Verbot von Kurzreisen über Ostern

Rechtsprofessor Jungbluth: "Die mündliche Aufforderung der Bundeskanzlerin hat keinerlei Rechtsverbindlichkeit"

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"Das sind Grundrechtseinschränkungen in Wild-West-Manier, oder, um es juristischer auszudrücken, vollkommen willkürliche Maßnahmen", sagt Professor Dr. David Jungbluth im Telepolis-Interview. Jungbluth, Professor für Recht an der Frankfurt University of Applied Sciences, kritisiert mit scharfen Worten die massiven Eingriffe der Bundesregierung in die Grundrechte (In Krisenzeiten haben Grundrechte keinen Ausschalter).

Insbesondere die Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel, wonach Kurzreisen über Ostern nicht drin seien, hält der ehemalige Staatsanwalt für hochproblematisch. Er sieht eine Kompetenzüberschreitung der Kanzlerin. Ebenso scharf kritisiert Jungbluth das Bundesverfassungsgericht, dass bisher von der Möglichkeit einer "Vorabentscheidung" bei entsprechenden Verfassungsbeschwerden gegen die Einschränkung der Grundrechte keinen Gebrauch gemacht habe (Justizkritik). Das Bundesverfassungsgericht "duckt sich weg", sagt Jungbluth.

Herr Jungbluth, Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Ansprache vom 3. April folgendes zu den Bürgern in Deutschland gesagt: "Und noch eines und bitte nehmen Sie auch das ernst: Auch Kurzreisen innerhalb Deutschlands, an die See oder in die Berge oder zu Verwandten, kann es dieses Jahr über Ostern nicht geben." Wie bewerten Sie diese Aussage als Jurist? Hat die Bundeskanzlerin ihre Kompetenzen überschritten?
David Jungbluth: Auch wenn mich nach den Erfahrungen der letzten Wochen im Umgang mit dieser Krise eigentlich nur noch wenig erstaunt, muss ich sagen, dass mich diese Aussage doch, gelinde ausgedrückt, in ihrer Generalität etwas irritiert hat.
Warum? Wo setzt ihre Kritik an?
David Jungbluth: Zunächst ist einmal ganz praktisch die Frage zu stellen, wo die Sinnhaftigkeit dieser Ansage in medizinischer Hinsicht liegen soll. Ich bin kein Mediziner, aber ich verfüge, hoffe ich zumindest, über einen weitestgehend rational arbeitenden Verstand. Wenn sich eine Person an Ostern vor die Tür begibt und mit ihrem Auto alleine in den Schwarzwald fährt, also in einem vor Infektionsgefahren für sich und andere vollkommen geschützten Raum, und am Zielort einen Spaziergang unternimmt, ist darin kein unzulässiges Unterfangen zu sehen. Das gilt selbst dann, wenn die alleine autofahrende Person nicht der skurrilen Tendenz folgt, sich mit Atemschutzmaske ans Steuer zu setzen.
Im Gegenteil wäre eine dem Appell der Kanzlerin folgende Radfahrt durch den heimischen Stadtwald mit einem deutlich höheren Infektionsrisiko verbunden, je nachdem, wie oft man dort engerem Kontakt mit Freunden, Bekannten und Unbekannten nicht immer ausweichen kann - im Gegensatz etwa zu einer einsamen Wanderung auf menschenleeren Schwarzwaldhöhen. Für den Spaziergang im heimischen Stadtpark sprechen lediglich, im Vergleich zur Autofahrt, Umweltgesichtspunkte - an diese hat die Kanzlerin aber auch an dieser Stelle vermutlich weniger gedacht.
