die der Gegenseite Angriffsabsichten unterstellt und dann selbst wieder mit Artillerie schießt?

Es gibt zu viele Möglichkeiten, wie so eine fragile Regelung zur Eskalation führen kann. Zunächst müsste ein stabiler Verlauf der Frontlinie in einem Waffenstillstand festgelegt werden, bevor sich die Frage stellt, wie sie überwacht, gesichert und garantiert werden soll.

Ich glaube, dass der Beitritt der Ukraine zur Nato derzeit unrealistisch ist und wahrscheinlich auch auf lange Sicht. Denn die meisten Nato-Staaten sind sich völlig bewusst, welche Folgen eine Artikel 5-Garantie hätte. Sie bedeutet, dass man bereit sein muss, für die Verteidigung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine Krieg mit Russland zu führen.

Das hätte man längst machen können, wenn man dieses Risiko nicht aus gutem Grund gescheut hätte. Zu erwarten, dass nun die Nato-Länder bereit wären, das Risiko eines Nuklearkriegs einzugehen, halte ich für unrealistisch. Putin will den Nato-Beitritt verhindern.

Die Forderung, genau dies zu tun, ist kein Weg zum Frieden. Das ist auch nicht der Weg, den die Trump-Administration gehen will.

Option: Die Schaffung einer entmilitarisierten Zone

▶ Laut einem Bericht von Bloomberg spielt die Nato mit dem Gedanken an die Option eines Waffenstillstands mit der Schaffung einer entmilitarisierten Zone. Was denken Sie darüber?

Wolfgang Richter: Das ist eine Idee, die aus der künftigen Trump-Administration kommt, und zwar von seinem neuen Sicherheitsberater und wahrscheinlichen Ukraine-Beauftragten Keith Kellogg, einem ehemaligen Generalleutnant. Er hat Konturen eines Planes veröffentlicht, der in informellen Track-Two-Gesprächen schon seit Längerem erörtert worden ist.

Diese Ideen werden wahrscheinlich von der Trump-Administration ab Ende Januar offiziell aufgenommen werden. Demnach soll zunächst einmal die Frontlinie durch eine Feuereinstellung eingefroren werden. Darauf könnte man dann einen Waffenstillstand und später einen vollumfänglichen Frieden aufbauen. Das würde auch bedeuten, dass man zunächst die Truppen entflechten und eine demilitarisierte Zone schaffen muss.

Wie breit sie sein soll, und wie sie überwacht werden soll, muss verhandelt werden. Zugleich sollen Anreize gesetzt werden, damit Putin an den Verhandlungstisch kommt. Das verlangt Kompromisse und gewisse Zugeständnisse von beiden Seiten.

Dazu gehört beispielsweise die Verschiebung der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auf unbestimmte Zeit, aber auch der Verzicht Moskaus auf die "Demilitarisierung" der Ukraine.

Es gibt andere in der Trump-Administration, wie der frühere US-Botschafter in Berlin Grenell zum Beispiel, der im Detail abweichende Vorschläge gemacht hat.

Die Nato und die Frage der Peacekeeper

Aber eines ist damit klar, die Nato-Mitgliedschaft Kiews bzw. der Verzicht darauf spielt eine entscheidende Rolle. Das ist jedenfalls aus der Sicht Putins ein zentraler Punkt. Teil der Kompromisse wird es auch sein, die Sanktionen gegen Russland zu lockern.

Zudem muss es eine förmliche Erklärung zum Gewaltverzicht geben, selbst wenn Kiew die russische de facto-Kontrolle der besetzten Gebiete nicht völkerrechtlich anerkennen wird.

Mit anderen Worten: Die Rückkehr der besetzten Gebiete kann nur diplomatisch erfolgen, nicht durch militärische Gewaltanwendung. Und viele andere Fragen wären dann noch zu klären: Wie kann man so etwas sichern? Und wer würde das überwachen? Das sind entscheidende Fragen, die noch nicht geklärt sind.

Dass die Nato als Ganzes sich mit einer solchen Lösung einverstanden erklärt, glaube ich eher nicht. Was aber schon diskutiert worden ist, ist ja auch das, was Frau Baerbock gesagt hat. Wenn es zu einer solchen Lösung kommt, werden natürlich Forderungen, Peacekeepers zu stellen, auch auf Deutschland zukommen.

