Ukraine-Krieg: Die ukrainische Verteidigung unter Druck
- Ukraine-Krieg: Die ukrainische Verteidigung unter Druck
- Probleme der ukrainischen Verteidigung
- Ausblick: Waffenlieferungen und Rüstungsindustrie
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Vieles kommt auf die Kämpfe um Awdijiwka an. Dort findet der Hauptstoß der russischen Offensive statt. Einwurf in die Debatte über Aussichten auf einen militärischen Erfolg der Ukraine.
Sie war die größte ihrer Art der Ukraine und unter den fünf größten Kokereien Europas zu finden: die Kokerei Avdiivka (AKHZ). Zwei Kilometer Ausdehnung von Norden nach Süden und gut ein Kilometer von Westen nach Osten – die AKHZ ist ein Industriekoloss.
Früher arbeiteten hier 4.000 Menschen, die Kokerei war ein wichtiger Zulieferer der ukrainischen Stahlindustrie, lieferte Koks zum Beispiel an das Azov-Stahlwerk in Mariopol, an ArcelorMittal Kryvyi Rih oder ans Eisen- und Stahlwerk Yenakiieve.
Jetzt ist die AKHZ das letzte Bollwerk der ukrainischen Streitkräfte, das noch den Fall der Festung Awdijiwka verhindern kann. Der Industrieriese ist der Eckpfeiler der bedrohten Stadt, massiv befestigt, untertunnelt, gespickt mit Bunkern.
Fällt die AKHZ, fällt Awdijiwka. Denn nur 200 Meter südlich der Kokerei verlässt die einzige, befestigte Straße – die O0542 –, die belagerte Stadt. Und befestigt, das muss eine Straße sein in der Schlammperiode, die jetzt begonnen hat. Starke Regenfälle machen unbefestigte Straßen nahezu unpassierbar.
Und damit ist die Stadt für den militärischen Nachschub auf die O0542 angewiesen. Sie ist die Nabelschnur der ukrainischen Verteidiger. Eine ausführliche Analyse des verbliebenen Straßennetzes nach Awdijiwka findet sich in diesem X-Thread.
Hauptschwerpunkt der russischen Herbstoffensive
Die AKHZ-Kokerei liegt nördlich der Stadt Awdijiwka, 2,5 Kilometer Luftlinie vom Bahnhof entfernt. Die russische Armee hat sich auf der jenseits des Bahndamms gelegenen Schlackehalde der AKHZ festgesetzt.
Zusätzlich kontrolliert sie jetzt noch vier Kilometer des Bahndamms nördlich der AKHZ und einen unmittelbar am nördlichen Teil des Werkes gelegenen Abschnitt – hier liegen nur 300 Meter zwischen Werk und Bahndamm, zwischen ukrainischen Verteidigern und russischen Angreifern.
Ausgerechnet Awdijiwka. Die russische Führung will es anscheinend wissen. Seit Anfang Oktober tobt die russische Herbstoffensive, und der Hauptschwerpunkt ist ausgerechnet die Kleinstadt nördlich von Donezk. Sie ist die stärkste Festung der Ukrainer, der Schlüssel zur Eroberung der Oblast Donezk, ein erklärtes Kriegsziel der russischen Regierung.
Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)
Wenn dies gelingt, dann sendet das eine fatale Botschaft an die Ukraine: Nicht nur war die ukrainische Gegenoffensive ein katastrophaler Fehlschlag, bei der keinerlei taktischen Erfolge vermeldet werden konnten und zusätzlich die westlichen, schwer zu ersetzenden Waffensysteme dezimiert worden sind.
Sondern Russland ist womöglich in der Lage, die stärkste Festung in der ganzen Ukraine einzunehmen – und das, obwohl die Ukraine sich in der militärisch günstigeren Verteidigung befindet.
Schwere Verluste der russischen Armee
Die russische Armee hat schwere Verluste erlitten, sogar von den schwersten Verlusten seit Anfang des Jahres sprechen ukrainische Quellen. Das erscheint plausibel, ist es doch der massivste Vorstoß der russischen Armee seit Beginn dieses Jahres.
Hunderte gepanzerte Fahrzeuge bot die russische Seite auf, Hunderte Panzerfahrzeuge sind offensichtlich zerstört oder außer Gefecht gesetzt worden.
Doch anders als die ukrainische hat die russische Armee bei hohen Verlusten zuletzt taktische Erfolge erzielt: Während das ukrainische Militär in der lang ersehnten Frühlingsoffensive lediglich Felder und kleine Dörfer erobern konnte und an keiner Stelle in der Lage war, auch nur die erste der drei Verteidigungslinien zu durchbrechen, rücken russische Streitkräfte gefährlich nahe an die Nachschublinie von Awdijiwka heran.
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Dabei hat die russische Führung vermutlich nicht das Ziel, den Kessel von Awdijiwka ganz zu schließen. Obwohl auch Truppen von Süden kommend langsam auf die einzige, befestigte Straße (O0542) vorstoßen – hier konnten russische Einheiten nördlich von Opytne vorrücken – braucht es keine totale Umfassung der Stadt, um diese mit der Zeit einnehmen zu können.