Die Bundesregierung könnte einwenden, dass nach den geltenden landesrechtlichen Verfügungen und Verordnungen Hotels und Pensionen geschlossen haben, so dass Übernachtungen dort rechtlich ausgeschlossen sind.
David Jungbluth: Das könnte sie, aber mittlerweile dürfte sich herumgesprochen haben - auch ganz ohne kanzleramtliche Erinnerung -, dass Hotels, Pensionen und dergleichen keine Touristen beherbergen dürfen. Hinzu kommt: In zahlreichen Landesregelungen sind Ausnahmen für den persönlichen Bereich vorgesehen, zum Beispiel für Besuche von Ehe- und Lebenspartnern sowie für Besuche von Trennungskindern bei Familienmitgliedern. Zumindest teilweise sind wohl auch Besuche zwischen Verwandten gerader Linie (also Eltern, Kinder, Großeltern etc.) zulässig.
Die Aussage der Kanzlerin war, wie Sie sagten, sehr pauschal.
David Jungbluth: So ist es. Keinen differenzierten Gedanken hat die Kanzlerin offensichtlich auch an die Frage verschwendet, wie sich Menschen auf einer österlichen "Kurzreise" konkret verhalten werden, wie hoch also die Wahrscheinlichkeit sein könnte, dass sie an ihrem Reiseziel gegen Anordnungen verstoßen, die sie in heimischer Umgebung beachtet hätten. Schon aus dieser Sach- und Rechtslage resultiert auf keinen Fall ein zwingendes kategorisches "Ausflugsverbot" an den Feiertagen, wie es die Kanzlerin mit ihren wieder mal sehr wolkigen Formulierungen suggeriert hat.
Das gravierendste Problem in den Ansagen der Kanzlerin liegt aber weniger in der mangelhaften rechtlichen Einordnung als in der offensichtlichen Bevormundung der Bevölkerung, der die Regierungschefin offenbar von Grund auf misstraut und der sie jetzt mit dem Mittel der Bevormundung beizukommen versucht. Eine Bevölkerung, die sie überhaupt erst in ihr Amt gebracht und seit fast 15 Jahren regelmäßig wieder bestätigt hat. Das scheint die Kanzlerin offenbar vergessen zu haben, oder aber, es ist ihr schlicht und einfach egal.
Wo liegen aus rechtlicher Sicht weitere Probleme an dieser Aussage?
David Jungbluth: In rechtlicher Hinsicht liegt hier nach meiner Ansicht in erster Linie ein zweifaches Kompetenzproblem vor. Solche untechnisch als "Ausgangsbeschränkungen" bezeichneten Verhaltensregeln sind von den einzelnen Bundesländern, aber auch von einzelnen Kommunen erlassen worden, und zwar zunächst in divergierenden Handlungsformen als Allgemeinverfügungen und Rechtsverordnungen.
Das klingt sperrig, kompliziert.
David Jungbluth: In der vorliegenden Konstellation handelt es sich um landesrechtliche Regelungen, wie sie aus der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland resultieren. Ungeachtet dieses Gefüges wurden jetzt im Hau-Ruck-Verfahren gewichtige Kompetenzen auf die Bundesebene verlagert, womit die föderalistischen Prinzipien eines Bundeslandes aufgeweicht werden - eine gefährliche Tendenz, die von manchen Akteuren vermutlich auch noch weiter vorangetrieben werden soll.

