Von Sibirien bis Papua-Neuguinea

Der Denisova-Mensch ist ein weiterer ausgestorbener Cousin des Homo sapiens

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Das Genom des Denisova-Menschen ist entziffert und damit steht endgültig fest, dass er sich deutlich sowohl vom modernen Menschen wie vom Neandertaler unterscheidet. Mit einer neuen Methode gelang den Paläogenetikern ein erstaunlich genaues Abbild des Erbguts dieser ausgestorbenen Menschenart. Der Ureinwohner Sibiriens hinterließ eine genetische Spur vor allem in der heutigen Bevölkerung der Inseln Südostasiens.

Die Evolution des Menschen ist nicht linear verlaufen, die Vorgeschichtsbücher unserer Spezies müssen umgeschrieben werden, denn in den letzten Jahrzehnten zeigte sich, dass viele Seitenäste den Stammbaum des Homo sapiens zieren. Das gilt für die Urahnen der Menschwerdung in Afrika (Jede Menge Homos), über den Ureinwohner Europas namens Neandertaler (Neues vom wilden Mann), bis zu den kleinwüchsigen Hobbits, die bis vor 12.000 Jahren auf der indonesischen Insel Flores lebten (Homo floresiensis).

Im südlichen Sibirien fanden Archäologen unter der Leitung der Russischen Akademie der Wissenschaften 2008 das winzige Fragment eines Fingerknochens, das sich als Überrest einer neuen Menschenform erwies, die zeitlich parallel zum Neandertaler in Nordasien existierte. Die Wissenschaftler hatten sich in der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge durch sehr viel Ziegen- und Schafsdung gegraben, bis sie auf eine Schicht stießen, die zwischen 30.000 und 50.000 Jahre alt ist (Bericht von der Grabung). Beim sorgfältigen Sieben und Ausschlämmen mit Wasser fanden sie darin sowohl das Fingerstückchen (7 x 5 x 2mm) als auch die Stücke eines Zahns, der von seiner Größe her offensichtlich weder im Gebiss eines Neandertalers, noch in dem eines anatomisch modernen Menschen gesessen hatte.

Denisova-Backenzahn. Foto: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Anfangs vermuteten die Experten, er stamme von einem Höhlenbären, aber der besonders große Backenzahn mit auffallend dünnem Schmelz ist menschlich, das Überbleibsel eines ganz speziellen Menschen – einer neuen Homininenform. "Dieser Zahn ist einfach unglaublich. Er ermöglicht es uns, morphologische und genetische Informationen miteinander in Verbindung zu bringen", erklärte Bence Viola vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, der bei der Grabung dabei war.

An diesem Institut, das bereits mit der Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms Pionierarbeit geleistet hat, analysierten die Spezialisten schon 2010 aus nur 30 Milligramm Knochenpulver des Fingerknöchelchens die mitochondriale, nur über die Mütter vererbte DNS. Das Erbgut erwies sich als sehr speziell, da bis dahin völlig unbekannt (Ein neuer Mensch). Das Fragment aus der Hand einer jungen Frau, die von den Paläogenetikern "X-Woman" genannt wurde, stammte von einer bislang unbekannten Menschenform. Auf die klare wissenschaftliche Einordnung als neue Art oder Unterart, die stets heftige wissenschaftlichen Auseinandersetzungen verursacht, verzichteten die Entdecker zunächst, stattdessen sprechen sie schlicht von einer neuen Homininenform und verwenden den Begriff "Denisova-Mensch".

Auf dem Weg zum Genom

Die Einordnung als neue "Art" von Mensch ist stets der Beginn heftiger Debatten. Und aus wenigen Milligramm Knochen auf eine neue Art zu schließen, die Ableitung nur aus dem Genmaterial – das war definitiv völlig neu und spektakulär.

Ende 2010 legten die Paläogenetiker nach, es war ihnen mithilfe der Neandertalergenom-Techniken gelungen, das Kerngenom des Denisova-Menschen zu entziffern, die gesamte Erbinformation aus einem Zellkern (Genetic history of an archaic hominin group from Denisova Cave in Siberia, Nature 23. Dezember 2010, http://dx.doi.org/10.1038/nature09710). Außerdem verglichen die Spezialisten dieses Erbgut mit dem des Neandertalers und dem heute lebender Menschen weltweit. Sie stellten fest, dass der Denisova-Mensch mit dem Neandertaler eine gemeinsame Herkunft teilt, aber im Gegensatz zu ihm nicht in allen heutigen Nicht-Afrikanern seine Erbgut-Spuren hinterlassen hat. Stattdessen verbindet ihn eine größere Anzahl von genetischen Varianten mit den Ureinwohnern von Papua-Neuguinea.

