Unipolar, Bipolar, Multipolar? Die (schöne) neue Weltordnung

Zweifel am Weltmacht-Status der USA werden immer lauter. Beginnt oder endet damit ein Zeitalter der Konfrontation? Und steuert Deutschland ohne Hegemon wirklich in ein besseres Morgen?

Macron zeigt, wo’s langgeht: Auf dem Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) in Bangkok vergangene Woche hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die asiatischen Länder – allen voran China – dazu aufgefordert, den Ukraine-Krieg als "globales Problem" anzuerkennen.

Bei der Volksrepublik dürfte diese Lektion in Völkerrecht nicht gerade auf Begeisterung gestoßen sein; zumal sich Macron einer allzu bemühten Bildsprache bediente:

Wir sind in einem Dschungel und wir haben zwei große Elefanten [...] Wenn sie sehr nervös werden und einen Krieg anfangen, wird das ein großes Problem für den ganzen Rest des Dschungels sein. Es braucht also Kooperation zwischen den anderen Tieren im Dschungel. Tiger, Affen und so weiter.

Emmanuel Macron

Abgesehen davon, dass die Dschungel-Metapher seit Josep Borrells Entgleisung Mitte Oktober für kooperationsinteressierte Europäer eigentlich verbrannt sein müsste – vielleicht versuchte sich Macron aber auch an einer Wiedergutmachung – nimmt sich das Dschungel-Sinnbild in dieser hochgefährlichen Lage mit zwei atomaren Krisenherden doch etwas infantil, fast möchte man im Corona-Sprech sagen: verharmlosend, aus.

Aber dann wurde Macron doch noch ernst, und zwar in Bezug auf "unsere Weltordnung".

Deren Stabilität, so der französische Präsident,

(…) war das Ergebnis unseres globalen Handels, […] dank gemeinsamer Regeln. Doch nun haben wir aufgrund dieser Konfrontation zwischen den größten Volkswirtschaften [USA und China] begonnen, Funktionsstörungen zu beobachten. Auch innerhalb der [Welthandelsorganisation] WTO kam es zu Funktionsstörungen [und auch] das reibungslose Funktionieren der Vereinten Nationen [wurde] blockiert.

Emmanuel Macron

Die eine, globale Weltordnung – ist in Gefahr

Macron sieht daher die "Gefahr einer globalen Spaltung". Einer, die nicht erst mit dem Krisenherd Ukraine entfacht, durch ihn aber gleichsam angeheizt wurde:

[…] das große Risiko dieses Krieges besteht darin, diese Kluft, diese Spaltung zwischen den beiden Teilen der Welt noch zu vergrößern und Druck auf die verschiedensten Länder auszuüben, sie zu zwingen, sich zu entscheiden: Seid ihr auf Seite der USA oder auf der Chinas? Denn viele würden letztlich gerne nur zwei Großmächte, zwei Lager auf der Welt sehen. Das ist ein großer Fehler, auch für die USA und China. Wir brauchen eine einzige, globale Weltordnung [single global order].

Emmanuel Macron

Ein Begriff, an dem sich besonders empfindliche Ohren stoßen könnten. Zum einen, weil eine Welt mit mehreren Machtzentren nicht im Widerspruch zur internationalen Kooperation steht – auch der Klimawandel als "globale Herausforderung" macht da keine Ausnahme –, zum anderen spricht Macron in seiner Rede von einer "Aggression gegenüber den internationalen Regeln" und meint damit den Ukraine-Konflikt. Doch hier überschreitet der Präsident die Grenze zum Narrativ.

Denn sollte sich Macron auf das internationale Völkerrecht beziehen, so stellt sich die Frage, inwieweit sich der Ukraine-Krieg als singuläre Aggression darstellen lässt (siehe: Blaupausen für die Ukraine). Vielmehr verdeckt Macron damit die einseitige Problematisierung und Sanktionierung von Völkerrechtsbrüchen, die der Vorstellung von einem internationalen Recht auf Augenhöhe grundlegend widersprechen.

Denn in der "regelbasierten internationalen Ordnung", wie sie Macron hier evoziert, erkennen nicht wenige den Status Quo einer unipolaren Welt, unter Vorherrschaft der USA. Und von dieser profitieren bis dato eben nicht alle Nationen gleichermaßen, sondern nur wenige im Übermaß.

Um die dynamischen Entwicklungen wahrzunehmen, die sich da gerade auf der Weltbühne vollziehen, müssen die Menschen hierzulande aber gar nicht erst so weit in die Ferne schauen.

Deutschland, Satellitenstaat

Denn Deutschland sieht weiterhin der Gefahr der Deindustrialisierung ins Auge – trotz Gaspreisbremse. BASF-Chef Martin Brudermüller hat bereits Fakten geschaffen.

Neben ihm stimmten zuletzt auch Markus Steilemann vom Werkstoff-Riesen Covestro und der Chef des Agrar- und Energiekonzerns BayWa, Klaus Josef Lutz in den Chor der Warnenden ein. Auch der neue Vorsitzende der Jungen Union (JU), Johannes Winkel, malt das Menetekel an die Wand.

Während Deutschland weiter den Verzicht als Wohltat an der Weltgemeinschaft predigt, zeigen sich die transatlantischen Partner etwas weniger selbstlos. Im Zusammenhang mit dem hochumstrittenen Inflation Reduction Act (IRA) fiel zuletzt gar einmal der vormals tabuisierte Begriff des "Handelskriegs" (siehe: Konflikt um Subventionen: USA bislang nicht zu Kompromiss mit EU bereit).