"Übergriffig und grundgesetzwidrig"

Das Infektionsschutzgesetz wurde geändert, neue Handlungsräume geschaffen.
David Jungbluth: Im Falle einer bundesweiten Epidemie ist jetzt der Bund - Landesgrenzen überschreitend - für die Einschränkung des Personenverkehrs zuständig. Von dieser Kompetenz hat der Bund bisher aber offensichtlich noch keinen konkreten Gebrauch gemacht, sodass die Länder zuständig bleiben. Ausflüge innerhalb eines Bundeslandes und auch über die Ländergrenzen hinweg sind erlaubt, wenn und soweit das nicht von den einzelnen Bundesländern anders angeordnet wurde. Bisher ist nach meiner Kenntnis nur Letzteres, und nur in einem Bundesland oder in einigen wenigen Bundesländern geschehen. Das Osterorakel der Kanzlerin kann daran nichts ändern.
Was bedeutet das nun konkret? Müssen sich Bürger nun an die Ansage der Kanzlerin halten oder nicht?
David Jungbluth: Es gilt nach meiner Einschätzung nach wie vor Landesrecht, und die getroffenen Anordnungen sind daher auch grundsätzlich von den Ländern auszuführen. Das ist nicht nur eine Frage der konsequenten Anwendung des föderalistischen Prinzips, sondern ergibt sich eindeutig schon aus Art. 30 GG, wonach die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.
Wir haben es also offensichtlich mit dem Novum einer Lex Merkel in Sachen "Osterreisen" zu tun, wenn die Bundeskanzlerin in ihrer Ansprache den Ländern in deren Kompetenz - übergriffig und grundgesetzwidrig - hineinredet. Frau Merkel hat daher, jedenfalls solange der Bund in diesem Kontext nicht eigene Rechtsverordnungen erlässt, in ihrer Funktion als Bundeskanzlerin, hier nichts zu melden, was ich explizit in meiner Funktion als Rechtsanwalt und damit als Organ der Rechtspflege, feststelle.
Aber auch die in diesem Zusammenhang verlautbarten Stellungnahmen aus Oppositionskreisen (soweit Opposition im aktuellen Kontext überhaupt erkennbar ist) sind nicht als zielführend anzusehen.
Wie meinen Sie das?
David Jungbluth: Für die Linke hat Herr Korte laut Fokus die allgemeinen Kontaktsperren als richtig bezeichnet und lediglich die Grenzziehungsversuche zwischen den einzelnen Bundesländern beklagt, wodurch eine Art neuer Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehe: Menschen mit eintägiger Erholungsmöglichkeit am Meer und Menschen mit dauerhafter Aufenthaltsbegrenzung auf die Wohnung.
Warum ist diese Aussage nicht zielführend?
David Jungbluth: Konkrete Vorschläge zur Überwindung dieser Klassenspaltung sind dem nicht zu entnehmen, auch wenn Kortes Kritik an den Ausflugsverboten berechtigt ist. Im Kontext der insgesamt geltenden Kontaktsperre bleiben seine Anmerkungen vermutlich folgenlos. Außerdem übersieht Korte im Hinblick auf das Freizeitverhalten der Bevölkerung an Ostern einen wichtigen Fakt.
Nämlich?
David Jungbluth: Dass die Äußerungen der Kanzlerin zu diesem Thema keinerlei Rechtsverbindlichkeit für sich beanspruchen. Einer Opposition, die diese Bezeichnung verdient, wäre es überdies angemessen, das Problem bei der Wurzel zu packen und die Doppelfrage nach der Sinnhaftigkeit und nach der Angemessenheit der getroffenen Maßnahmen im Ganzen kritisch zu untersuchen, damit Stellungnahmen wie die des Herrn Korte nicht als duckspeak im Sinne George Orwells daherkommen.
Auch der Grünen-Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz hat sich geäußert.
David Jungbluth: Ja, er sagte, es sei nötig bundeseinheitliche Regelungen zu erlassen um "ein schlüssiges und transparentes Gesamtkonzept" zu haben, also "keine Kleinstaaterei". Das hört sich im ersten Moment natürlich toll an, im Ergebnis habe ich hierfür auch wenig Verständnis.
Warum?
David Jungbluth: Eine bundeseinheitliche Vorgehensweise hätte keineswegs zwingend ein liberaleres, weniger restriktives Vorgehen zu Folge - eher das Gegenteil: eine Hardcore-Law-and-Order-Regelung im Söderschen Sinne. Von Notz lässt - vielleicht aus politischem Opportunismus, vielleicht aber auch blanker Angst um seine Gesundheit - jedenfalls keinerlei Absicht erkennen, die angeordneten und vollzogenen Grundrechtseinschränkungen zurücknehmen oder wenigstens abmildern zu wollen.
Er beschränkt sich vielmehr auf eine bloße Kompetenzverschiebung, ohne einen Diskurs über die Frage der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen zu eröffnen. Eine Selbstbeschränkung, die in der aktuellen Situation als bloße Alibi-Opposition betrachtet werden kann: hohe, aufmerksamkeitsheischende Lautstärke bei großer Inhaltsleere. Und zusätzlich eine direkte Unterstützung der Bundesregierung in ihrem Bestreben noch weiterer Kompetenz- und Machtzentrierung.
Als kurzsichtig, wenn nicht gar unverantwortlich erscheint Notz überdies mit seiner Forderung auch mit Rücksicht auf die Gewaltenteilung: Diese verläuft nicht nur vertikal (als Exekutive, Judikative und Legislative), sondern auch und gerade horizontal, also zwischen Bund und Ländern. Der eigentliche Sinn des föderalistischen Prinzips ist es, das Entstehen von Machtkonzentration wie der des nationalsozialistischen Einheitsstaates zu verhindern. Genau deshalb hatten die alliierten Siegermächte nach 1945 dezentrale, föderale Verwaltungseinheiten installiert.

