Ukrainekrieg: Unerhörte Stimmen aus der Bundeswehr

NATO-Ukraine-Kommission: Olha Stefanischyna, stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel bei einer Pressekonferenz über eine zu erwartende russische Invasion der Ukraine. Bild (10. Januar 2022): U.S. Nato-Botschafter/gemeinfrei

Warum hört niemand auf jene mahnenden Stimmen auch aus unseren Streitkräften, die den Krieg kommen sahen und jahrelang friedliche Lösungen vorschlugen?

Was auch immer passiert… ob russische Truppen weitere Gebiete besetzen oder gar ein Regimewechsel in Kiew inszeniert wird: Die Ukraine bliebe… ein sicherheitspolitisches Risiko ersten Ranges... In einer neutralen oder blockfreien Position kann sie umgekehrt zu einem zentralen Baustein einer europäischen Friedensordnung werden…

August Pradetto, Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance

Derzeit überbieten sich Politik und Medien in bellizistischer Empörung über den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Aber warum hört niemand auf jene mahnenden Stimmen auch aus unseren Streitkräften, die den Krieg kommen sahen und jahrelang friedliche Lösungen vorschlugen?

Die Märzausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik, einer traditionell kritischen Fachzeitschrift, widmet sich dem Thema "Krieg und Frieden: Der Ukraine-Konflikt", obwohl die Drucklegung in die Vorkriegszeit datiert.

Im Themenschwerpunkt kommen sechs Autoren zu Wort, von denen drei Russland kritisieren, drei weitere jedoch auch auf die Nato-Verantwortung für die Eskalation der Ukraine-Krise hinweisen. Online zugänglich ist leider nur der Beitrag von Sergej Lebedew, der Putin wenig originell in die sowjetischen Tradition des Autoritarismus stellt, während die Nato-kritischen Artikel hinter einer Paywall stecken.

Sie stammen vom sicherheitspolitischen Strategen, Oberst a. D., Wolfgang Richter1, vom Geopolitik-Experten und Bundeswehr-Professor August Pradetto sowie vom zivilen Professor Bernd Greiner, der beim Hamburger Institut für Sozialforschung (bekannt durch seine Wehrmachts-Ausstellung) für Theorie und Geschichte der Gewalt zuständig war.

Die wichtigsten Fakten und Thesen aus diesen drei Texten, die sowohl unerhört blieben, als auch im aktuellen Empörungsklima unerhört wirken, sollen hier in ausgewählten Originalzitaten kommentiert werden.

Oberst Wolfgang Richter: Von Kuba nach Kiew

Wolfgang Richter ist derzeit als Bundeswehr-Oberst a.D. bei der staatsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik tätig. Er war in Wien militärischer Leiter der deutschen Vertretung bei der OSZE und zuvor strategischer Planer in Bundeswehr und Verteidigungsministerium. Sein Beitrag spiegelt die unübersichtlichen Verhandlungen um die europäische Rüstungskontroll-, Friedens- und Sicherheitspolitik, wo Moskauer Sicherheitsinteressen offenbar wiederholt unberücksichtigt blieben.

Der wichtigste Satz des Textes von Richter betrifft den aktuellen Ukraine-Konflikt: "Moskau sieht sein Vorgehen wie das der USA in der Kuba-Krise von 1962 legitimiert, um strategische Sicherheitsinteressen zu schützen."2 Diese Moskauer Sicht wird durch Richters Darstellung der Vorgeschichte der Ukrainekrise plausibel gemacht.

Richter versäumt es leider, an den Ablauf der Kuba-Krise zu erinnern: Damals hatte US-Präsident Kennedy eine völkerrechtswidrige Seeblockade gegen Kuba verhängt und mit illegalen Angriffen auf sowjetische Schiffe gedroht. Washington hatte Angst bekommen, weil die Sowjets vorhatten, den USA mit atomaren Mittelstreckenwaffen auf die Pelle zu rücken - als Antwort auf die entsprechende Stationierung von US-Raketen in der Türkei. Man einigte sich, Kuba und die Türkei atomwaffenfrei zu halten, nachdem Moskau eingelenkt hatte, bevor es zu Kampfhandlungen kam.