Im Ausland wundert man sich indessen darüber, dass es der deutschen Bevölkerung erst jetzt dämmert. Was US-Geostrategen bereits seit Jahren als Maxime beschreiben (siehe: "Die Aufrechterhaltung eines starken Keils zwischen Deutschland und Russland"), wird mit den Russland-Sanktionen nun endgültig Realität.

Wir seien ein ökonomischer Satellit der USA, behauptete der renommierte US-Ökonom und Imperialismus-Kritiker Michael Hudson zuletzt Anfang November:

Deutschland ist zu einem wirtschaftlichen Satelliten von Amerikas Neuem Kalten Krieg mit Russland, China und dem Rest Eurasiens geworden. Deutschland und andere Nato-Länder wurden aufgefordert, sich selbst Handels- und Investitionssanktionen aufzuerlegen, die den heutigen Stellvertreterkrieg in der Ukraine überdauern werden.

Michael Hudson

Ob Hudson mit letzterem Recht behält, wird sich noch zeigen. Davor, dass Deutschland und sein wirtschaftlicher Status in einem neuen Kampf der Großmächte zerrieben werden könnten, haben jedenfalls schon im Mai 2022 die beiden Atlantik-Brücke-Mitglieder Michael Hüther und Sigmar Gabriel gewarnt.

Eine neue Ära der Konfrontation

Was den unbedarften Beobachter der Transatlantik-Lobby zunächst verwundert haben dürfte: In ihrem Beitrag mit dem Titel "In Search of a New World Order" stellen Hüther und Gabriel die neue Ära der Konfrontation in unmittelbaren Zusammenhang mit einem Niedergang der globalen US-Hegemonie:

Die Vereinigten Staaten sehen sich nicht mehr in der Lage, sowohl die führende Wirtschaftsmacht der Welt als auch eine weltweit unverzichtbare Nation zu sein. Der Abzug der US-Truppen aus dem Nahen Osten, aus Afghanistan und – wäre die Ukraine nicht überfallen worden – auch aus Europa erfolgte, damit sich Amerika auf seine Rivalität mit China konzentrieren kann.

Michael Hüther und Sigmar Gabriel

Hüther und Gabriel diagnostizieren einen Übergang von einer geo-ökonomischen Weltordnung (="Globalisierung") zu einem geopolitischen Kampf, sprich: einem um die systemische Weltherrschaft.

Russland spielt darin keine große Rolle mehr: Die Atommacht werde aus dem Ukraine-Krieg deutlich geschwächt hervorgehen und schließlich durch die "fortschreitende Dekarbonisierung" auch ihren Status als größter Rohstofflieferant verlieren. (siehe: Klimapolitik als geopolitische Waffe).

Im Westen wird der Wettbewerb der Systeme zwischen den USA und China meist als ein Gegensatz zwischen liberalen Demokratien (und Märkten) einerseits und autoritären Staaten andererseits dargestellt. Glaubt man Michael Hudson, handelt es sich dabei nur um eine Fassade – ganz im Sinne des geflügelten Wortes: "Staaten haben keine Freunde, nur Interessen".

In Wirklichkeit, so Hudson, gehe es hier um die Entscheidung zwischen einer

"unipolare{n], auf den Dollar ausgerichtete[n] Wirtschaft in den USA oder eine[r] multipolare[n] Welt mit mehreren Währungen, die sich auf das eurasische Kernland konzentriert und eine gemischte öffentliche/private Wirtschaft hat".

Von "bipolar" liest man bei Hudson nichts mehr. Der Gegensatz scheint ihm fundamentaler:

Im Grunde geht es darum, ob Volkswirtschaften von Bankenzentren geplant werden, um finanziellen Reichtum zu schaffen – durch die Privatisierung grundlegender Infrastrukturen, öffentlicher Versorgungseinrichtungen und sozialer Dienste wie der Gesundheitsversorgung in Monopole – oder ob Lebensstandard und Wohlstand erhöht werden, indem Bankwesen und Geldschöpfung, öffentliche Gesundheit, Bildung, Verkehr und Kommunikation in öffentlicher Hand bleiben.

Michael Hudson

Hudson ist sicher: Hinter Macrons "globaler Weltordnung" verbergen sich letztendlich die Interessen der USA. Das heißt: weniger die der Nation als die des Privatsektors. Die Institutionen des "rules-based-international order" – inklusive derer, die über Bruch und Sanktionierung des Völkerrechts zu befinden haben – sieht er unter der Knute der Amerikaner.

Für Hudson ist der Gegensatz also nicht einer zwischen universeller Weltordnung und partikularistischem Weltchaos, sondern zwischen Hegemonie und Pluralität. So sagte er Anfang Oktober 2022:

Wenn andere Länder nicht zusammenarbeiten, um eine Alternative zum [Internationalen Währungsfonds] IWF, zur Weltbank, zum Internationalen Gerichtshof, zur Welthandelsorganisation und zu den zahlreichen UN-Organisationen zu schaffen, die jetzt von US-Diplomaten und ihren Stellvertretern auf die USA/NATO ausgerichtet sind, wird sich die wirtschaftliche Strategie der finanziellen und militärischen Dominanz der USA in den kommenden Jahrzehnten so entfalten, wie es Washington geplant hat.

Michael Hudson

Michael Hudson ist nicht der einzige, der so klar Stellung gegen eine unipolare Weltordnung bezieht. Es werden immer mehr Stimmen laut – auch innerhalb der USA –, die eine unipolare Weltordnung nach amerikanischem Gusto a) antizipieren und b) zu verhindern hoffen.

...und das, obwohl deren Motive teilweise nicht weiter voneinander entfernt sein könnten – glaubt man zumindest auf den ersten Blick.

Im zweiten Teil dieses Artikels soll noch einmal ganz genau hingeschaut werden.