Allerdings ist in der Öffentlichkeit nicht klar unterschieden worden zwischen der Entsendung von Truppen, um der Ukraine im Krieg zu helfen. und der Entsendung von Friedenstruppen, wenn ein Waffenstillstand vereinbart ist.

Dann stellt sich die Frage, mit welchem Mandat werden Peacekeeper ausgestattet, wer würde diese Truppen entsenden und wie robust müssten sie ausgerüstet sein, damit man zumindest kleinere Verletzungen des Waffenstillstands verhindern kann.

Solche Peacekeeping-Konstruktionen wären denkbar. Aber was aus meiner Sicht nicht denkbar ist, sind harte Garantien, also dass Nato-Staaten bereit sind, in den Krieg mit Russland einzutreten.

Das wäre ein Nuklearkrieg, der würde sich auf ganz Europa oder auch weltweit ausweiten. Das muss natürlich verhindert werden. Und diese wichtige Unterscheidung fällt leider in der öffentlichen Berichterstattung häufig unter den Tisch.

Nato-Beitritt der Ukraine nach dem Muster der deutschen Wiedervereinigung?

▶ Inwiefern wäre aus Ihrer Sicht eine Art "DDR-Lösung" für die Ukraine ein gangbarer Kompromiss? Im Zuge der Wiedervereinigung durfte Deutschland in der Nato bleiben, so dass auch die neuen Bundesländer die Sicherheitsgarantie der Nato erhielten, allerdings durften keine Nato-Militärbasen und Nato-Übungen in den neuen Bundesländern stationiert werden beziehungsweise stattfinden.

Wolfgang Richter: Ja, diese Lösung ist Teil der kooperativen Sicherheitsordnung gewesen, in der wir vereinbart haben, dass der Nato-Beitritt nicht ein strategisches Nullsummenspiel zulasten Russlands sein soll. Das hat Gorbatschow damals überzeugt. Er hat daraufhin den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland eingeleitet.

Später hat Jelzin dann den Abzug russischer Truppen fortgesetzt. Und Deutschland hat sich in der Tat verpflichtet, auf dem Gebiet der früheren DDR und Berlins keine fremden Truppen zu stationieren. Dies gilt immer noch. Doch es bestehen gravierende Unterschiede zur Lage in der Ukraine, und deswegen sind manchmal historische Analogien nicht so ganz zutreffend.

Deutschland war zwar ein geteiltes Land, aber die deutsche Identität war ja auf beiden Seiten nicht infrage gestellt worden und es gab weit überwiegend den Willen zur Einheit. Die Frage, zu welcher Identität sich Bevölkerungsteile in der Ostukraine und auf der Krim bekennen, ist schon seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 diskutiert worden.

Nicht ohne Grund gab es eine "Partei der Regionen", die eher auf die regionalen Identitäten Wert gelegt hat als auf eine vorwiegend westukrainisch geprägte zentrale Identität. Und wenn in einem Staat mit unterschiedlichen Sprachen und Identitäten die eine Seite versucht, der anderen ihre eigene Identität aufzudrücken, wird es zu Konflikten kommen. Diese Erkenntnis hat den Föderalismus Belgiens oder der Schweiz geprägt.

In der Ukraine gab es immer ein Spannungsverhältnis, das sich nicht nur in der Sprachenfrage geäußert hat. Das war übrigens auch einer der Gründe, weshalb Deutschland und Frankreich 2008 dem von George W. Bush geforderten Ukraine-Beitritt nicht einfach zugestimmt haben.

Interessant ist es jetzt zu lesen, was Frau Merkel in ihren Memoiren dazu sagt. Hinzukommt, dass die DDR ein eigenständiger Staat im UN-System war, der auch von den Nato-Staaten anerkannt war. Der historische Vergleich ist also, glaube ich, nicht ganz zutreffend.

Was allerdings aus Moskauer Sicht ein wichtiger Punkt ist, ist die Befürchtung, dass die USA und ihre Verbündeten im Falle eines Nato-Beitritts der Ukraine Stationierungsräume in der Nähe der russischen Grenzen nutzen könnten, die das strategische Gleichgewicht unterminieren könnten.

