Ukraine, Geopolitik und Ethik: Ein Streitgespräch zwischen Nato-Kritikern

Bild: Sergey Galyonkin / CC BY-SA 2.0 Deed

Entdecken Sie im Buch von Michael Haller und Hans-Peter Waldrich eine Debatte über den Ukraine-Krieg, die die tiefen Spaltungen unserer Gesellschaft widerspiegelt.

Der Klappentext verspricht ein "Streitgespräch zwischen zwei Nato-Kritikern, die sich seit Kindheitstagen kennen". In "Schuld, Verantwortung und Solidarität: Eine Kontroverse über Russland, Deutschland und die Nato im Ukrainekrieg" (Herbert von Halem, 2023) versuchen Michael Haller und Hans-Peter Waldrich das schier Unmögliche: Einen Dialog zwischen den scheinbar unversöhnlichen Antipoden in der Ukraine-Debatte. Dialektik im besten Sinne also.

Ukraine-Konflikt: Dialektik zwischen Freunden

Die verspricht auch das Martin-Walser-Zitat, welches den Buchrücken ziert:

Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.

Geopolitik und Medien: Ein kontroverses Manifest

Ausgangspunkt des Streitgesprächs zwischen dem Medienwissenschaftler und Publizisten Haller und dem friedensaktivistischen Politologen Waldrich ist die Beteiligung des letzteren am "Manifest für Frieden" und dem "Aufstand für Frieden", die Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiiert hatten (Telepolis berichtete).

Verständigungsorientierte Kommunikation: Ein neuer Weg?

Das Buch dokumentiert in vier Kapiteln eine schriftliche Korrespondenz zwischen den beiden Autoren im Zeitraum von März 2023 bis September 2023, die insgesamt 25 Briefe umfasst.

Mit Haller und Waldrich treffen nicht nur zwei Jugendfreunde aufeinander, sondern auch – wie es in der Einleitung heißt – zwei "mehrheitsfähige Meinungen", die bei der Frage nach der militärischen Unterstützung Kiews komplett über Kreuz liegen. Kein Wunder, dass die alten Freunde sich bei dem folgenden Schlagabtausch zeitweise auch "emotional angefasst" (Haller) gegenüberstehen.

Medienkritik im Zeitalter der Geopolitik

Neben vielen bekannten "Talking Points" der Ukraine-Frage und politischen Zeitdiagnosen von Jeffrey Sachs bis Timothy Garton Ash kommen die Debattanten auf ethische Grundsätze, auf Jürgen Habermas, Max Weber oder Hans Jonas zu sprechen.

Und finden von akademischen Fragestellungen schließlich wieder zurück zur Analyse einer deutschen Gesellschaft auf dem schmalen Grat zwischen Demokratie und Autoritarismus. Abschließend elaboriert Haller auch seine medienwissenschaftliche Perspektive in Bezug auf den Konflikt unter Freunden.

Die Absicht hinter ihrer Veröffentlichung erklären die Autoren gleich zu Beginn: Es sei ihnen darum zu tun, Spaltung und Vorurteile zu überwinden. Darum, nach den großen Kontroversen der Flüchtlings- und Corona-Krise wieder zu einer "verständigungsorientierten Kommunikation" zurückzufinden.

Obwohl die Briefe immer länger werden, die Fußnoten als Rüstzeug auf dem intellektuellen Schlachtfeld immer zahlreicher, sich der Ton zuweilen verschärft, winkt am Ende die Versöhnung – gleichsam als Auflösung der politologisch-babylonischen Sprachverwirrung.

Aber vielleicht winkt sie auch nur, um sich zu verabschieden?

Zwischen Realismus und Idealismus: Eine geopolitische Analyse

Michael Haller, der emeritierte Journalismus-Professor und Experte für Medienkompetenz, welcher bezeichnenderweise seine Dissertation über die soziologische Bedeutung von G.W.F. Hegels Philosophie verfasst hat, macht den Anfang.