Oberst a.D. Richter präsentiert viele Argumente, warum man es im Ukraine-Konflikt ebenso hätte machen sollen wie 1962 in der Kubakrise, d.h. beiderseitig auf Sicherheitsbedürfnisse einzugehen. Sein historischer Rückblick beginnt mit der KSZE-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (ab 1995 OSZE), in der sich Nato, Warschauerpakt und blockfreie Europäer 1975 noch einmal auf das UN-Völkerrecht verpflichteten, insbesondere auf Nichteinmischung in innere Angelegenheiten souveräner Staaten, auf Gewaltverzicht, auf Unverletzlichkeit der Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Nato brach Verpflichtung auf Sicherheitspartnerschaft

Nach Ende des Kalten Krieges verpflichteten sich 1990 die KSZE-Staaten in der Charta von Paris auf eine "Sicherheitspartnerschaft" sowie die Nato- und Warschauer-Pakt-Staaten auf den KSE-Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, der Abrüstung und ein militärisches Gleichgewicht vorsah:

"Bis 1996 wurden fast 60.000 Großwaffensysteme abgebaut. Damit waren die Reduzierungsverpflichtungen bereits weitgehend erfüllt. Die Hauptlast trug dabei wiederum Russland, gefolgt von Deutschland."3

Doch dann stiegen die USA aus einer zentralen Säule der strategischen Sicherheitsarchitektur aus. Der frühere Bundeswehr-Oberst macht die Kündigung des ABM-Vertrags durch die Regierung von US-Präsident Bush als Verletzung der russischen Sicherheitsinteressen deutlich (und damit implizit den Bruch der Verpflichtung auf Sicherheitspartnerschaft durch die Nato):

Den Austritt der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) 2002 wertete Moskau als Gefahr für die strategische Stabilität. Sie verschärfte sich, als die USA mit Polen und Tschechien bilateral vereinbarten, dort Raketenabwehrsysteme zu stationieren. Washingtons Begründung, der iranischen Bedrohung begegnen zu müssen, zog Moskau in Zweifel. Den Angriff der USA gegen den Irak 2003 kritisierte Moskau als Völkerrechtsbruch.

Wolfgang Richter, Im Spannungsfeld von Nato und Russland

Dass in Washingtons "Koalition der Willigen" osteuropäische Staaten diesen Angriffskrieg gegen den Irak unterstützten, verschärfte den Ost-West-Konflikt weiter. Wenig später zerbrach die europäische Sicherheitsordnung und es kam zum Krieg.

Jugoslawien- und Georgien-Krieg

Schon 1999 hatte Moskau den Krieg der Nato gegen Serbien als illegalen Angriffskrieg gebrandmarkt. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 kritisierte Präsident Putin diese Entwicklung als Bruch der Vereinbarungen von 1997 und 1999 und unterstellte den USA, sie betreibe Geopolitik zum Nachteil Russlands. Ende 2007 suspendierte er den KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichtskonzept obsolet geworden war.

Wolfgang Richter, Im Spannungsfeld von Nato und Russland

Richter diskutiert die damaligen Nato-Rechtfertigungen für ihren völkerrechtswidrigen "Kosovo-Krieg" nicht, stellt aber klar, dass der Westen mit dem Überfall auf Jugoslawien und der Bombardierung Belgrads die KSZE-Verträge zuerst gebrochen hat:

"Als westliche Staaten die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos anerkannten, wurden erstmals seit der Charta von Paris Grenzen in Europa nach vorheriger Gewaltanwendung und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates verändert... Moskau reagierte, indem es seine Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufwertete. Deren politischer Status wurde seit den Kriegen 1990 bis 1994 unter Leitung der UN und der OSZE verhandelt."

Im April 2008 forcierte Washington die Nato-Ostexpansion weiter, drängte auf einen Nato-Beitritt von Georgien und der Ukraine: "Mit Unterstützung osteuropäischer Staaten wollte US-Präsident George W. Bush dieses Ziel zügig erreichen, aber Deutschland und Frankreich verhinderten einen konkreten Beitrittsplan."

Die georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien hatten sich 1991 bzw. 1992 für unabhängig erklärt. Der Georgien-Krieg von 2008 wird derzeit in den Medien oft falsch dargestellt: "Georgien fürchtet Opfer einer weiteren russischen Invasion zu werden. Schon 2008 sind russische Truppen nach Georgien eingedrungen und haben sich 20 Prozent des georgischen Territoriums einverleibt." (arte-Journal, 7.3.22)

Diese arte-Version widerspricht dem Abschlussbericht, den die vom Europäischen Rat eingesetzte "Unabhängige Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien" 2009 vorgelegt hatte, die den Angriff Georgiens auf Südossetien als Kriegsauslöser feststellte. Anzeichen für eine damals von Präsident Saakaschwili behauptete russische Invasion konnte man nicht finden.