"Es gibt keinen Grund, dieser Anweisung der Bundeskanzlerin Folge zu leisten"

Nochmal zur Bundeskanzlerin
David Jungbluth: Die verlautbarten Grenzziehungen zu österlichen Ausflügen der Bundesbürger werden in der herrschenden psychischen Ausnahmesituation voraussichtlich dazu führen, dass die meisten von diesen am Osterwochenende auf Ausflüge verzichten werden. Die Aussage der Kanzlerin würde damit de facto gesetzliche Wirkungskraft entfalten und zu einer weiteren wesentlichen Einschränkung in der Ausübung diverser Grundrechte führen.
Und dazu war die Bundeskanzlerin nicht befugt?
David Jungbluth: Das ist in meinen Augen das zweite Kompetenzproblem: Auf verfassungsrechtlicher Grundlage könnte man der Kanzlerin im Bund-Länder-Verhältnis unter Umständen eine Befugnis zuerkennen, "Informationen und Warnungen" auszusprechen, was - in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - aus ihrer Kompetenz zur Staatsleitung (Art. 65 GG) ableitbar wäre.
Der Erlass von grundrechtsintensiven Maßnahmen ist aber nach der sogenannten Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts nur dem Parlament vorbehalten, das eine solche Entscheidung per Parlamentsgesetz zu treffen hätte. Das ist zugleich ganz generell ein wesentlicher Aspekt im Zusammenhang mit den aktuellen "Kontaktsperren": Hier werden nämlich ganz elementare Grundrechtseingriffe kurzerhand per Allgemeinverfügung (also mit einer Art allgemeinen Verwaltungsakt) oder aber in Form von Rechtsverordnungen verfügt, entweder von (obersten Landesbehörden) oder teilweise auch nur vom (Ober-)Bürgermeister.
Das geht bei der Quantität und Qualität dieser Grundrechtseingriffe so meines Erachtens nicht auf dem Wege einer ordre du mufti, sondern ganz grundsätzlich nur über die Parlamente, erst Recht dann, wenn die Maßnahmen auf eine gewisse Dauer angelegt sind, was aktuell ja offensichtlich der Fall ist.
In jedem Fall, und das ist die gute Nachricht, hat die mündliche Aufforderung der Bundeskanzlerin keinerlei Rechtsverbindlichkeit, da sie in keiner üblichen juristischen Handlungsform ergangen ist, sondern lediglich einen bloßen sogenannten "Realakt" darstellt, sodass es überhaupt keinen Grund gibt, dieser "Anweisung" Folge zu leisten, die auf dem simplen sprachlichen Kniff beruht, dass nicht sein kann, was nicht sein darf ("Kurzreisen innerhalb Deutschlands an die See, in die Berge oder zu Verwandten kann es dieses Jahr über Ostern nicht geben"). Oder eben doch.

"Wiederkehr der Obrigkeitshörigkeit"

Sie haben es angesprochen: Wenn die Bundeskanzlerin, das heißt die Person, die sowohl über ein hohes Maß an formaler als auch symbolischer Macht verfügt, in einer Ansprache den Bürgern sagt, in diesem Jahr könne es über Ostern keine Kurzreisen geben, dann hat das aber doch schon eine enorme Aussagekraft, die auf die Bürger einwirkt, oder?
David Jungbluth: Genau, das ist der Punkt. Wir erleben ja momentan eine Wiederkehr der Obrigkeitshörigkeit, wie sie noch vor wenigen Wochen kaum vorstellbar gewesen wäre. Ich habe zwar immer Zweifel daran gehabt, dass die Bevölkerung in diesem Land tatsächlich (gedanklich) so frei und unabhängig agiert, wie es immer propagiert wurde, aber es hat mich dennoch überrascht.
Diese Hörigkeit, die ja letzten Endes in einer fehlenden Kritikfähigkeit begründet liegt, wird nach meiner Einschätzung durch den parteipolitischen Betrieb in Verbindung mit den sogenannten Mainstreammedien herangezüchtet, die uns ein bestimmtes Bild der Welt vermitteln wollen, das im wahrsten - und damit auch schlechtesten - Sinne einer absolutistischen Weltanschauung gleichkommt, der man sich unterzuordnen hat.
Gleichzeitig werden die sogenannten alternativen Medien, die ja gerade deswegen so bezeichnet werden können, weil sie alternative Sichtweisen aufzeigen, mit dem Totschlagargument der "Verschwörungstheorie" diffamiert und dabei dann auch praktischerweise gleich, pauschalisierend, dem rechten Spektrum zugeordnet. Von einer sachlichen Auseinandersetzung im Sinne von Rede und Widerrede, die eine notwendige Bedingung für ein demokratisches Gemeinwesen darstellen, ist hier nichts zu sehen. Nicht umsonst hat auch das Bundesverfassungsgericht die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit, ohne die freie Rede und Gegenrede undenkbar sind, für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung als "schlechthin konstituierend" bezeichnet.