Haller, der seinerzeit kein gutes Haar an der medialen Kommunikation "unter Unsicherheit" in der Corona-Krise ließ und später auch die Medienkritik des Duos Precht-Welzer öffentlich verteidigte, zweifelt aufgrund des "Aufstands für Frieden" seine Geistesverwandtschaft mit Waldrich an.

Denn die Friedensaktivisten in Berlin, so Haller, lieferten den Medien durch ihre anmaßende Haltung eine Steilvorlage für Bashing und einseitige Berichterstattung. Jenseits des Aufrufs zu Verhandlungen böten die Aktivisten keine gangbare "Lösung" an, gerierten sich aber, als ob sie diese gefunden hätten.

Ein paar Zeilen und Zwiespalte später wird Haller jene Haltung sogar als "realitätsentrückte Neunmalklugheit" bezeichnen und Vergleiche zur Appeasement-Politik gegenüber den Nationalsozialisten anstellen. "Nie wieder Krieg" deutet er als Parole einer deutschen Generation, die ihre "tiefsitzende[n] [kollektive] Schuldgefühle" zu bewältigen sucht und dabei den Blick für die realen Verhältnisse verliert.

Auch, wenn Haller auf den Einwurf seines Brieffreunds hin zugesteht, dass "unsere prowestlichen Medien" in den vergangenen Jahren den Kontext des Konflikts sowie die problematische Ostpolitik von Nato und USA durch "einseitigen Belehrungsjournalismus" verschleiert hätten, der Maidan "mit Dollars aus Washington mitfinanziert" wurde und "alle Seiten" den "geopolitisch und wirtschaftlich begehrlichen Großraum Ostukraine" ins Visier genommen hatten, stellt sich eine Schuldfrage für ihn nicht.

Denn dem Medienforscher geht es in erster Linie um das Delikt: Russland hat das Völkerrecht gebrochen. Und Haller verteidige eben das Gesetz, seine "Gültigkeit" – auch dann, wenn ihm historische Parallelen zum Einmarsch Russlands und die mangelnde "Geltung" jenes Gesetzes wohlbekannt sind.

So offenbare sich Wladimir Putin mit seinem "Präventivkrieg" als "findiger Lehrling" der USA, wo es darum gehe, geostrategische Interessen mit "Propaganda" zu verschleiern und von innenpolitischen Problemen abzulenken. Jene Probleme, die aus dem Abbau von Demokratie und Autoritarismus resultierten, den der Kreml-Chef vorantreibe – ebenso wie Selenskyjs Vorgänger Janukowitsch. Über Selenskyj selbst verliert Haller dagegen keine Worte.

Stattdessen folgt er den Mainstream-Medien und dem französischen Philosophen Michael Eltchaninoff darin, den "imperialistischen Machthunger Putins, seine Verachtung für die westeuropäische Kultur und seinen Hang zum faschistoiden Führerkult" zu verurteilen.

Hans-Peter Waldrich hingegen kritisiert derlei Darstellungen als vorgefertigte Meinungen, die in Politik und Journalismus kursierten und dort nicht sauber von der Berichterstattung getrennt würden. Politik und Medien, nicht die Friedensbewegung selbst, hätten von Beginn an jedwede Verhandlungsbemühung a priori als Diktatfrieden ausgeschlossen. Dabei habe man sich und die Vorgeschichte hinter einer vermeintlichen Einzigartigkeit des Ereignisses versteckt. Waldrich meint dagegen: "Im außenpolitischen Konzert ist Schuld stets nur verteilt aufzufinden". Und wagt die Vermutung:

Nicht das Ende des Kriegs, so scheint es mir, steht für den Westen daher auf der Tagesordnung, sondern implizit die Durchsetzung von Interessen, die im Hintergrund bereits lange schon eine Rolle spielten und nun – da der Krieg nun einmal da ist – konsequent weiterverfolgt werden

Damit sind die Grundannahmen hinter der spannenden Debatte vorgestellt, die sich im folgenden entfaltet.

