Ukrainekrieg: Unerhörte Stimmen aus der Bundeswehr

Seite 2: Geopolitik und Propaganda

Wenn alle Seiten auf ihren Standpunkten beharren, steigen die Chancen, dass es einen großen Krieg gibt. Die Anzeichen dafür mehren sich. Moskau verlegt immer mehr Truppen an die ukrainische Grenze.

Bundeswehr-Professor August Pradetto, Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance

Politik-Professor August Pradetto lehrte an der Bundeswehr-Universität in Hamburg und schrieb diese Zeilen vor etwa zwei bis drei Wochen. Sein Text bleibt nicht bei der Andeutung, dass man die Schuld eines Krieges nicht allein bei Moskau suchen sollte. Schon nach der Sezession der Krim 2014 vertrat Pradetto eine Sichtweise, die wohl viele damals und noch mehr heute mit dem Unwort "Putinversteher" diffamieren würden.

Geopolitisch haben die USA und andere westliche Länder nach dem Ende des Kalten Krieges alles getan, um ihre Einflusssphären auszudehnen, und zwar keineswegs nur friedlich, etwa über die Erweiterung der EU, sondern auch mit einer globalen Ausweitung ihres Stützpunktsystems, der Entwicklung von Generationen hochmoderner Waffen und einer Reihe von völkerrechtswidrigen Kriegen, von Kosovo über den Irak bis Libyen (jedenfalls bei der Absetzung Gaddafis).

Kurzum: Der militärisch gestützte Regimewechsel ist seit 1995 zu einem Kennzeichen westlicher Außenpolitik geworden. Möglich war das nur aufgrund der großen wirtschaftlichen und militärischen Übermacht des Westens.

August Pradetto, Die Krim, die bösen Russen und der empörte Westen

Selbst Kissinger warnte Nato vor Ukraine-Aufnahme

Pradetto verweist auch noch im Kriegsjahr 2022 darauf, dass Washington sich beim Expansionsdrang in Osteuropa gegenüber mäßigenden Stimmen sogar der Realistischen Schule in der US-Politik taub stellte:

"Die meisten führenden Politiker und Theoretiker der Realistischen Schule gerade in den USA -von Henry Kissinger über Rovert McNamara, Samm Nunn, Paul Nitze, George F. Kennan bis John Mearsheimer- haben sich gegen eine Aufnahme der Ukraine in die Nato ausgesprochen. Maßgeblich bei der US-amerikanischen Nato-Erweiterungspolitik waren aber von Beginn der Administration unter George W. Bush an jene neokonservativen Kräfte, die den hegemonialen Traum eines 'New American Century' verfolgten und bereits 2002 neben der möglichst schnellen Integration praktisch aller osteuropäischen Staaten auch die Ukraine ins Auge fassten."5

Ein Washingtoner Urgestein wie Henry Kissinger gilt nicht als Russenfreund, seine Ablehnung der Ukraine-Nato-Aufnahme kann daher kaum mit dem Unwort "Putinversteher" abgetan werden. Das Project New American Century (PNAC), so kann man ergänzen, hatte eine Remilitarisierung des Westens mit umstrittenen Mitteln gefordert und gilt als Sprachrohr des Militärisch-Industriellen Komplexes in der US-Administration. Pradetto beschreibt die Aktivitäten der USA in der Ukraine konkreter und enthüllt dabei Fakten, die man in unseren Medien selten finden konnte:6

Seit dem politischen Umbruch in der Ukraine 2014 unterhalten die USA Ausbildungsprogramme, trainieren das ukrainische Militär nach Nato-Standards und beliefern die Ukraine mit Waffen -ebenfalls gegen die Sicherheitsbedenken westeuropäischer Verbündeter. Diese Aktivitäten wurden im Jahr 2021 massiv verstärkt. Von Washington gelieferte panzerbrechende Lenkraketen werden mittlerweile an der Front gegen die Kräfte der beiden abtrünnigen "Volksrepubliken" eingesetzt. (…)

Dies alles ist keine Rechtfertigung für die russische Einmischung in ukrainische Angelegenheiten und schon gar nicht für eine russische Intervention. Im Ergebnis bewirkt die Politik der US-Administration aber eine Eskalation nicht nur mit politischen, sondern auch mit militärischen Mitteln.

August Pradetto

USA eskalierten Ukraine-Konflikt auch militärisch

Die USA eskalierten den Ukraine-Konflikt also bereits seit 2014 auch mit militärischen Mitteln. Das mag jene Kommentatoren schockieren, welche die Kriegsgründe derzeit vornehmlich "in Putins Kopf" suchen, in den "man nicht hineinschauen könne". Pradetto hatte schon 2017 auf das Eingreifen von US-Söldnern in der Ukraine und die Kooperation der Kiewer Regierung mit dem Rechten Sektor hingewiesen:7

Auf der anderen Seite hatte der deutsche Nachrichtendienst BND schon Anfang Mai 2014 gemeldet, dass 400 US-Söldner des Militärdienstleisters Academi (früher Blackwater) den Kampf der ukrainischen Armee gegen die Separatisten unterstützten (vgl. Spiegel Online 2014a) – was ohne Einverständnis Washingtons nicht möglich wäre. (…) Mitte August 2014 vereinbarte die ukrainische Regierung mit dem rechtsradikalen Rechten Sektor eine Zusammenarbeit, seine Legalisierung sowie die Freilassung von Mitgliedern, die wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen worden waren.

August Pradetto

Vor vier Jahren war man sich des Problems von Rechtsradikalen und Neo-Nazis in der Ukraine noch bewusst.

Doch zurück zum aktuellen Artikel Pradettos. Was die Haltung der Nato zur Ukraine angeht, kritisiert der Bundeswehr-Professor die USA, aber auch die ukrainische Führung, der er Naivität vorwirft:

"In Washington wird negiert, in welch katastrophale Lage man Europa bringt, wenn man auf dem vermeintlichen Recht beharrt, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Der größte Realitätsverlust ist Kiew zu bescheinigen. In einem Krieg mit Russland wird dem Land außer Solidaritätsbekundungen und Hilfspaketen wenig Unterstützung zuteil werden. Die Ukraine wird, wenn es hart auf hart kommt, allein dastehen."

Derzeit scheint es, als sollte August Pradetto damit Recht behalten, obwohl die geschnürten Hilfspakete immer mehr militärische Güter und Waffen erhalten. Der Bitte Kiews an London, die Royal Air Force sollte russische Kampfjets abschießen, wurde bislang nicht entsprochen, wohl aus Angst vor der Entfesselung eines Atomkrieges.

Offenbar sah Putin sich jedoch genötigt, den Westen noch einmal nachdrücklich an seine Atomstreitmacht zu erinnern, die für den Fall eines Nato-Angriffs auf russische Truppen bereitsteht. Das Gleichgewicht des Schreckens hat mit dem Ende des Kalten Krieges nicht aufgehört zu existieren. Die Situation der Ukraine erinnert an die Georgiens 2008, wie sie Oberst Wolfgang Richter beschrieb.

Doch nicht nur Kiew, auch EU und USA haben ihr Blatt überzogen, befürchtet August Pradetto, denn sie übersehen, dass ein Großteil der Welt ihre Expansion gegen die Grenzen Russlands nicht so wahrnimmt, wie unsere Westmedien sie uns darstellen:

Die USA und die Nato werden in einem solchen Fall, wie auch immer das Ergebnis letztlich aussieht, international ebenfalls verlieren… auch, weil kaum jemand in der Welt außerhalb der Nato versteht, dass die USA ihre Geostrategie so vorantreiben, dass es zu derartigen Konflikten kommt. Es ist ja keineswegs nur China, das sich an die Seite Moskaus stellt, sondern auch potentielle Verbündete wie Indien.

August Pradetto, Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance

Was erklären könnte, warum die in unseren Medien als vermeintlicher PR-Sieg gegen Moskau gefeierte UN-Resolution zur Verurteilung des (unzweifelhaft völkerrechtswidrigen) russischen Angriffs auf Kiew von fünf Staaten abgelehnt und von weiteren 35 Staaten mit Enthaltung quittiert wurde.

Im Sicherheitsrat hatten sich bereits mit China und Indien die volkreichsten Staaten einer Verurteilung Moskaus verweigert. Pradetto mahnt als politische Lösung abschließend eine Neutralität der Ukraine als einzig realistische Lösung an:8

"Was auch immer passiert, ob die Teilung der Ukraine andauert, der Westteil in die Nato kommt und ein Teil im Osten sich nach Russland orientiert, die Nato-Mitgliedschaft in der Schwebe und der Status quo aufrecht erhalten bleibt, ob russische Truppen weitere Gebiete besetzen oder gar ein Regimewechsel in Kiew inszeniert wird: Die Ukraine bliebe ein europäischer Konfliktfall und ein sicherheitspolitisches Risiko ersten Ranges an der Bruchstelle zwischen Nato und Russland. In einer neutralen oder blockfreien Position kann sie umgekehrt zu einem zentralen Baustein einer europäischen Friedensordnung werden…"

Nun wird diese Lösung erst am Ende eines blutigen Waffengangs möglich werden, nachdem viele Menschen sinnlos ihr Leben lassen mussten. Wie konnte es dazu kommen?

Rationale Strategen wurden hierzulande als "Putinversteher" diffamiert, Friedenspolitik zugunsten bellizistischer Propaganda links liegen gelassen. So lässt sich die scharfzüngige Ursachenanalyse des Historikers Bernd Greiner zusammenfassen, die abschließend dargestellt werden soll.