"Böses Omen für den Zustand und die Zukunft der vielbeschworenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung"

Sie sehen also in der aktuellen Situation größere Defizite, was die freie, auf Argumenten basierende Diskussion angeht?
David Jungbluth: Wie soll man es sonst bewerten, wenn vor diesem Hintergrund Kritiker der Regierungslinie öffentlich diffamiert werden und nun wieder mehr oder weniger offene Zensur beispielweise dahingehend stattfindet, dass YouTube-Kanäle, die sich kritisch zum Umgang der Bundesregierung zum Thema Covid-19 oder ganz generell Zweifel an dem offiziellen Narrativ einer besonderen Gefährlichkeit des Virus äußern, gesperrt werden?
Ich sehe die aktuell zu beobachtenden Verhältnisse als böses Omen für den Zustand und die Zukunft der vielbeschworenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dieser Status quo einer in weiten Teilen nur pseudoaufgeklärten Gesellschaft, dazu in Kombination mit einer inzwischen vollkommen überbordenden political correctness, macht es in meinen Augen zwar nicht unmöglich, aber doch sehr schwer, sich wirklich freie, von der Lenkung eines Anderen unabhängige Gedanken zu machen und seine eigene, mehr oder weniger autonome Sicht auf die Welt und auch auf die eigene Stellung in dieser zu entwickeln.
Wo aber die Gedanken nicht frei sind, besteht, da der Mensch ja nahezu dazu gezwungen ist, sich an irgendwelchen Handlungsmaßstäben auszurichten, nach meiner Einschätzung aber auch die gesteigerte Gefahr einer Unterwürfigkeit zumindest in dem Maße, das sich derzeit deutlich zeigt. Das ist jetzt natürlich keine originär juristische Feststellung, formuliert aber doch eine brisante demokratietheoretische Fragestellung.
Um aber auf Ihre eigentliche Frage zurückzukommen: Die Kanzlerin und ihre Berater dürften nach meiner Einschätzung insgesamt recht genau darüber im Bilde sein und scheinen diesen Umstand gezielt zu nutzen, dass eine in Angst und Schrecken versetzte Bevölkerung noch gefolgsamer als ohnehin schon ist oder wenigstens sein könnte beziehungsweise eigentlich sein müsste.
Unter dem Bann einer - auf weite Strecken unausgeloteten - Infektions- und Gesundheitsgefahr durch das Coronavirus gleichen sich die Alarmierungsrufe von Regierenden, Opposition und den zur Information und Meinungsbildung gedachten Medien bis zur Nichtunterscheidbarkeit einander an und erinnern bereits bedrohlich an Grundzüge der seinerzeit von Wilhelm Reich analysierten "Massenpsychologie des Faschismus". Ein absichtliches Hervorrufen massenpsychologischer Ängste und deren Ausnutzung zum besseren Lenken der Bevölkerung würde freilich einen Machtmissbrauch darstellen, der sich als Grundlage für die Einleitung eines konstruktiven Misstrauensvotums, also einer Art Amtsenthebungsverfahren, gegen die Bundeskanzlerin darstellen könnte.
Ohne den Grundsatz "In dubio pro reo" infrage zu stellen und ohne die Gesundheit auch nur eines einzigen Menschen durch eine Covid-19-Infektion unnötig gefährdet sehen zu wollen, halte ich diese Aspekte jedenfalls für dringend klärungsbedürftig.
Die Lage ist, was die massive Einschränkung unserer Grundrechte angeht, ziemlich unübersichtlich. Die Eingriffe in die Grundrechte variieren nicht nur von Bundesland zu Bundesland, sondern mitunter auch in den Gemeinden. Mecklenburg-Vorpommern verbietet über Ostern allen Bürgern im Bundesland den Ausflug zum See. Wie sind solche Verbote im Hinblick auf unsere Verfassung einzuordnen?
David Jungbluth: Diese Grundrechteeingriffe sind inzwischen ja dankenswerterweise schon vielfach kritisiert worden. Wenn ich mal hier den ersten Abschnitt des Grundgesetzes "Grundrechte", also die Art. 1 bis 19 durchgehe, ist schon bemerkenswert, wie viele von diesen auf einmal, oftmals erheblich, betroffen sind. Man kann hier ganz einfach chronologisch vorgehen:
- Art. 2 Abs. 1 GG - Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit,
- Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 1 - Recht auf Leben (soweit durch die getroffenen Maßnahmen lebensbedrohliche Zustände anderer Art, also nicht durch das Virus, eintreten sollten),
- Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 - Recht auf körperliche Unversehrtheit,
- Art. 3 Abs.1 GG - allgemeiner Gleichheitssatz (beispielsweise durch die unterschiedliche Behandlung von Berufsgruppen im Hinblick auf die Schließung von Läden),
- Art. 4 Abs. 1 und 2 - Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit,
- Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG - Recht der freien Meinungsäußerung,
- Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 2 GG - Informationsfreiheit,
- Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 1 - Pressefreiheit,
- Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 2 - Rundfunkfreiheit,
- Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 3 - Filmfreiheit
und gegen das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG wird nach meiner Einschätzung zudem, zumindest mittelbar, durch die bereits benannte Sperrung von You-Tube- Kanälen verstoßen
Ich könnte jetzt hier beliebig fortsetzen, erspare uns das aber. Ohne es jetzt genau geprüft zu haben, schätze ich, dass circa 95 bis 98 Prozent der im Grundrechtskatalog enthaltenen Grundrechte durch die Maßnahmen, teilweise fast bis in den Kernbereich, eingeschränkt sind.
Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs.1 GG habe ich bei dieser Aufzählung übrigens zunächst bewusst außen vorgelassen. Es ist aber auch hier die Frage zu stellen, ob diese nicht beispielsweise tangiert ist, wenn die Menschen unter Androhung von Bußgeldern, wenn nicht gar Strafen, dazu angehalten werden, zu Hause mehr oder weniger hoffnungslos beziehungsweise ohne jegliche klare Perspektive vor sich hin zu vegetieren.
Ganz zu schweigen von den Menschen, die ohne Beisein ihrer Angehörigen zu sterben haben, oder die in Alten- oder Pflegeheimen oder auch in Krankenhäusern keinen Besuch mehr bekommen dürfen. Das ist meines Erachtens menschenunwürdig im Wortsinne! Und das zudem auf Grundlage einer nicht in hinreichender Weise belastbaren medizinischen Evidenz der Gefährlichkeit des Virus. Die Menschenwürde ist aber bekanntlich unantastbar (Art. 1 Abs. 1 GG), das heißt: ein Eingriff in diese ist nie gerechtfertigt!

"Eine Person, die im Auto sitzt, kann weder sich noch einen anderen anstecken"

