Urahnen-Gene
Es wird immer komplizierter in der Geschichte der Ur-Europäer: Ein vor 400.000 Jahren in Spanien verstorbener Hominin erweist sich als enger Verwandter des sibirischen Denisova-Menschen
Die evolutionären Anthropologen stoßen mithilfe von Genanalysen immer tiefer in die menschliche Vergangenheit vor. Und ihre Resultate verblüffen und sorgen dafür, dass die Puzzle-Teile der Entwicklung der Menschheit neu sortiert werden müssen. Ein mehrere hunderttausend Jahre alter Knochen aus einer nordspanischen Höhle barg Erbgut, das ihn als Vetter des erst 2010 entdeckten Denisova-Menschen charakterisiert - statt wie erwartet als direkten Vorfahren des Neandertalers.
Lange herrschte ein ziemlich klares Bild von der europäischen Vorgeschichte. Der aufrechte gehende Mensch, Homo erectus, siedelte sich einst hier an und entwickelte sich vor ungefähr einer Million Jahre zum Homo heidelbergensis. Dessen erster Vertreter, bzw. seine Knochen, wurden 1907 in Mauer bei Heidelberg ausgegraben. Er wies urtümlichere Merkmale auf als der Neandertaler (der bereits seit 1856 bekannt war), und entsprechend wurde der Heidelberg-Mensch als dessen Vorfahr eingeordnet.
Alle weiteren Funde unterstützten hundert Jahre lang die Theorie, dass Homo neanderthalensis vor circa 200.000 Jahren als evolutionäre Weiterentwicklung des Homo heidelbergensis das Licht der Welt erblickte, um sich dann erfolgreich nicht nur in Europa auszubreiten, sondern auch in West- und Zentralasien.
Lange galt er als unser direkter Urahn, aber heute gilt als gesichert, dass parallel in Afrika der anatomisch moderne Mensch entstand, Homo sapiens (vgl. Echt alt), der sich vor 100.000 Jahren auf den Weg machte, um die ganze Welt zu erobern (vgl. Der moderne Mensch kam durch die Hintertür).
Alle heute auf der Welt lebenden Menschen sind Homo sapiens, der Neandertaler, der uns so ähnlich und doch ganz anders war, hat in uns nur geringfügige genetische Spuren hinterlassen - eine Erkenntnis, die wir der den Genetikern unter den Paläoanthropologen verdanken (vgl. Anderes Hirn und jede Menge Sex).
Neu gemischte Evolutionskarten
Die Stammesgeschichte des Menschen ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten, die Karten werden neu gemischt und es zeichnet sich ab, dass es keineswegs eine gradlinige Entwicklung hin zum modernen Menschen gab. Vielmehr haben sich wahrscheinlich verschiedene Formen von Homininen, die gleichzeitig existierten, hier und da vermischt - oder auch nicht. Der menschliche Stammbaum hat viele Zweige. Eine Vielzahl von Menschenartigen, von denen viele nicht wirklich unsere Urahnen darstellen (Jede Menge Homos).
Jetzt legt das internationale Wissenschaftlerteam um Matthias Meyer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig eine neue Karte im großen Evolutionsspiel auf den Tisch. In der aktuellen Ausgabe des Magazins Nature berichten sie über ihre Analyse der DNS aus einem 400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen. Dieser Knochen wurde in der nordspanischen Höhle Sima de los Huesos in der Nähe von Burgos, geborgen.
Die Sima-Höhle ist ein ganz besonderer Ort, der sogar auf der UNESCO-Weltkulturerbe-Liste steht. Durch einen steilen Schacht und enge Gänge müssen sich die Ausgräber mühsam kriechend ihren Weg zur sogenannten "Knochengrube" bahnen, in der seit den 1990er Jahren des vorigen Jahrhunderts mehr als 5.000 menschliche Fossilien von mindestens 28 Individuen gefunden wurden. Den Merkmalen der Skelette nach wurden sie der Art Homo heidelbergensis zugeordnet, obwohl sie morphologisch auch ein wenig an Neandertaler erinnern.
Der Fundort warf viele Fragen auf. Die Datierung war schwierig, die Experten einigten sich am Ende auf ein Alter von mindestens 300.000 Jahren. Eine Debatte begann darüber, ob die Karsthöhle als eine Art vorzeitlicher Begräbnisplatz der Ur-Europäer gedient haben könnte. Es wurden dort eine Menge von Raubtierknochen, aber keine Überreste ihrer Beutetiere gefunden - und die Entdeckung eines einzelnen Faustkeils wurde zudem von einigen Prähistorikern als Beleg für Bestattungen interpretiert, die Mehrheit der Fachwelt widersprach allerdings energisch.