Frieden schaffen – mit oder ohne Waffen? "Verantwortung" und "Solidarität"

Verantwortung in Bezug auf die Ukraine, so führt Friedensaktivist Waldrich später aus, erschöpfe sich in Bezug auf die Ukraine nicht allein in der Sanktion – oder: Vergeltung – des Völkerrechtsbruchs, sondern umfasse zugleich eine empfindliche Folgenabschätzung. Hier bringt Waldrich seine Furcht vor einem atomaren Vergeltungsschlag zur Sprache, der große Teile der folgenden Debatte beherrscht.

Der Politologe folgt dem pazifistischen Philosophen Olaf Müller in dessen Überzeugung, dass Krieg stets nur die letztmögliche Lösung eines Konfliktes darstelle – eine Lösung, deren Sinnhaftigkeit sich auch dann immer noch an dem höchsten kollektiven Gut zu bemessen habe, das sie ihrem Prinzip nach schützen soll: Menschenleben.

Eine gemeinschaftliche Lösung dagegen liege per se immer im kollektiven Interesse. Egal ob beim "nuklearen Holocaust" (der etwa auch den Vater der gesellschaftlichen Konditionierung B.F. Skinner entscheidend prägte) oder beim Klimawandel:

Treffend scheint mir [...], dass wir als "Krankheit" bezeichnet werden, denn genau das ist die Sachlage: Verhalten, das ausschließlich negativ auf unser Glück und unsere Lebensfähigkeit wirkt, muss wohl krankhaft sein. Eine Spezies, die die Ökosphäre zerstört oder deren totale Destruktion in ihre militärischen Planungen aufnimmt, könnte als eine Ansammlung von Schädlingen bezeichnet werden.

Hier wiederum hält Haller dagegen: Verantwortung für seine Taten übernehme man auch dann, wenn man sich entscheide, Hilfeleistungen zu unterlassen.

Die Friedensbewegten […] möchten keinen Stress; doch in ihrer ins Apokalyptische gesteigerten Angst sind sie willens, die Maximen des Menschenrechts schlicht zu vergessen.

Und dieses Menschenrecht, so Haller, würde im Fall der Ukraine letztlich mit solidarischen Waffenlieferungen besser geschützt als nur mit Worten:

Du siehst daran, lieber Hans-Peter, dass ich über die Ukraine-Waffenlieferpolitik der Nato-Staaten vermutlich genauso empört bin wie Du, freilich aus entgegengesetzten Gründen: Statt den Krieg zu einem vielleicht brutalen, aber raschen Ende geführt zu haben, lässt man Hunderttausende im Osten der Ukraine verbluten.

Schließlich wirft der Medienwissenschaftler seinem Freund vor, die Ereignisse in der Ukraine mit dem Begriff "Konflikt" zu verharmlosen. Haller, der während der Corona-Pandemie aufgrund seiner Äußerungen selbst potenzielles Opfer des inflationär gebrauchten Begriffs der "Verharmlosung" war.

Und damit wären wir bei der Rolle der Medien.

Medien im Krieg: Objektivität versus Perspektive

Im vierten und letzten Teil des Buches widmen sich die beiden Autoren der Fragestellung: "Medien im Krieg – wie informieren wir uns?". Er beginnt mit Michael Hallers erkenntnistheoretischer Medienanalyse zur Frage der Objektivität, dem Spektrum zwischen naivem Realismus einerseits und dem Konstruktivismus andererseits, der eine "prinzipielle Unerkennbarkeit der Welt" konstatiere.

Hier zeigt sich Haller jedoch einmal mehr als Pragmatiker, als Verteidiger von Gesetzen und Normen. Einen "verständigungsorientierte[n] öffentliche[n] Diskurs" fordert er nicht nur in der Debatte ein, sondern auch von den Medien, die mit den von Ihnen verbreiteten Informationen die Grundlage dafür liefern.