Lassen Sie uns nochmal auf ein Fallbeispiel kommen: Ein Bürger möchte, weil ihm der Sinn danach ist, von einem Bundesland in ein anderes fahren. Er wird bei dieser Fahrt sein Auto nicht verlassen. Was ist von einer Verfügung zu halten, die ihm diese Fahrt verbietet?
David Jungbluth: Um es knapp zu machen: Nichts!
Eine solche Verfügung greift in das Grundrecht auf Freizügigkeit ein und, zumindest hilfsweise, in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Zudem könnte auch Art 2. Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit) betroffen sein, wenn der Ausflug für die betroffene Person gesundheitsfördernd ist.
Grundrechteingriffe bedürfen, um gerechtfertigt werden zu können, immer eines legitimen Zwecks, den sie verfolgen. Man kann hier vielleicht noch mit dem Gesundheitsschutz im Hinblick auf das Virus argumentieren. Weiter haben aber diese Maßnahmen, die getroffen werden, auch geeignet zu sein, den erstrebten Zweck zu verwirklichen. Das kann ich hier, wie oben dargestellt, nicht erkennen: Eine Person, die im Auto sitzt, kann weder sich noch einen anderen anstecken. Damit ist die Maßnahme ungeeignet, um den Zweck zu erreichen. Punkt.
Zweites Beispiel: Ein Bürger möchte, weil ihm der Sinn danach ist, von einem Bundesland in ein anderes fahren, um spazieren zu gehen. Er beachtet beim Aussteigen alle Hygienevorgaben, die im Sinne der Ansteckung bzw. Weiterverbreitung mit dem Coronavirus zu beachten sind. Er ist so vorsichtig, dass er nur an jenen Orten aussteigt, wo er keine Menschen sieht. Sobald er Menschen sieht, entfernt er sich. Kann man diesem Bürger seinen Osterausflug verbieten?
David Jungbluth: Auch hier kann ich nur auf das verweisen, was ich bereits angeführt habe. Ob der Bürger jetzt im heimischen Stadtwald oder im Schwarzwald, auf der Zugspitze oder am mecklenburgischen Strand spazieren geht, macht erst einmal, im Hinblick auf den verfolgten Zweck, also der Verhinderung weiterer Infektionen, keinen Unterschied. Ergo: Maßnahme ungeeignet.