Die Gruppe um Matthias Meyer hat nun auf einigen Fragen Aufsehen erregende Antworten gefunden. Die evolutionären Genetiker hatten zunächst erfolgreich die Fossilien eines Höhlenbären mithilfe der von ihnen entwickelten neuen Techniken für die Gewinnung und Sequenzierung uralter DNS untersucht.
Erst danach entnahmen sie höchst vorsichtig zwei Gramm aus einem menschlichen Oberschenkelknochen aus der Sima-Höhle, um die nur von der Mutter vererbten Gene im Innern der winzigen Kraftwerke der Zellen, der Mitochondrien, zu analysieren. Dieses mitochondriale Genmaterial verglichen sie mit Sequenzen von Neandertalern, Denisovanern, sowie heute lebenden Menschen und Menschenaffen.
Zunähst gelang ihnen mit dieser Methode eine Datierung der Fossilien auf ein Alter von ungefähr 400.000 Jahren. Aber noch erstaunlicher war das Ergebnis, dass der Homo heidelbergensis aus der Knochengrube der Sima de los Huesos ein Cousin des Denisova-Menschen war - die beiden hatten vor etwa 700.000 Jahren einen gemeinsamen Vorfahren. Matthias Meyer kommentiert:
Dass die mitochondriale DNS des Homininen aus Sima einen gemeinsamen Vorfahren mit der mitochondrialen DNS des Denisova-Menschen und nicht mit der des Neandertalers teilt, überrascht uns, denn die Fossilien von Sima de los Huesos weisen Merkmale auf, die vom Neandertaler zu stammen scheinen.
Denisovaner
Der Denisova-Mensch lebte vor circa 40.000 Jahren in Sibirien. 2010 hatten Experten, ebenfalls unter Leitung des Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, das Genom dieser einstigen Bewohner des Altai-Gebirges untersucht und dadurch festgestellt, dass es sich um eine neue, bis dahin unbekannte Menschen-Form handelt.
Die Abstammungslinie zwischen Neandertaler und modernem Menschen hat sich vor etwa 500.000 Jahren getrennt, der letzte gemeinsame Vorfahr der beiden mit dem Denisova-Menschen lebte vor einer Million Jahre (vgl. Ein neuer Mensch und Von Sibirien bis Papua-Neuguinea). Juan-Luis Arsuaga von der Universidad Complutense de Madrid, der die Ausgrabungen in der Sima de los Huesos-Höhle leitete, erläutert:
Dieses unerwartete Ergebnis deutet auf ein kompliziertes Evolutionsmuster hinsichtlich der Entstehung von Neandertalern und modernen Menschen. Weitere Studien werden hoffentlich zur Klärung der genetischen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Homininen aus Sima de los Huesos, den Denisova-Menschen und den Neandertalern beitragen.
Eine mögliche Erklärung ist, dass die Sima-Menschen ursprünglich in Europa und Asien lebten und somit Vorfahren beider Gruppen darstellen, und die ursprünglich gemeinsame, nur von den Müttern vererbte mitochondriale DNS bei den Neandertalern im Lauf ihrer Entwicklung verloren ging. Es könnten aber auch noch andere Menchen-Populationen im Spiel gewesen sein, wie kürzlich bereits von Evolutionsgenetikern auf einer Konferenz der Royal Society in London spekuliert wurde (vgl. Herr-der-Ringe-Vorzeit).
In jedem Fall ist es bereits ein großer Durchbruch, dass derart uraltes menschliches Erbgut dank neuer Techniken heute entziffert werden kann. Dennoch ist die Aussagekraft der rein mitochondrialen DNS immer zweifelhaft. Zudem wurde nur eine Probe analysiert. Der nächste Schritt müsste sein, die Erbinformationen des Zellkerns - am besten mehrerer Individuen - in Augenschein zu nehmen.
Ob das tatsächlich möglich sein wird, wird sich zeigen, denn natürlich ist die Substanz der Knochen trotz optimaler Konservierungsbedingungen mit konstanter Kühlung und Luftfeuchtigkeit in der Höhle nach einer so langen Zeit degeneriert und durch Mikroorganismen verunreinigt. Entsprechend groß ist die Herausforderung für die Evolutionsgenetiker. Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie ist zuversichtlich:
Unsere Ergebnisse zeigen, dass wir nun sogar das Erbgut von menschlichen Verwandten untersuchen können, die vor mehreren hunderttausend Jahre lebten. Das eröffnet uns ganz neue und aufregende Möglichkeiten: Wir können jetzt womöglich die DNS der Vorfahren von Neandertalern und Denisova-Menschen analysieren.