Solche Fragen müssen nicht nur in einem Waffenstillstand geregelt werden, sondern auch in einer künftigen Vereinbarung über die größere europäische Sicherheitsordnung. Das war ja schon mal geregelt, dass man Rücksicht auf die gegenseitigen Sicherheitsinteressen nimmt und nicht einseitig die eigene Sicherheit zu Lasten der Partner erhöht.

Das Dilemma für Russland

Das Dilemma hier ist allerdings, dass Russland völlig auf das strategische Gleichgewicht mit den USA fokussiert ist. Die Nato ist für Russland nur eine Funktion der amerikanischen Machtausübung und des nuklearstrategischen Gleichgewichts zwischen Moskau und Washington. Moskau befürchtet, dass es durch Kurz- oder Mittelstreckenwaffen auf Nato-Gebiet in der Nähe russischer Grenzen unterminiert werden kann.

Dabei ignoriert Russland allerdings weitgehend die genuinen Sicherheitsinteressen der europäischen Nachbarn. Es nimmt nur wenige Staaten Europas als eigenständige Größen wahr.

Dieses Dilemma, das wir ja seit Jahren kennen, wurde in den 1990er-Jahren durch Rüstungskontrollvereinbarungen gelöst. Sie beruhten auf der strategischen Zurückhaltung aller Seiten, auch auf den Verzicht auf solche Stationierungsräume oder ihre militärische Ausdünnung. Die Stichworte waren der INF-Vertrag, der KSE-Vertrag, das Wiener Dokument, der Vertrag über den Offenen Himmel, etc. Der 2+4-Vertrag entstand auch in diesem Kontext.

Leider sind alle diese Vereinbarungen nach der Jahrtausendwende erodiert oder gekündigt worden. Und das hat zu dieser prekären Situation geführt. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wir zu solchen oder ähnlichen Vereinbarungen zurückkehren müssen. Das werden nicht die gleichen sein wie damals, weil die Lage sich verändert hat.

Aber in der Substanz müssen es wieder Vereinbarungen sein, die die strategische Zurückhaltung gewährleisten, und zwar auf beiden Seiten reziprok verifiziert.

Die Vertragstreue Russlands

▶ Immer wieder wird betont, dass man mit Russland unter einem Präsidenten Putin keinen Vertrag schließen könnte, weil Russland sich an keine Verträge halten und immer wieder Verträge brechen würde, wie beispielsweise das Budapester Memorandum von 1994 beweist, in dem unter anderem Russland die Grenzen der Ukraine anerkannte. In Ihrem Beitrag in der WIFIS-Ausgabe "Die Debatte um US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland" analysieren Sie im Detail die Vertragstreue Russlands. Was ist Ihr Ergebnis?

Wolfgang Richter: Im Budapester Memorandum hat Russland die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine anerkannt. Das ist im Kontext des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags geschehen.

Alle Vertragsstaaten, vor allem die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, waren daran interessiert, dass die Zahl der anerkannten Nuklearmächte sich nicht erweitert, sondern auf die fünf begrenzt bleibt, die der Vertrag akzeptiert hatte. Insofern war das im Interesse aller Staaten.

Das Budapester Memorandum enthielt allerdings keine positive Sicherheitsgarantie, die andere Staaten verpflichtet hätte, einzugreifen, falls die Souveränität der Ukraine gebrochen wird.

Solche sogenannten negativen Sicherheitsgarantien, die ja in ähnlicher Weise auch für kernwaffenfreie Zonen abgegeben wurden, standen immer unter dem Vorbehalt, dass die betroffenen Staaten nicht den Staat angreifen, der die Garantie gibt, und vor allem nicht im Bündnis mit Nuklearmächten militärische Aktivitäten ausüben. Das ist eine durchaus übliche Formel, die von vier Atommächten, die solche Garantien abgegeben haben, verwendet wird.