Mangelnde Rechtssicherheit

Wenn wir annehmen, dass die Gefahren, die von dem Virus ausgehen, weitreichend sind, lassen sich auch Einschränkungen der Grundrechte nachvollziehen, oder?
David Jungbluth: Ich plädiere hier mit Sicherheit nicht für einen sorglosen Umgang, solange nicht geklärt ist, wie gefährlich das Virus tatsächlich ist. Die Grundrechte wirken ja auch im Sinne einer Schutzpflicht des Staates für seine Bürger, sind also nicht nur als klassische Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt zu verstehen.
Das Problem ist aber schon in Ihrer Fragestellung impliziert: Welche Maßstäbe legen wir an, und wie bekommen wir eine tatsächliche medizinische Evidenz? Die tatsächliche Gefährlichkeit des Virus ist nach meinen Erkenntnissen nicht nur nicht gesichert, sondern es verdichten sich wohl immer mehr die Hinweise, dass es, zumindest im Vergleich zu anderen Pandemien wie der Influenza A und B, keine gesteigerte Gefährlichkeit aufweist.
Ich kann das medizinisch nicht beurteilen, aber wenn ich zur Kenntnis nehme, dass die Sterberaten in der Europäischen Union nicht oder wenn, dann nur in geringfügigem Maße, über jenen in den vergangenen Jahren liegt, auch in Italien, gibt mir das schon zu denken. Auch und vor allem deswegen, und jetzt kommen wir wieder auf die rechtliche Ebene, weil völlig unklar ist, wann die jetzt getroffenen Maßnahmen zurückgenommen werden sollen. Es existieren in meinen Augen keinerlei fixe Zahlenwerte in dem Sinne, dass gesagt werden würde: Wenn nicht bis zu dem Datum X diese Entwicklung eingetreten oder nicht eingetreten ist, werden die Kontaktsperren zumindest teilweise wieder aufgehoben.
Es gibt ein weiteres, ganz grundlegendes Prinzip, nämlich das Prinzip der Rechtssicherheit.
Was bedeutet das?
David Jungbluth: Diese gebietet, als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, dass im Hinblick auf erlassene Rechtsnormen Klarheit, Vorhersehbarkeit und Gewährleistung herrschen. Das kann ich vor dem Hintergrund der vorbeschriebenen Statistiken und der getroffenen Maßnahmen in keiner Weise erkennen. Dies auch und gerade deswegen nicht, weil ja immer neue Verschärfungen durchgedrückt werden.
Jetzt wird ja beispielsweise schon eine Pflicht zum Tragen von Atemschutzmasken diskutiert, und zwar nach meiner Kenntnis, ohne dass eine solide Evaluation der bisher getroffenen Maßnahmen stattgefunden hätte. Zumindest wurde eine solche nicht deutlich nach außen kommuniziert. Das sind Grundrechtseinschränkungen in Wild-West-Manier, oder, um es juristischer auszudrücken, vollkommen willkürliche Maßnahmen.
Verhältnismäßigkeit ist in dem Zusammenhang also ein wichtiger Begriff.
David Jungbluth: Genau. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit besagt, dass staatliche Maßnahmen, die in Grundrechte eingreifen, immer einen legitimen Zweck zu verfolgen und dass diese Maßnahmen dann auch zur Zweckverfolgung geeignet, erforderlich und angemessen zu sein haben.
