Ukraine-Krieg: Mehr Waffen aus dem Westen
Reaktionen auf die "Hölle von Butscha": Deutschland überprüft die Lieferung moderner Waffensysteme, die USA verstärken Lieferungen
Die Toten von Buča (in deutschen Berichten meist mit "Butscha" transkribiert, fälschlicherweise, wie Experten meinen) haben die Diskussion darüber verändert, wie westliche Länder die Ukraine unterstützen wollen.
Zauderte die deutsche Regierung bislang bei den Waffenlieferungen an das von der russischen Armee überfallene Land, so gibt es angesichts einer schockierten, entsetzten und enragierten Öffentlichkeit nun neue Überlegungen. "Wir werden unsere Unterstützung für die Verteidigung der Ukraine noch einmal verstärken", kündigte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Zusammenhang mit den Kriegsgräuel in Butscha an.
Wir schauen uns daher jetzt auch Systeme an, die wir bisher nicht geliefert haben.
Annalena Baerbock
Welche Systeme dafür infrage kommen, konkretisierte die Ministerin nicht. Sie teilte mit, dass man darüber spreche, "ob technische Probleme etwa bei der Lieferung und Nutzung von Waffensystemen nicht doch lösbar seien". Das lässt darauf schließen, dass es um technisch hochentwickelte Waffentechnik geht, für die es dafür ausgebildetes Personal braucht.
"Lehren aus dem Massaker ziehen"
Der ukrainische Botschafter, Andrij Melnyk, drängt. "Was wir heute brauchen, sind schwere Waffen", sagte er dem Deutschlandfunk. Bemerkenswert ist sein Zusatz, der von einer bloßen Verteidigung gegen den Angreifer abrückt: Man könne keine Gegenoffensive mit einer Panzerfaust starten.
Deutschland müsse Lehren aus dem Massaker von Butscha ziehen, fordert Melnyk. Dazu gehört für ihn auch eine Forcierung der Sanktionen. Endlich müssten die "scharfen Sanktionen eingeführt" werden, sagte er im Interview. Das Energieembargo müsse endlich verhängt werden und alle Banken in Russland müssten von Swift ausgeschlossen werden.
Bislang stellt sich die deutsche Regierung gegen ein Embargo, das Gaslieferungen aus Russland einschließt. Das würde die deutsche Wirtschaft, insbesondere die Wertschöpfungsketten schwer treffen, wie Stimmen aus den Unternehmensvorständen, alarmiert von solchen Aufrufen zum großen Boykott, vergangene Woche den Medien gegenüber äußerten (Stopp für Erdgas aus Russland: Industrievertreter warnen vor massiven, irreparablen Schäden).
Deutschland könne der Ukraine nur dann gut helfen, wenn es selbst die wirtschaftliche Substanz dazu habe und nicht mit starken Schädigungen zu kämpfen habe, erklärte Wirtschaftsminister Habeck letzte Woche in der Talkshow "Lanz". Auch Außenministerin Baerbock und Kanzler Scholz halten diese Position. Allerdings dürfte der Druck auf diese Haltung im gegenwärtigen Klima wachsen.
Habeck hat gestern verfügt, dass das bisherige Geschäft der Gazprom Germania im Gashandel und beim Betrieb von Erdgasspeichern in die Hände der Bundesnetzagentur übergeht. Die Bundesnetzagentur agiere nun als Treuhänderin für die Gazprom Germania. Das ist ein ungewöhnlicher "pro-aktiver" Schritt, der Forderungen nach mehr Action gegen Russlands Gasgeschäfte zunächst beschwichtigen könnte.
Entsetzte Öffentlichkeit
Die Reaktionen in den Medien auf die grausigen Entdeckungen in Butscha fielen sehr heftig aus. Erneut waren Kommentare zu lesen, die das "Tabu" für ein militärisches Eingreifen der Nato aussetzen wollen.
