Ukraine-Krieg: Viele Nato-Länder wollen die Wehrpflicht wieder einführen

Seite 2: Schweden und Finnen gehen voran

Das hat zur Folge, dass während die frühere Form der Wehrpflicht nur 4.000 junge Schweden aus einem potenziellen Pool von 400.000 pro Jahr einberief, nun diese Zahl seit Januar auf 100.000 ansteigen muss (und auch Frauen einschließt).

Die Einberufenen werden aufgefordert, eine staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen, sei es beim Militär oder möglicherweise bei den Rettungsdiensten. Es wird geschätzt, dass zehn Prozent der 100.000 Personen das nicht freiwillig tun werden.

Finnland, das andere nordische Land, das vor Kurzem der Nato beigetreten ist, kann nur schwerlich seine Wehrpflicht noch weiter ausdehnen. Das Land hat die Wehrpflicht seit dem Zweiten Weltkrieg beibehalten und zieht jedes Jahr 27.000 männliche Bürger ein (etwa 80 Prozent der verfügbaren Kohorte).

Was ist mit den Balten?

Die baltischen Staaten, die wie Finnland an Russland (bzw. an die Moskauer Exklave Kaliningrad) grenzen, haben ihre Einberufungspolitik in letzter Zeit ebenfalls verstärkt.

Lettland führte die Wehrpflicht im Januar dieses Jahres wieder ein, nachdem sie 2006 abgeschafft worden war. Litauen hat die Einberufung 2008 abgeschafft, führte sie aber 2016 nach dem ersten russischen Einmarsch in die Ukraine 2014 wieder ein.

Estland hat seit seiner Unabhängigkeit 1991 eigentlich immer eine Form der Wehrpflicht beibehalten, hat aber kürzlich den Kreis der Einberufungspflichtigen erweitert.

Wehrpflicht in der Ukraine ausgeweitet

Wie Großbritannien im Jahr 1914 gehen der Ukraine die Soldaten aus. Das Land hat bereits eine Wehrpflicht für 18- bis 26-Jährige, aber nur die über 27-Jährigen wurden tatsächlich zum Kriegsdienst herangezogen (obwohl auch viele Freiwillige unter 27 Jahren dienten).

Die Regierung von Wolodymyr Selenskyj ist sich darüber im Klaren, dass sich das ändern muss. Um die im Krieg verlorenen Soldaten zu ersetzen und die Fähigkeit zu bewahren, Truppen an der Front ein- und auszutauschen, braucht die Ukraine ein größeres Reservoir an militärischen Kräften. Die über 27-Jährigen und die Freiwilligen reichten nicht mehr aus.

Doch die Ausweitung des Personalbestands ist in der Ukraine ein heikles Thema, und wie immer ist eine solche Wehrpflicht nicht populär. Viele Ukrainer halten das System der Rekrutierung für ungerecht und von Korruption durchsetzt. Man hat das Gefühl, dass diejenigen, die kein Geld und keinen Einfluss haben, an der Front dienen müssen.

Dennoch hat die Situation in der Ukraine eine Veränderung erfordert. Im Dezember 2023 wurde im ukrainischen Parlament ein Gesetzentwurf zur Herabsetzung des Wehrdienstalters auf 25 Jahre eingebracht, der im Februar vom Parlament angenommen wurde. Selenskyj unterzeichnete das Gesetz schließlich am 2. April, obwohl er sich dagegen sträubte.

Großbritannien: Kommt die "Bürgerarmee"?

Die ablehnende Haltung gegenüber der Wehrpflicht ist auch in Großbritannien zu spüren. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten wurde die Wehrpflicht hier nie akzeptiert. Sie war schon immer sehr unpopulär. Doch nun beginnt man auch im Vereinigten Königreich, das "W-Wort" wieder erklingen zu lassen.

Im Januar rief der Chef der britischen Armee, General Sir Patrick Sanders, zu einer "nationalen Mobilisierung" auf. Er will eine "Bürgerarmee" schaffen, die als Ergänzung zur regulären Armee eingesetzt werden könnte.

Er benutzte nicht das Reizwort "Wehrpflicht", obwohl andere, darunter auch die britische Regierung, davon ausgingen, dass er genau das meinte.

Dementsprechend versuchten die Regierungssprecher schnell, jeden Verdacht zu zerstreuen, dass die Wehrpflicht auf der Tagesordnung steht. Denn die britische Regierung ist sich der negativen Besetzung des Wortes noch immer bewusst.

Sie weiß zwar, dass eine Art von nationalem Dienst notwendig ist, würde aber lieber eine Situation haben, in der man lediglich wie der britische Kriegsminister des Ersten Weltkriegs, Kitchener, um Freiwillige bitten müsse, als in die Lage versetzt zu werden, jemanden gegen seinen Willen zu irgendeiner Form des nationalen Dienstes zu zwingen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit The Conversation. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.