Im Hinblick auf die westliche Informations- und Kommunikationskultur, besonders aber die deutsche Medienlandschaft, diagnostiziert Haller eine zunehmende "Medienskepsis" gegenüber etablierten Organen wie auch dem öffentlichen Rundfunk, die er mit statistischer, aber auch anekdotischer Evidenz untermauert:

Wenn ich in meinem Bekanntenkreis herumfrage, begegne ich weithin großer Medienskepsis: "viel zu regierungsnah" oder "die Öffentlich-Rechtlichen sind genauso grünrot wie die SPD und die Grünen." Oder auch: "Die fressen dem Regierungssprecher aus der Hand". Konservative Ansichten "kommen kaum zu Wort". Und auch dies: "Wer die Corona-Politik falsch findet, den diffamieren die Medien als Querdenker oder Schwurbler". Dasselbe höre ich auch in Bezug auf die Waffenlieferungen an die Ukraine. "Wer dagegen ist, den stempeln die Leitmedien als Putin-Versteher ab."

Diese Sorge um eine tendenziöse Berichterstattung anerkennend, formuliert Haller seinen – normativen – Ansatz für eine öffentliche Kommunikation nach "verständigungsorientierten" Maßstäben:

Die Medien müssten [...] dafür sorgen, dass Andersdenkende, dass Kritiker und Opponenten Gelegenheit erhalten, ihre Einwände öffentlich zu artikulieren. Denn wenn die Medienmacher sich nicht darum kümmern, verstummen die Andersdenkenden und die potentiellen Kritiker wandern ab in den virtuellen Dschungel ihrer Online-Bubbles, wo sie unter ihresgleichen sind und bleiben.

Einen weiteren Ausweg aus der – sozusagen – selbstverschuldeten Unmündigkeit, der sich die Rezipienten etablierter Medien auszusetzen drohen, sieht Haller in einer Stärkung der Medienkompetenz. Wie Waldrich auch, sucht er diese mit der Konsultation alternativer Medienangebote in Ergänzung zu den sogenannten Mainstream-Medien zu erreichen.

Dennoch zieht Haller eine klare Linie zwischen "politisch eigenwillige[n] Blogs" wie apolut und Plattformen für "Verschwörungsgläubige" wie KenFM – ungeachtet dessen, dass diese denselben Urheber haben.

Andererseits lässt er sich nicht von den binären Darstellungen gemäß dem links-rechts-Schema des Mainstreams und regierungsnaher Organisationen wie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) beeindrucken, die Blogs wie die Achse des Guten gleichsam als Einstiegsdroge zum Rechtsextremismus zu kennzeichnen versuchen. Haller dagegen vermag im Falle des Autors Fabian Nicolai dagegen sogar "linke Systemkritik" bei achgut.de zu erkennen.

Abschlussgedanken: Überwindung von Spaltung und Vorurteilen

Der Schlagabtausch kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Freunde noch immer wesentliche Grundüberzeugungen teilen. So heißt es am Ende des Buches:

"Über Freiheitsrechte, über soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe hatten wir nichts zu diskutieren"

Einigkeit besteht auch bei der Verurteilung des Neoliberalismus und der stetig voranschreitenden "Landnahme der Märkte". Die dokumentierte Korrespondenz macht sehr gut deutlich, dass eine solche "gemeinsame Wertsetzung" (Waldrich) keinesfalls weitreichenden Konsens garantiert – oder garantieren muss, wie ja auch deutlich werden soll.

Aus der Leser- beziehungsweise Vogelperspektive lässt sich am Beispiel von Haller und Waldrich sehr gut die Rolle der Medien dabei beobachten, ideelle Neigungen zu bedienen und schließlich auch Freunde auf entgegengesetzte Pfade zu führen. Haller – Pragmatiker, konservativer Verteidiger des Liberalismus gegen eine elitäre ("woke") Kultur und Materialist im Sinne einer notwendigen Änderung der Verhältnisse, sprich: Normen – trifft dabei auf den Idealisten Waldrich, der an die kollektive Vernunft appelliert, um anschließend die Verhältnisse ändern zu können.

Inwiefern den beiden Autoren eine dialektische Aufhebung dieser Gegensätze gelingt, mag der geneigte Leser allerdings selbst beurteilen.

Michael Haller / Hans-Peter Waldrich
Schuld, Verantwortung und Solidarität: Eine Kontroverse über Russland, Deutschland und die Nato im Ukrainekrieg
Herbert von Halem Verlag
282 Seiten / 21,– Euro
ISBN: 978-3869626925