Moskau war der Auffassung, dass die Ukraine allein durch ihre Absicht, der Nato beizutreten und somit mit Nuklearmächten zu kooperieren, den Budapester Rahmen verlassen habe. Das ist zu Recht kritisiert worden, da es 2014 keineswegs feststand, dass die Absicht der Maidan-Führung, der Nato beizutreten, auch rasch umgesetzt werden konnte. Doch glaubte Moskau offenbar, dass dies mit westlicher Unterstützung bald erfolgen könnte, nachdem Präsident Janukowitsch gestürzt worden war.

Offenbar hat Russland im eigenen Sicherheitsinteresse präemptiv, aber ohne völkerrechtliche Deckung gehandelt, als es die Krim annektierte. Unterm Strich bleibt dies tatsächlich ein Bruch des Budapest-Memorandums und auch der des Flotten- und das Freundschaftsabkommen von 1997, mit denen Moskau ja auch die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine anerkannt hatte.

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Rüstungskontrolle und Rüstungswettlauf

Auf einem anderen Blatt steht, warum wichtige westliche Stimmen, auch die EU-Kommission, ein geopolitisches Nullsummenspiel betrieben haben, indem sie die Ukraine vor eine alternative Entscheidung stellten: Entweder mit dem Westen oder mit Russland!

Dies widersprach dem Konzept der OSZE, das ja die bipolare Blockspaltung überwunden hatte und stattdessen einen gemeinsamen Sicherheitsraum ohne Trennlinien zwischen Vancouver und Wladiwostok schaffen wollte.

Die relevanten OSZE-Dokumente dazu, die zwischen 1990 und 1999 mit Zustimmung aller OSZE-Staaten verfasst wurden und zuletzt 2010 in Astana, in Kasachstan, noch einmal bestätigt worden waren, weisen diese Zielvereinbarung der gesamten OSZE eindeutig aus.

Dies und die Rüstungskontrolle waren die Grundlagen der regelbasierten Ordnung in Europa, auf die man sich geeinigt hatte, um die Konfrontation des Kalten Krieges zu überwinden. Davon sind wir im Moment zwar weit entfernt. Aber diesen politischen Kontext der Zeit muss man natürlich mitbewerten, um die Ereignisse von 2014 einzuordnen.

Putin I und Putin II

Was aber die Rüstungskontrolle betrifft, komme ich zu einem anderen Ergebnis. Die Rüstungskontrollabkommen wurden unter Putin I, also in den ersten acht Jahren der Präsidentschaft Putins, tatsächlich eingehalten. Putin hat sie sogar gefördert. Er hat fast alles umgesetzt, was wir gefordert haben, zum Beispiel die Reduzierung konventioneller Kräfte in der sogenannten Flanke des KSE-Vertrags.

Hier ging es darum, trotz des Tschetschenienkriegs die russischen Truppenverstärkungen im Kaukasus auf die Vertragsgrenzen zu reduzieren. Das hat Putin durchgesetzt. Ein anderes Beispiel ist der Vertrag über den offenen Himmel.

Er ist in der Duma lange Zeit als "organisierte Spionage" diffamiert worden. Deswegen war er unter Präsident Jelzin nicht ratifiziert worden. Putin hat das 2002 durchgedrückt, weil er die Sicherheitskooperation mit dem Westen wollte.

Und insofern, glaube ich, sollte man nicht in der berechtigten Empörung über den russischen Angriffskrieg nun rückwirkend versuchen, die Geschichte zu verfälschen.

Vielmehr stellt sich die Frage, was sind denn eigentlich die Gründe dafür, dass ein Putin I., der noch auf Sicherheitskooperation getrimmt war, sich so verändert hat, dass Putin II., also nach dem Zwischenspiel von Medwedew, dann aus einer Situation der Frustration und der Erbitterung über die vermeintliche westliche Ignoranz gegenüber russischen Sicherheitsinteressen gehandelt hat.

Die Weltmachtgeltung

Selbst Obama hat mit seiner Äußerung, Russland sei ja nur eine Regionalmacht, deutlich gemacht, dass er Moskau nicht als gleichwertige Weltmacht sah. Putin beansprucht für Russland eine Weltmachtgeltung, sieht es als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA und als unverzichtbarer Pol in einer multipolaren Welt.