Ebenso sieht es der Bundeswehr-Stratege Richter und verweist sogar auf eine direkte Verantwortung des Nato-Staates USA: Die Bush-Administration hatte den georgischen Präsidenten Saakaschwili "ermutigt", so OSZE-Experte Oberst Richter, im August 2008 die von UN bzw. OSZE legitimierten russischen Friedenstruppen anzugreifen:

Der russische Gegenschlag vertrieb die georgische Armee… Dass Moskau nach dem Waffenstillstand die beiden abtrünnigen Regionen als "Staaten" anerkannte, wertete der Westen als illegale Änderung von Grenzen durch Gewalt und als Verletzung der Souveränität Georgiens. Mit Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim und seiner Unterstützung der Rebellen im Donbas erreichte die Erosion der europäischen Sicherheitsordnung ihren Kulminationspunkt.

Wolfgang Richter

Krieg durch erodierte Sicherheitsordnung

Wenn eine Sicherheitsordnung erodiert, wird Krieg möglich, wie jetzt in der Ukraine. Die Darstellung Richters ist eine Antwort auf die derzeit oft gestellte Frage: "Was will Putin?" und korrigiert die mediale Darstellung Putins als eines russischen Präsidenten, der hauptsächlich aus gekränktem Stolz über den Zerfall der Sowjetunion handelt.

Den Expansionsdrang, der oft Putin unterstellt wird, zeichnet Wolfgang Richter eher auf Seite der Nato nach. Der frühere Bundeswehr-Oberst Richter betont legitime Sicherheitsinteressen Moskaus, die immer wieder vor allem von den USA ignoriert wurden. Seinen Artikel begann er mit den, rückblickend als letzte Chance für den Frieden erkennbaren, Verhandlungsangeboten Moskaus:

"Am 17.Dezember vergangenen Jahres hat Moskau mit zwei Vertragsentwürfen verdeutlicht, worum es ihm geht, nämlich eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten zu verhindern und dafür verbindliche Zusicherungen zu erhalten. Dabei beruft er sich auf die Nato-Russland-Vereinbarungen der 1990er Jahre… (…) Die Vorschläge wurden im Januar 2022 sowohl bilateral mit den USA in Genf als auch multilateral im Nato-Russland-Rat und in der OSZE diskutiert. Der Westen wies russische Forderungen nach einem Ende der Nato-Erweiterung zurück und verlangte, Moskau solle seine Truppen von den Grenzen zur Ukraine abziehen."

Moskau bezog sich dabei auf "...mündliche Äußerungen des amerikanischen Außenministers James Baker und des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher von 1990, laut denen die Nato nicht beabsichtigte, sich nach der deutschen Vereinigung weiter Richtung Osten auszudehnen."4

Nachdem Moskau seine Truppen aus Osteuropa zurückgezogen hatte, wollte der Westen von diesen Zusicherungen bekanntlich nichts mehr wissen. Die folgende Nato-Ostexpansion wurde begleitet von fruchtlosen Verhandlungen über friedenssichernde Änderungen der KSE-Verträge (Konventionelle Streitkräfte in Europa), die letztlich Washington torpedierte:

"Das KSE-Anpassungsabkommen ist nicht in Kraft getreten, obwohl Russland es 2004 ratifiziert hat. Im Bündnis blockierten die USA die Ratifizierung des AKSE, nachdem George W.Bush 2001 sein Amt als US-Präsident angetreten hatte."

Im Fazit lässt sich Wolfgang Richters Darstellung kaum anders als so deuten, dass USA und Nato die russische Seite von 1991 bis 2022 fortgesetzt in eine Eskalation hineintrieben, die über eine erodierte Sicherheitsordnung jetzt im gleichwohl völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine mündeten.

Vorausgegangen war seitens der Nato mithin das Ableugnen, Aufkündigen oder Brechen von sicherheitspolitisch bedeutsamen Verabredungen und Verträgen. Eine Mitverantwortung der westlichen Seite betrifft, so Richter implizit, auch zuvor wiederholt begangene völkerrechtswidrige Angriffskriege der Nato, beginnend mit dem Überfall auf Jugoslawien, die Russland nun als Rechtfertigung seines Überfalls auf die Ukraine nutzen kann.