US-Mittelstreckenraketen in Deutschland: Scholz' Alleingang spaltet die Partei
Stationierung von US-Raketen in Deutschland entzweit SPD. Scholz unter Beschuss aus eigenen Reihen. Zwei Studien zeigen die tiefen Risse.
Die geplante Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026 sorgt nicht nur in Fachkreisen für erhebliche Diskussionen. Auch in der SPD ist der von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete Schritt umstritten: Nach Informationen, die Telepolis vorliegen, hat sich in der Frage auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich intern gegen Scholz gestellt. Im Mittelpunkt des Konfliktes: zwei Studien zur Raketenstationierung – und ein brisantes Detail.
Am 10. Juli 2024 hatten die USA und Deutschland am Rande des Nato-Gipfels in Washington bekanntgegeben, dass ab dem Jahr 2026 US-amerikanische landgestützte Raketen mittlerer Reichweite in Deutschland stationiert werden sollen. Die Mitteilung hatte viele Beobachter überrascht und Scholz‘ Genossen brüskiert.
Dazu trug auch die knappe Kommunikation des Kanzlers bei. Der Regierungschef ließ die geplante Stationierung schriftlich verkünden und lobte sodann die "sehr gute Entscheidung". Deutschland müsse "einen eigenen Schutz haben mit Abschreckung", befand er: Dafür seien die US-Raketen notwendig.
"Gewichtig und richtig" seien die Waffensysteme, echote gut eine Woche später die Stiftung Wissenschaft und Politik. Ton und Inhalt der Kurzanalyse eines deutsch-französischen Autorenduos entsprach dem Duktus der Erklärungen aus Washington und Berlin.
Bei den Sozialdemokraten im Bundestag sorgte das für Unmut, zumal die SWP fast ausschließlich vom SPD-geführten Bundeskanzleramt finanziert wird. Aus seiner Sicht "nicht sehr tiefgründig" sei das SWP-Papier, kritisierte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich in einer Mail, die er auch führenden Fraktionsgenossen schrieb und die Telepolis vorliegt.
Mützenich warb darin auch für ein sehr viel längeres Papier des Sicherheitsexperten und Oberst a.D. Wolfgang Richter. Von ihm hatte Telepolis unlängst eine Analyse veröffentlicht, zudem äußerte sich Richter im Telepolis-Podcast zur geplanten Verlegung von US-Raketen nach Deutschland.
Seine schriftliche Analyse sei "eine exzellente Ausarbeitung und erörtert einige meiner Argumente, allerdings mit einer gewissenhaften Expertise", befand Mützenich. In der regierungsfinanzierten SWP sei Richter "in den letzten Jahren immer weniger geschätzt" gewesen, schließlich habe man ganz auf seine Mitarbeit verzichtet, fügte er an. Er empfahl der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung die Publikation von Richters Analyse. Die Stiftung kam der Bitte nach.
Dissens um US-Raketen
SWP gegen FES, SPD gegen SPD: Der Wettstreit der Analysen spiegelt eine Debatte wider, die offener und breiter geführt werden müsste. Telepolis hat die beiden Analysen daher verglichen.
Kritische Haltung der FES-Studie
Wolfgang Richter nimmt eine kritische Haltung gegenüber der geplanten Stationierung ein. Er warnt eindringlich vor erhöhten Risiken und sieht die Gefahr eines neuen Wettrüstens sowie einer Destabilisierung des strategischen Gleichgewichts in Europa.
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Der Oberst a.D. argumentiert, dass die bilaterale Entscheidung zwischen den USA und Deutschland ohne breiten Nato-Konsens getroffen wurde, was die Allianz potenziell spalten könnte. Zudem befürchtet er, dass künftige Rüstungskontrollvereinbarungen durch die Stationierung erheblich erschwert werden könnten.
Positive Einschätzung der SWP-Studie
Im Gegensatz dazu kommen Jonas Schneider und Torben Arnold von der SWP zu einer deutlich positiveren Einschätzung. Sie betrachten die Stationierung als notwendigen Schritt zur Verbesserung der Abschreckungsfähigkeit gegenüber Russland und zur Überwindung russischer A2/AD-Kapazitäten (Anti-Access/Area Denial).
Die Autoren argumentieren, dass die neuen Systeme – Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6 Raketen und der Hyperschall-Komplex LRHW "Dark Eagle" – wichtige Fähigkeitslücken der Nato schließen und die strategische Position des Bündnisses stärken würden.
Unterschiedliche Detailtiefe und Umfang
Die FES-Studie zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Detailtiefe und einen Umfang von über 45.000 Zeichen aus, während die SWP-Analyse mit etwa 15.000 Zeichen deutlich kompakter ausfällt, jedoch prägnant die Kernargumente für die Stationierung darlegt.
Bewertung der Risiken für Deutschland
Ein zentraler Unterschied zwischen den beiden Analysen liegt in der Bewertung der Risiken für Deutschland. Die FES-Studie befürchtet eine signifikante Erhöhung der Bedrohung für die Bundesrepublik und argumentiert, dass Deutschland durch die Stationierung zu einem vorrangigen Ziel für russische Raketenangriffe würde. Richter warnt vor einer grundlegenden Veränderung der strategischen Lage Deutschlands und einer Erhöhung des atomaren Risikos im Konfliktfall.
Die SWP-Autoren hingegen sehen keine wesentliche Verschärfung der ohnehin bestehenden Gefährdungslage. Sie argumentieren, dass Deutschland als logistische Drehscheibe der Nato bereits jetzt ein prioritäres Ziel für russische Mittelstreckenwaffen sei und die neuen US-Systeme diese Situation nicht grundlegend veränderten. Auch betonen sie, dass die Risiken für Deutschland moderat seien und gegen den realen Zugewinn an Abschreckungsfähigkeit abgewogen werden müssten.