Denn es reicht aus, fortwährend den in die Stadt kommenden Nachschub zu dezimieren, und zwar aus gut zu verteidigenden Stellungen heraus.
Vorteile aufseiten der russischen Armee
Das hat für die angreifende, russische Seite zwei Vorteile:
1. Bei einem geschlossenen Kessel sind die Umschließungskräfte, die den Kessel zumachen, von zwei Seiten den Angriffen der Verteidiger ausgesetzt, einmal aus dem Inneren des Kessels, also dem dann abgeschnittenen Teil, und von außerhalb des Kessels in Form von Entsatzangriffen. Dadurch ist das Risiko, durch den Verteidiger von zwei Seiten aufgerieben zu werden, für die belagernde Partei hoch.
2. Die Ukraine wird vermutlich ständig Kräfte und Material nachführen, um den Halbkessel zu halten. Dieser Nachschub kann aus besser zu verteidigenden Stellungen leicht eingesehen und ausgedünnt werden – so verlieren die ukrainischen Streitkräfte womöglich im Endeffekt mehr Material als bei einem geschlossenen Kessel, denn der Verteidiger erleidet kontinuierlich einen erheblichen Verlust der zugeführten Versorgung.
Die größte Gefahr für den Nachschub über die einzig verbliebene Straße O0542 wäre die ATGM (Anti Tank Guided Missle), eine Weiterentwicklung der Panzerfaust. Wie die Panzerfaust wird die ATGM oft schultergestützt aus einem Starterrohr verschossen.
Die amerikanische Variante der ATGM, die Javelin, ist besonders zu Beginn der russischen Invasion zu einiger Bekanntheit gelangt, konnte sie doch die angreifenden, russischen Panzerkolonnen erheblich dezimieren.
Das russische Pendant heißt Kornet und verfügt über ähnliche Eigenschaften. Anders als die Javelin ist das russische Gegenstück aber schwerer und wird von einer Dreibein-Lafette aus gestartet. Dafür hat die Kornet aber eine erheblich höhere Reichweite von bis zu zehn Kilometern, während die Javelin höchstens vier Kilometer erreicht.
Daher ist das Ziel der russischen Streitkräfte, mindestens an einer Stelle nahe genug an die befestigte Straße O0542 heranzurücken, um den Einsatz von Kornet-Raketen oder anderen Panzerabwehrlenkwaffen (ATGMs) zu ermöglichen.
Gleichzeitig werden die russischen Streitkräfte versuchen, in die Stadt selbst vorzudringen und den Druck auf den Kessel zu erhöhen. Das geschieht mithilfe der überlegenen Artillerie der russischen Streitkräfte.
Es gibt Berichte, wonach Russland wieder bis zu 30.000 schwere Artillerie-Granaten verschießt – ukrainische Quellen sprechen sogar von bis zu 60.000 Granaten pro Tag.
Nachschub von Munition
Möglich macht das nicht nur die gesteigerte, heimische Munitions-Produktion, die westliche Beobachter auf 2,5 Millionen Granaten des Kallibers 152mm schätzen. Erste Munitions-Lieferungen aus Nordkorea scheinen in Avdijiwka angekommen zu sein, Quellen sprechen von bis zu zehn Millionen Granaten, die Nordkorea geliefert haben könnten.
Nordkorea besitzt zahlenmäßig die zweitgrößten Artilleriekräfte der Welt mit wahrscheinlich riesigen Munitionsvorräten. Die nordkoreanische Wehrtechnik basiert auf russischen Entwürfen und ist somit kompatibel zu den russischen Streitkräften.
Ab jetzt werden wir vermutlich keine massenhaften Durchbruchsversuche mit gepanzerten Fahrzeugen seitens der russischen Armee sehen wie noch zu Beginn der Offensive. Dienten die russischen Panzervorstöße mit Hunderten von Panzern anfangs dazu, die ukrainischen Stellungen zu stürmen und Infanterie möglichst nahe an das Hauptziel, die Schlackehalde und an die Kokerei zu bekommen, wird die russische Panzerwaffe jetzt vermutlich vorwiegend zur Feuerunterstützung eingesetzt, um ukrainische Stellungen mit präzisem Feuer zu bekämpfen.
Hohe Verluste hat Russland augenscheinlich einkalkuliert, um dieses taktische Ziel zu erreichen. Auch bei dem kommenden Versuch, in der riesigen Kokerei Fuß zu fassen, wird die zahlenmäßig weit überlegene, russische Artillerie zum Einsatz kommen, um die gegnerischen Stellungen auszudünnen.
Im Süden von Awdijiwka könnte sich die Situation anders gestalten. Hier könnten die russischen Streitkräfte versuchen, mithilfe von Panzern näher an die Straße O0542 heranzurücken.
Anders als in Bachmut hat sich die russische Führung also entschieden, die stärkste und wichtigste Bastion von Awdijiwka, gleich zu Beginn einnehmen zu wollen. Mit einer möglichen Einnahme der AKHZ-Kokerei müssten sich die ukrainischen Streitkräfte gänzlich aus der Stadt zurückziehen, Awdijiwka wäre auf Dauer aufgrund stetiger Attacken auf den einzigen Nachschubweg nicht zu halten.