Eine Sicherheitsgefährdung nahm er auch dadurch wahr, dass die USA wichtige Rüstungskontrollverträge nicht mehr eingehalten haben. Das begann mit der Kündigung des ABM-Vertrags durch den damaligen Präsidenten George W. Bush, also des Vertrags zur Begrenzung der strategischen Raketenabwehr.

Dies hat einen Rüstungswettlauf bei strategischen Offensiv- und Defensivwaffen ausgelöst. Moskau hat neuartige Waffen eingeführt, die die amerikanische strategische Raketenabwehr überwinden sollten. Dabei ging es immer darum, die sogenannte "nukleare Zweitschlag-Kapazität" aufrechtzuerhalten. Denn wer das nicht mehr kann, müsste kapitulieren.

Im konventionellen Bereich in Europa war es offensichtlich, dass das 1990 vereinbarte Konzept des konventionellen Gleichgewichts zwischen Nato- und früheren Warschauer-Pakt-Staaten obsolet wurde, sobald die Nato mit ihrer Osterweiterung begann.

Ein Gleichgewicht kann dann weder geografisch noch numerisch aufrechterhalten werden, wenn die Vertragsstaaten der einen Seite der anderen Gruppe beitreten. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) musste also angepasst werden, wenn die Sicherheitskooperation erhalten werden sollte.

Das haben alle OSZE-Staaten einschließlich der Nato-Partner akzeptiert. In der Nato-Russland-Grundakte von 1997 haben sie sich verpflichtet, den KSE-Vertrag anzupassen. Er galt als "Eckpfeiler der europäischen Sicherheit". Nun ging es darum, potentielle Stationierungsräume zu begrenzen, die näher an den russischen Grenzen lagen.

Tatsächlich wurde 1999 ein Anpassungsabkommen vereinbart. Der US-Präsident George W. Bush hat aber seine Ratifikation im Bündnis blockiert. Er begründete dies mit Lokalkonflikten und russischen Abzugsverpflichtungen in Georgien und Moldau, die allerdings keine strategischen Auswirkungen hatten. Dafür einen strategisch wichtigen Vertrag und die Sicherheitskooperation auf Spiel zu setzen, war mehr als kurzsichtig.

Bush wollte die Voraussetzungen schaffen, um die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen. Die Blockade des KSE-Anpassungsabkommens war übrigens nicht im deutschen Interesse. Deutschland blieb immer bemüht, die Rüstungskontrolle zu erhalten, trotz der Konflikte mit den USA. Es ist nicht gelungen. Deutschland blieb im Geleitzug der Nato, in der die USA und die "neuen Europäer" den Ton angaben.

Die Ursprünge der Brüche

Berlin wollte nach dem Irak-Krieg keine weitere Spaltung der Nato. Auch beim Nato-Gipfel in Bukarest 2008 war die Lage gespannt. Die USA und osteuropäische Verbündete positionierten sich in der Frage des Nato-Beitritts der Ukraine und Georgiens und der Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen deutlich anders als Deutschland und Frankreich.

Sie hielten an der gesamteuropäischen Sicherheitskooperation im Sinne der OSZE-Dokumente fest, während die anderen bereits eine ganz andere geopolitische Agenda verfolgten, die wieder bipolar angelegt war: Entweder für uns oder gegen uns; für einen gemeinsamen OSZE-Sicherheitsraum blieb kein Raum mehr. Da liegen, glaube ich, die Ursprünge der Brüche, die erklären, warum und wie sich die Perzeption Russlands geändert hat.

Diese Deutungsmuster sind wichtig, um russische Handlungsmotive zu verstehen und für die Zukunft Wege zu einer Friedenslösung zu finden. So hilfreich solche Erklärungsversuche sind, einen Angriffskrieg können sie nicht rechtfertigen. Denn jeder Krieg bedeutet das Überschreiten einer roten Linie und ist mit ungeheuren Opfern und Zerstörung verbunden.

In Kürze erscheint der dritte und letzte Teil des Interviews.

Oberst a. D. Wolfgang Richter ist seit 2009 bei der Stiftung Wissenschaft und Politik wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Forschungsfelder: europäische Rüstungskontrolle; OSZE-Sicherheitskooperation und ungelöste Konflikte im OSZE-Raum.

Von 2005 bis 2009 war er bei der OSZE Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland.