"Unsere Frage war: Wie sahen die letzten Minuten der kleinen Stephanie aus?"
Dirk Labudde über wieder aufgerollte Verbrechensfälle, die neuen Möglichkeiten durch digitale Forensik und die Detailliebe von Strafverteidigern
In seinem bei Lübbe erschienenen Buch "Digitale Forensik – Die Zukunft der Verbrechensaufklärung" beschreibt Professor Dirk Labudde mit seiner Ko-Autorin Heike Vowinkel anhand konkreter Fälle, wie er mit Digitaler Forensik geholfen hat, Verbrechen aufzuklären, etwa durch die Rekonstruktion von Tatorten in 3-D-Modellen.
An diesen prüft er mit rein rechnerischen Mitteln Aussagen nach. Es geht unter anderem um einen jungen Mann, der in Spanien zu Tode kam, um die kleine Stephanie, die tot bei der Teufelstalbrücke aufgefunden wurde, um den Mord an Charlotte Böhringer in einem Münchner Parkhaus, und um einen erschossenen Rocker in Leipzig. Labudde, Jahrgang 1966, hat Theoretische Physik und Medizinphysik studiert und wurde an der Universität Rostock promoviert. Seit 2009 ist er Professor für Bioinformatik und seit 2014 für Digitale Forensik an der Hochschule Mittweida. Seit etwa 2015 ist er häufig Berater von Polizeibehörden und Gutachter vor Gericht.
Als ich Ihr Buch las, war ich überrascht, wie viele Daten Sie und Ihr Team zusammensammeln müssen. Etwa bei der Recherche zum Mädchenmord an der Teufelsbrücke (21 ff): Die kleine Stephanie war von der 54 Meter hohen Teufelstalbrücke gestürzt und wurde acht Meter von ihr entfernt aufgefunden: Ein Vierteljahrhundert später rollt die Polizei den Fall wieder auf. Und Sie sollten nun herausfinden: Wurde das Kind ermordet? Oder hätte sie auch gesprungen sein können?
Oder hätte der Sturz auch ein Unfall gewesen sein können, etwa weil der Fahrtwind eines vorbeifahrenden LKWs sie hinunterwehte? Um das herauszufinden, wollten Sie die inzwischen abgerissene Teufelstalbrücke detailgetreu rekonstruieren. Dafür mussten Sie aber erst einmal herausfinden, wie Brücke und Umgebung früher aussahen. Und dann, wie weit ein Kind aus dem Stand springen kann. Welchen Druck der Fahrtwind eines vorbeifahrenden LKW ausübt. Und das sind nur einige Fragen aus einem Fall. Ich hätte erwartet, dass viel mehr Wissen in der Welt schon vorhanden und abrufbar ist. Müssen Sie oft so viel recherchieren?
Dirk Labudde: Ja. Natürlich ist jeder Fall ein Einzelfall. Wenn man die entsprechenden Stellen kennt, kann man die Bauunterlagen für alle Gebäude dieser Welt abrufen. Aber die Frage ist ja: Sind die Daten so beschaffen, dass sie dabei helfen, diese kriminelle Handlung aufzuklären. In diesem Fall hat ein Mitarbeiter aus dem Weimarer Bauamt die Original-Baupläne der Teufelstalbrücke von 1938 gefunden. So etwas erfordert natürlich ein bisschen Zeit, diese Daten müssen erst zusammengesammelt werden.
Sie haben daraufhin die Brücke am Computer nachgebaut, einen Avatar von Stephanie konstruiert und diesen auf dem Rechner 30 Mal von der Brücke stürzen lassen. Sie fanden ein arithmetisches Mittel von etwa vier Meter Abstand zur Brücke. Sie schreiben, tatsächlich aber sei Stefanies Körper acht Meter von der Brücke entfernt aufgefunden worden. Gab es keinen einzigen Fall mit acht Metern?
Dirk Labudde: Nein, es waren nie acht Meter. Wir konnten also knallhart sagen: Auch mit Betrachtung der Abweichungen in den einzelnen Würfen wären niemals die acht Meter erreicht worden. Also konnte sie nicht von allein hinuntergefallen sein. Auch dürfte kein vorbeifahrender LKW sie herunter- und derart weit fortgeweht haben – der hätte mit mindestens 200 Kilometern pro Stunde vorbeigefahren sein müssen. Sie konnte auch nicht gesprungen sein, dazu stand sie zu sehr unter Betäubungsmitteln. Jemand musste sie hinabgestürzt haben. Schließlich wurde der Hauptverdächtige auch aufgrund unseres Gutachtens verurteilt.
Sie müssen viele Fakten recherchieren, andererseits gibt es viele Open Source Programme, mit denen Sie und Ihr Team arbeiten: Blender (33), MakeHuman (39), InVesalius (188). Welche noch? Und wie können Sie ausschließen, dass diese Programme fehlerhaft sind, oder kann man das nicht ausschließen?
Dirk Labudde: Natürlich überprüft man die Software, mit standardisierten Rechnungen, Fällen oder Aktivitäten. Und daher kann man schon ausschließen, dass sie fehlerhaft ist. Es gibt natürlich Autocrash, das hat ähnliche Features und wird bei Verkehrsunfällen genutzt.
Es gibt auch eine Reihe kommerzieller Software. Aber es gibt keine Software wie Blender, bei der wir auf den Sourcecode zurückgreifen und mit Python, also der Programmiersprache, eigene Plugins schaffen können. Bei Blender handelt es sich eigentlich um eine Spielesoftware, aber wir können sie auf unsere Bedürfnisse in der Forensik anpassen. Es gibt keine Alternativen, es gibt keine Simulationssoftware für forensischen Hintergrund.
Wie ermitteln Sie? Einmal schreiben Sie, die Polizei musste einem Hauptverdächtigen einen Mord nachweisen, alles andere wäre verjährt. Wieso "muss" man einem Hauptverdächtigen etwas nachweisen? Wieso "muss" es bei Stephanie ein Mord sein (29)? Ermitteln Sie ergebnisoffen, oder in Hinblick auf ein bestimmtes Ergebnis?
Dirk Labudde: Wir ermitteln ergebnisoffen. Die Aufgabe von Gutachtern ist es, sowohl belastendes als auch entlastendes Material zu produzieren. Unsere Frage war: Wie sahen die letzten Minuten der kleinen Stephanie aus? Dann lautete unsere erste Hypothese: Eigenverschulden, Fremdverschulden, oder etwas anderes. Wie ermitteln und simulieren in alle Richtungen, und das, was dann übrigbleibt, das ist dann das Ergebnis.
Ein paar Mal scheint mir etwas von der Logik her sozusagen verkehrt herum ausgedrückt zu sein. Sie schreiben zum Beispiel, die auf links angezogene Unterhose, die fehlende Brille könnten dafür sprechen, dass der Täter aus Panik gehandelt habe (36). Es müsste doch heißen: Diese Dinge könnten darin begründet sein, dass der Täter aus Panik gehandelt habe.
Dirk Labudde: Diese Formulierungen sind ja als Füllung für die Hypothesen gedacht. Ich kann eine Frage in den Raum stellen, aber in der Forensik brauche ich sozusagen eine Spur, eine Analyse, eine Information, um diese Frage zu beantworten. Deswegen ist es auch mehr oder weniger bewusst so geschrieben.
Besonders interessant in dem Buch sind Diskurse, in denen Sie in die Zukunft schauen: Es geht um Tatortrekonstruktion (109ff), Foto- und Videoanalyse (173ff), Gesichtsrekonstruktion (209ff) und im Kapitel elf um digitale Forensik – wie sich Ihrer Ansicht nach die Strafverfolgung ändern muss (215ff). Aber das ist datenschutzrechtlich heikel: Die DNA-Analyse etwa erlaubt die Erkennung oder Aufdeckung vieler Merkmale, mit denen die Polizei aber nicht arbeiten darf...
Dirk Labudde: ... Das gibt es aber, die Gesetzesänderung ist da! Seit 2019 dürfen wir aus der DNA Haarfarbe, Augenfarbe und Hautfarbe analysieren, wenn zum eigentlichen DNA Profil kein Treffer in Datenbanken auftaucht und es für die Ermittlung wichtig ist...
Aber könnte man nicht noch mehr Sachen aufnehmen...