Teammitglied David Reich von der Harvard Medical School (http://hms.harvard.edu/) kam zu dem Schluss: "Die Tatsache, dass der Denisova-Mensch in Südsibirien entdeckt wurde, aber zum Erbmaterial heute lebender menschlicher Populationen in Neu-Guinea beitrug, zeigt, dass diese Urmenschen während des Pleistozäns in Asien weit verbreitet gewesen sein müssen." Die Denisova-Menschen sind deutlich anders als Neandertaler, aber näher mit ihnen verwandt als mit anatomisch modernen Menschen.

Der Eingang zur Denisova-Höhle im sibirischen Altai-Gebirge, wo die Überreste des Denisova-Menschen gefunden wurden. Foto: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

2011 folgte der nächste Streich, die Forschergruppe veröffentlichte eine populationsgenetische Studie (Denisova admixture and the first modern human dispersals into southeast Asia and Oceania, American Journal of Human Genetics 2011 October 7). Sie zeigte, dass Genvariationen des Denisova-Menschen sich nicht nur auf Papua-Neuguinea finden lassen, sondern auch in heutigen Menschen auf den Philippinen und in australischen Aborigines. Die beteiligten Wissenschaftler vermuten, dass Homo sapiens Asien in zwei Einwanderungswellen erobert haben könnte. Aus der ersten Welle gingen die Ureinwohner Südostasiens und Ozeaniens hervor, die zweite bildete Populationen vor allem in Ostasien – wobei beide Bevölkerungsgruppen miteinander verwandt sind.

Mark Stoneking vom MPI für evolutionäre Anthropologie erklärte: "Die Tatsache, dass Denisova-DNA in einigen aber nicht in anderen heute lebenden Ureinwohnerpopulationen Südostasiens nachweisbar ist, zeigt, dass es vor mehr als 44.000 Jahren zahlreiche Populationen mit oder ohne Denisova-DNA gegeben hat. Das Vorhandensein von Denisova-Erbgut in einigen aber nicht in allen Gruppen kann am einfachsten dadurch erklärt werden, dass Denisova-Menschen selbst in Südostasien gelebt haben." Vor 44.000 Jahren trennten sich die Bewohner Australiens und Neuguineas, die Vermischung muss folglich vorher stattgefunden haben. Wahrscheinlich siedelten Denisova-Menschen vor 50.000 Jahren an vielen Orten zwischen Sibirien und Südostasien.

Tiefer Einblick in neue Menschenform

Anfang 2012 stellten die Denisova-Forscher dann eine revolutionäre Methode vor, um das Genom des neuen Menschen zu entziffern. Matthias Meyer vom MPI für evolutionäre Anthropologie hat zwei Jahre lang getüftelt, um die DNA aus Fossilien besser aufzubereiten und schließlich jede Base innerhalb des Denisova-Genoms etwa 30 Mal auszulesen. Dabei wird die DNS-Doppelhelix in ihre zwei Einzelstränge zerteilt und werden beide Stränge sequenziert. Eine neue Technik, die den Durchbruch ermöglichte. "Das Genom ist von sehr hoher Qualität", so Meyer. "Wir decken alle nicht-repetitiven Bereiche des Denisova-Genoms so viele Male ab, dass dieses Genom weniger Fehler enthält als die meisten bislang sequenzierten Genome heute lebender Menschen."

Das Denisova Genome Consortium stellt die Daten, mit denen es arbeitet, der Wissenschaftswelt online zur Verfügung. Jetzt ist es vollbracht, in der aktuellen Online-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science stellt eine internationale Gruppe um Matthias Meyer das komplette Genom des Denisova-Menschen und den Vergleich zum modernen Menschen vor (A High-Coverage Genome Sequence from an Archaic Denisovan Individual).