Während man hierzulande Putin also genügend Zeit gibt, um sich auf die nächsten Sanktionen vorzubereiten und man sich darüber streitet, ob es denn nun verkraft- und vertretbar wäre, ein Öl- und Gasembargo gegen Russland umzusetzen, wird ein Aspekt ausgespart. Es kann kein Tabu mehr sein, über ein militärisches Eingreifen der Nato nachzudenken. Nicht als Angriff auf Russland, sondern als Verteidigung der Ukraine und der Freiheit, für die sie steht.
Die Welt
Das nordatlantische Bündnis verstärkt indessen weiter seine Ostflanke, wie der Spiegel berichtet: "Vier neue multinationale Gefechtsverbände in den Ländern Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien haben die erste Stufe der Einsatzbereitschaft erreicht."
"Auch die moralische Zwangslage des Westens wird härter und lässt sich allein durch neue Sanktionen nicht lösen", kommentierte gestern Stefan Kornelius in der SZ.
Dies ist ein enthemmter, totaler Krieg eines totalitären Regimes (in Russland, Einf. d. A.). Wer das immer noch nicht wahrhaben will, muss nach Butscha schauen.
Stefan Kornelius
USA: "So schnell wie möglich mehr Waffen an die Ukraine"
Die USA wollen mehr Waffen in die Ukraine liefern, "so schnell wie möglich", teilte gestern der Sprecher des Pentagon mit. Stinger- und Javelin-Raketen sowie Drohnen "und anderes Verteidigungsmaterial" sollen eilig in die Ukraine gebracht werden, meldete das US-Verteidigungsministerium.
Laut aktuellen Informationen von Bloomberg plant das Pentagon "die Bestellung und Lieferung von zehn Switchblade-Drohnen des neuesten Modells, die mit panzerbrechenden Sprengköpfen bewaffnet sind, (…) zusätzlich zu den bereits angekündigten Lieferungen einer weniger leistungsfähigen Version".
Es gehe um Switchblade-600-Fluggeräte, wie das Pentagon am bereits am Freitagabend ankündigte. Sie sollen direkt bei der Industrie in Auftrag gegeben werden, anstatt aus den vorhandenen Beständen zu schöpfen, so die Informationen des Mediums aus Pentagonkreisen.
Satellitenbilder und eine ausstehende Untersuchung
Die New York Times veröffentlichte heute Satellitenbilder, die dokumentieren, dass Leichen in Butscha schon länger ("more than three weeks ago") auf der Straße ("Yablonska Street") lagen. Das entkräftet das Argument, das vonseiten derjenigen vorgebracht wird, die fragten, wie das russische Militär für das Geschehen verantwortlich sein könnte, wenn die Einheiten doch schon längere Zeit aus Butscha abgezogen seien.
Der Bericht der US-Zeitung statuiert, dass aufgrund der Bilder nicht geklärt sei, wer für die Morde an Zivilisten verantwortlich ist: "Die Todesursachen sind unklar."
Da in der jüngsten Zeit viele Berichte über begangene Grausamkeiten russischer Soldaten in der westlichen Öffentlichkeit bekannt wurden, sieht sich die russische Führung, die einen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hat, einer erdrückenden Beweislast gegenüber. Eine gut dokumentierte, offizielle Antwort aus Moskau steht noch aus.
Ergänzung: Die USA sammeln Beweise für eine internationale Anklage gegen Russland und Präsident Putin wegen Kriegsverbrechen, meldete die Tagesschau gestern. Von ukrainischer Seite hieß es, dass man die Gräueltaten in Butscha schnell und unabhängig überprüfen und dokumentieren wolle.
Aus Russland kommen Vorwürfe, wonach Großbritannien, das derzeit den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehat, dem russischen Wunsch nach einer Sondersitzung zu Butscha nicht entsprochen habe. In der am Dienstagnachmittag laufenden Sitzung des Sicherheitsrats zur Ukraine (live hier) widersprach die britische UN-Botschafterin dem Vorwurf. Auf der Agenda wollte man offensichtlich die Gesamtsituation der Ukraine.
Eine unabhängige Ermittlung der Vorfälle wäre nötig. Von dieser Forderung hört man aber wenig. Außer von UN-Generalsekretär Guterres am 3. April und in der oben verlinkten UN-Sicherheitsratssitzung vom 5. April 2022.