Dirk Labudde: Ja genau, und deswegen wollte ich dieses Thema unbedingt ins Buch aufnehmen. Denn diese Möglichkeiten benötigen einen gesellschaftlichen, moralischen, normativen und ethischen Diskurs. Sonst macht das ja gar keinen Sinn. Es darf nicht enden in irgendeinem, ich wähle diesen Begriff bewusst, "Überwachungsstaat", der eigentlich ein Faible für alle möglichen Datensammlungen hat. Da darf es nicht sein. Es muss aber sein für die Aufklärung von Straftaten. Wenn an einem anderen Menschen eine Straftat vollführt werden, dann darf man etwas, was im Normalfall nicht nötig ist. Ein Verbrechen ist eben kein Normalfall.
Sie schreiben, deutsche Strafverfolger hinkten in drei Bereichen hinterher: digitales Wissen, moderne technische Ausstattung, rechtlicher Rahmen. Und Sie wünschen sich unter anderem eine bessere Zusammenarbeit zwischen Behörden und Sachverständigen wie Ihnen. Woran liegt die Skepsis seitens der Polizeibehörden – kann dem nicht auch ein gewisses Misstrauen zugrunde liegen, dass man etwa befürchtet, dass Sie nicht schweigen? Oder was sehen Sie als Grund?
Dirk Labudde: Dieses Misstrauen brauchen wir, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen komisch, aber eine Aufklärung braucht eine gewisse "geschützte Kapsel". Da darf nicht jeder irgendetwas nach draußen geben. Das haben jetzt wieder beim Fall Gil O. gelernt. Das ist aber nur ein Grund. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, dass auch die Polizei eine – wenn Ihnen ein besserer Begriff einfällt, dann danke – militärische Einrichtung ist, mit Schulterstücken, Dienstgraden, Aufstiegsmustern, unterschiedlichen Ausbildungsformen und so weiter.
In so einem Apparat brauchen wir andere Beratungsmöglichkeiten als bei einer offen kommunizierenden Firma oder Institution. Der dritte Grund ist, dass die Polizei durch ihre Ausbildung auch eine Denkweise entwickelt hat, die nicht für neue Technologien zugänglich ist.
Schließlich muss sie gegenüber der Justiz und der Bevölkerung zu ihren Verfahren sagen, dass sie ihre Technologien schon n mal angewendet haben, dass sie funktionieren, und dass sie deswegen den Bürger XYZ jetzt eben zum Angeklagten machen.
Diese Zusammenarbeit funktioniert nur über Vertrauen, und dafür müssen neue Methoden auch mal vielleicht im stillen Kämmerlein diskutiert werden, sodass beide Seiten ihre Meinung dazu äußern können, und dann müssen Sie natürlich noch in dem juristischen Apparat eingeführt werden.
Und was meinen Sie, wie lange dauert das noch?
Dirk Labudde: Das kann ein wenig dauern. Das für mich erschreckendste Beispiel ist immer der Fingerabdruck. Das erste Mal wurde er um 1900-1916 in Deutschland vor Gericht genutzt, und im Gesetz eingeführt wurde er erst im Jahr 1952. Und die DNA-Analyse galt erst mal als Methode des Teufels, die man nicht versteht und nur für Fachleute da ist, die einem damit alles Mögliche suggerieren können. Jetzt ist es auch ein standardisiertes Verfahren. Alles, was irgendwie mit der Identifizierung oder Wiedererkennung von Menschen zu tun hat, muss man mit gesellschaftlichen Dialogen begleiten.
Und Sie persönlich, was denken Sie zur DNA-Analyse?
Dirk Labudde: Persönlich habe ich nicht verstanden, warum wir nicht die auch geografische Herkunft ableiten. Juristisch ist es aber nachvollziehbar und dies ist dann unsere Handlungsgrundlage. Da sind andere Länder weiter. Oder die Gesichtsstruktur, damit hätten wir – um einen Begriff zu wählen - das Phantombild aus der DNA.
Da stellt man sich als Wissenschaftler immer die Frage: Die Möglichkeit ist vorhanden, warum können wir sie nicht nutzen? Aber dazu muss man sozusagen einen Schritt zurückgehen und fragen, warum das deutsche System das so regelt. Und unsere Justiz hat als ein Grundfundament, niemanden zu diskriminieren. Und deswegen wollen wir nicht, dass zum Beispiel gesagt wird: ein Syrer, schwarze Haare, braune Augen, 26 Jahre alt, der kommt aus der oder der Region.