Matthias Meyer bei der Arbeit mit der DNS im Reinstraum. Foto: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Die Wissenschaftler nahmen das Denisova-Genom im Vergleich zum Genom von elf heutigen Menschen aus verschiedenen Regionen der Erde und des Neandertalers genau unter die Lupe. Bestätigt wurde dabei, dass nur Einwohner Australiens, Papua Neu-Guineas, den Philippinen, auf Fidschi und anderen melanesischer Inseln DNA-Sequenzen des Denisova-Menschen in sich tragen. Dieses Erbteil macht drei bis zu fünf Prozent der Gene der Ureinwohner dieser Gebiete aus.

Zudem ergab sich die überraschende Feststellung, dass Ostasiaten und Südamerikaner mehr Neandertaler-Gene in sich haben als Europäer. "Das überschüssige archaische Genmaterial in Ostasien zeigt eine nähere Verwandtschaft mit Neandertalern als mit Denisova-Menschen. Daraus leiten wir ab, dass der Anteil an Neandertaler-DNA in Europa niedriger ist als in Ostasien", folgern die Paläogenetiker aus Leipzig. Das ist etwas verwirrend, da die meisten Neandertaler-Funde aus Europa (und West-Asien) stammen. Die Erklärung dazu steht noch aus, aber vermutlich sind die bisherigen Modelle der Vermischung zu simpel gestrickt gewesen.

Genetische Vielfalt von Denisova und modernem Menschen

Durch die neue Technik gelang es den Spezialisten zwischen dem vom Vater und dem von der Mutter vererbten individuellen Genen zu unterscheiden. Die Analyse dieser verschieden Chromosomensätze ergab, dass die Denisova-Menschen eine sehr viel geringe genetische Vielfalt aufweisen als moderne Menschen. Vermutlich war im Anfang eine ziemlich kleine Gruppe dieser Steinzeit-Menschen, die sich dann relativ rasch in Asien ausbreitete.

Möglicherweise lassen die neuen Ergebnisse letztlich auch Rückschlüsse auf den Neandertaler zu. Projektleiter Svante Pääbo meint: "Falls die zukünftige Erforschung des Neandertalergenoms zeigt, dass sich die Neandertaler-Population im Laufe der Zeit auf ähnliche Art und Weise verändert hat wie die der Denisova-Menschen, wäre dies ein deutliches Indiz dafür, dass eine einzige Menschgruppe nach ihrer Auswanderung aus Afrika sowohl den Denisova-Menschen als auch den Neandertaler hervorgebracht haben könnte."

Der Vergleich mit dem Erbgut heutiger Menschen ergab, dass sich seit der Abspaltung dieser beiden menschlichen Stammbaum-Äste ungefähr 100.000 Unterschiede im Genom des Homo sapiens ergeben haben. Dazu gehören Gen-Varianten, die mit dem den Verbindungen im Nervensystem und Gehirnfunktionen zu tun haben, aber auch in FOXP2, einem Erbgutabschnitt, der mit Sprachentwicklung und Sprechstörungen verbunden ist.

Ausgrabung in der sibirischen Denisova-Höhle. Foto: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Wie der Denisova-Mensch ausgesehen hat, darüber wagen die Paläogenetiker nicht wirklich zu spekulieren. Sie fanden Genom-Varianten, die bei modernen Menschen auf dunkle Haut, braune Haare und Augen schließen lassen, also könnten die Ur-Sibirier dunkelhäutig gewesen sein. Mehr als diese vage Aussage kann – so stellen sie klar - aufgrund der DNA nicht gemacht werden. Dazu braucht es weitere Fossilienfunde. Dennoch ist es es verblüffend, wie viele Erkenntnisse über eine ausgestorbene Menschenform die Genetiker ausschließlich aus wenigen Milligramm zermahlener Knochen eines winzigen Fingerfragments ziehen.

Svante Pääbo wäre nicht überrascht, wenn in nächster Zukunft weitere Menschen-Formen entdeckt würden, die vor 50.000 bis 100.000 Jahren gelebt haben. Speziell Asien könnte noch viele Überraschungen bereit halten. Warum sich unsere Spezies letztlich durchsetzte, ist noch rätselhaft, aber die neuen Möglichkeiten der Genanalyse von Vettern wie Neandertaler oder Denisova-Mensch aus Seitenästen des Stammbaums liefern weitere Steinchen für das große Mosaik der menschlichen Evolution. Oder wie Svante Pääbo sagt: "Unsere Forschung wird dabei helfen herauszufinden, wie es dazu kam, dass moderne Menschen und ihre komplexe Kultur sich so weit verbreiten konnten, während archaische Menschen nach und nach ausstarben."