Einschätzung möglicher russischer Reaktionen
In der Einschätzung möglicher russischer Reaktionen gehen die Meinungen ebenfalls auseinander. Die FES-Studie warnt vor einem neuen Wettrüsten und einer Verschärfung der Konfrontation zwischen Nato und Russland. Richter prognostiziert, dass Russland mit einer Gegenstationierung nuklearfähiger Raketen reagieren und die Raketenproduktion steigern werde.
Die SWP-Analyse betrachtet die russischen Möglichkeiten für eine umfassende Aufrüstung hingegen als begrenzt, nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Sanktionen und der bereits bestehenden Belastungen des russischen Rüstungssektors.
Die Autoren argumentieren, dass Russlands Fähigkeit, kurzfristig mit neuen Raketenprogrammen zu reagieren, begrenzt sei. Sie sehen die wahrscheinlichste russische Reaktion in verstärkter Propaganda und Desinformation.
Auswirkungen auf die strategische Stabilität
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die unterschiedliche Bewertung der Auswirkungen auf die strategische Stabilität. Die FES-Studie sieht in den neuen Systemen, insbesondere im Hyperschall-Komplex "LRHW", eine erhebliche Gefahr für die Krisenstabilität.
Richter argumentiert, dass die kurzen Flugzeiten der Hyperschallrakete und die Ungewissheit über die anvisierten Ziele in Krisensituationen zu voreiligen und möglicherweise katastrophalen Entscheidungen auf russischer Seite führen könnten.
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Die SWP-Studie hält diese Bedenken für übertrieben. Die Autoren argumentieren, dass die geplante Anzahl der Systeme zu gering sei, um eine ernsthafte Bedrohung für Russlands strategische Abschreckungsfähigkeit darzustellen. Sie betonen, dass Szenarien, in denen Russland aus Furcht vor einem möglichen US-Angriff einen Atomkrieg beginnt, unrealistisch seien.
Rüstungskontrolle
In der Frage der Rüstungskontrolle zeigen sich ebenfalls divergierende Ansichten. Die FES-Studie sieht in der Stationierung ein erhebliches Hindernis für künftige Rüstungskontrollvereinbarungen und warnt vor einer Erosion bestehender Verträge.
Richter kritisiert, dass die bilaterale Erklärung zur Stationierung keinen Spielraum für Diplomatie lasse. Er befürchtet, dass die Stationierung das Ende der Bemühungen um eine Nachfolgevereinbarung für den New-Start-Vertrag bedeuten könnte.
Die SWP-Autoren hingegen erkennen in der geplanten Stationierung sogar Potenzial für neue Rüstungskontrollinitiativen. Sie schlagen vor, die Stationierungspläne als Verhandlungshebel zu nutzen, um beispielsweise einen "INF-Vertrag light" auszuhandeln.
Globale Auswirkungen
Die FES-Studie rückt besonders die globalen Auswirkungen der Stationierungsentscheidung in den Vordergrund. Richter warnt davor, dass nach dem Auslaufdatum des New START-Vertrags zum ersten Mal seit den 1960er Jahren eine Situation eintreten könnte, in der keine rechtsverbindliche Vereinbarung einen globalen nuklearen Rüstungswettlauf verhindert. Diese Entwicklung könnte die Schleusen für einen unkontrollierten Stationierungswettlauf öffnen und zu einer globalen Krise führen.
Die SWP-Studie geht auf diese langfristigen globalen Implikationen nicht explizit ein. Ihr Fokus liegt stärker auf den unmittelbaren strategischen Vorteilen der Stationierung und der Annahme, dass die damit verbundenen Risiken kontrollierbar seien.
Befehlsgewalt über Waffensysteme
Ein bisher wenig beachteter Aspekt, den die FES-Studie hervorhebt, betrifft die Frage der Befehlsgewalt über die neuen Waffensysteme. Richter wirft die Frage auf, wie künftig die Entscheidungsgewalt über den Einsatz dieser konventionellen Langstreckenwaffen geregelt werden soll. Richter skizziert drei mögliche Szenarien: nationale Entscheidung der USA, deutsches Mitspracherecht oder Nato-Abstimmung. Er warnt vor den Konsequenzen einer rein US-amerikanischen Entscheidungsgewalt.
Die SWP-Studie geht auf diesen Aspekt nicht explizit ein, was möglicherweise auf unterschiedliche Schwerpunktsetzungen der beiden Forschungsinstitute hindeutet.
Ein Thema, zwei entgegengesetzte Analysen
Beide Studien kommen in nahezu allen wesentlichen Aspekten zu unterschiedlichen Einschätzungen. Während die FES-Studie die Risiken und potenziellen negativen Folgen der Stationierung in den Vordergrund stellt, betont die SWP-Studie die strategischen Vorteile und sieht die damit verbundenen Risiken als beherrschbar an.
Der Dissens hinter den Kulissen zeigt, wie wenig Rückhalt Bundeskanzler Scholz in dieser Frage in den eigenen Reihen hat. Dass die vom Kanzleramt finanzierte SWP zur Verteidigung des umstrittenen Regierungsbeschlusses in die Spur geschickt wird, nimmt ihr nicht nur Glaubwürdigkeit – es dürfte auch Kritiker bestärken.
Neben Linken hatten auch SPD-Abgeordnete mehr Auskünfte und Mitsprache gefordert – bislang ohne Erfolg. Stattdessen hatte die SWP Mitarbeiter wie die Sicherheitsexpertin Claudia Major in prominenten öffentlich-rechtlichen Formaten auftreten lassen, um den Regierungsbeschluss mit Verve zu verteidigen – etwa beim NDR und dem ZDF.
Redaktionelle Mitarbeit: Lars Lange