Das wäre diskriminierend, weil wir dann per se alle Männer, die diese Kriterien erfüllen, unter Generalverdacht stellten. Da muss man der Justiz – vertrauen ist das falsche Wort – glauben und sagen: Okay, dann nehmen wir diesen Gedankenansatz und beschneiden zwar die Möglichkeiten dieser Technik, halten aber Maß und tragen vor allem zum Schutz von Bürgern und Bürgerinnen bei.
Im Kapitel 7 (139 ff) beschreiben Sie Ihre Untersuchungen des Raubes der 100 Kilogramm schweren Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum. Sie schreiben: "Diese Geschichte beginnt mit einem Zufall, endet in einem Desaster und ist dennoch ein Glücksfall für mich – auch wenn ich eine Weile brauch[t]e, um das so zu sehen."
Sie entwickelten eine Methode, um Videoaufnahmen der mutmaßlichen Diebe mit den Verdächtigen abzugleichen. Dazu vermaßen Sie die Verdächtigen und erstellten ein virtuelles Skelett, ein Rig, das Sie dann über die Videoaufnahmen legten. Das Gericht folgte Ihnen nicht und letztlich gerieten Sie mit diesem Fall ziemlich unter Beschuss. War es nur so, dass das Gericht Sie nicht richtig verstanden hat? Und wie weit sind Sie jetzt mit der Rig-Methode?
Dirk Labudde: Wir nahmen den Auftrag an und entwickelten eine Methode. Und wir sind ja ganz normale Wissenschaftler. Wenn man da im Team so eine Methode entwickelt, Messvorschriften etabliert, all diese Arbeit in kürzester Zeit und unter Hochdruck durchführt, da - ich glaube, so geht es jedem aktiven Labor - entwickelt man eine eigene Sprache, einen "Laborslang".
Wir im Kernteam hatten unser Vokabular, jeder wusste, was gemeint war. Unter uns. Und mit diesem Vokabular haben wir nun versucht, dieses Gutachten zu erklären. Damit sprachen wir aber eine Sprache, die sonst niemand verstehen konnte. Im Nachhinein ist das alles klar und rückblickend kann man sagen, wie blöd war man: Da hätte man ja selber draufkommen können.
Das war der erste Fehler. Wir hätten versuchen müssen, diese Methode in Ruhe in diese Verhandlung einzubringen. Auch wenn es eine neue Methode ist, die noch nie vor Gericht existiert hat. – Inzwischen haben wir drei Jahre intensiv an diese Rig-Methode gearbeitet und ich behaupte, sie ist eine machbare, eine gangbare Methode, bis zur Möglichkeit, eine Person, in Abhängigkeit von der Qualität des Materials, zu identifizieren. - Und dann war der Fall politisch brisant, was wir auch nicht gesehen hatten. Das war der zweite Fehler. Und der Dritte lag im Umgang mit den Strafverteidigern. Man muss allerdings sagen, diese Strafverteidiger – wie auch im Fall der Rocker – sind schon ganz besonders.
Das fällt auf, ja. Sie mögen wohl keine Anwälte?
Dirk Labudde: Doch. Wir haben ein Anklagemonopol in Deutschland. Und die Strafverteidiger sind die Ersten, die alles wieder auf null fahren und jedes einzelne Detail überprüfen, das in der Akte des Staatsanwalts steht. Und da machen die natürlich einen sozusagen furchtbar superguten Job. Kriminalität wird von Menschen an Menschen begangen, von Menschen aufgeklärt, von Menschen beurteilt. Da ist so viel Mensch darin, das ist schon erschreckend.
Diese Anwälte treten dann für den Lebensweg ihren Mandanten ein – es ist ein großer Unterschied, ob man für zehn Jahre weggesperrt wird oder für drei. Das haben die im Kopf. Und für eine Verurteilung muss es am Ende heißen: "zweifelsfrei". Aber wenn die Zweifel an dem Gutachten, am Zeugen, am Beschuldigten haben, und dann auch noch an den Aussagen oder den Ergebnissen eines Gutachtens oder einer Spurenanalyse, dann müssen die das laut und deutlich sagen. Aber ob man das so laut sagen muss, das sei jetzt mal dahingestellt.