Ich will hier jetzt nicht auf die einzelnen Punkte eingehen, aber was die Frage der Angemessenheit betrifft, muss immer eine sogenannte Zweck-Mittel-Relation stattfinden, also eine Abwägung der Gewichtigkeit des Zweckes, der verfolgt wird (hier: der Schutz vor dem Virus) und der Gewichtigkeit der betroffenen Grundrechte.
Haben Sie mitbekommen, dass hier eine solche Abwägung stattgefunden hätte? Ich nicht. Ich wäre auch gespannt, wie diese ausfällt, wenn ein Großteil des Grundrechtskatalogs quasi wegrasiert wird.
Was würden Sie einem Bürger raten, der an seiner Einreise nach Mecklenburg-Vorpommern gehindert wird? Wie sollte sich ein Bürger verhalten, wenn er bei seinem Ausflug in die Berge, an die See oder in den Wald von Ordnungsbehörden angesprochen und vielleicht sogar gemaßregelt wird?
David Jungbluth: In einer solchen Situation würde ich zunächst ein sachliches und freundliches Gespräch suchen. Die Mitarbeiter der staatlichen Ordnungsbehörden sind ja auch Menschen, in deren Reihen teilweise erhebliche Zweifel bestehen dürften, ob das, was momentan geschieht, alles seine Richtigkeit hat. Ich halte es jedenfalls generell für wichtig, Gespräche mit anderen zu suchen, egal mit wem und zu welchem Anlass, um eine Art von Gegenbewusstsein zu schaffen. In dem von Ihnen beschriebenen Fall könnte man also eventuell die Angelegenheit "auf Kulanzbasis" aus der Welt schaffen.
Sollte das nichts bringen, würde ich ankündigen, gegen die Maßnahme rechtlich vorzugehen. Für den Fall, dass das Ordnungsamt beziehungsweise die Polizei sich in den Augen des Betroffenen unangemessen verhält, würde ich zudem die Dienstnummer verlangen; dies sollte aber wirklich nur in Ausnahmefällen erfolgen, da ich es nicht für sinnvoll halte, hier weiter an der Eskalationsspirale zu drehen.
Unabhängig davon, ist es in solchen Situationen empfehlenswert, zumindest einen, möglichst neutralen Zeugen beizuziehen - natürlich unter Einhaltung der 1,5 beziehungsweise 2-Meter-Abstand-Regel, ist ja klar.

"Das Bundesverfassungsgericht duckt sich weg"

Wie sieht es eigentlich mit dem Bundesverfassungsgericht aus? Die Grundrechte wurden so massiv eingeschränkt wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik.
David Jungbluth: Der inzwischen pensionierte Verfassungsgerichtsvorsitzenden Papier hat sich zu Wort gemeldet. Das war es auch schon.
Woran liegt es, dass man vom Bundesverfassungsgericht nichts hört?
David Jungbluth: Die bisherigen Verfahren, die dort vorgelegt wurden, haben die Karlsruher Richter bisher einfach nicht zur Entscheidung angenommen. Und zwar in erste Linie wohl mit der schlichten Begründung, dass primär die Fachgerichte, also hier in erster Linie die Verwaltungsgerichte, für die Entscheidungen zuständig seien.
Was doch auch korrekt ist.
David Jungbluth: Das ist prinzipiell auch richtig, weil die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, nach der Konzeption der deutschen Gerichtbarkeit, quasi nur ultima ratio und kein alltäglich inflationär praktizierter Usus sein sollte. Allerdings kennt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz, also die Prozessordnung für das Bundesverfassungsgericht, eine Vorschrift, nach welcher das Gericht eine sogenannte Vorabentscheidung fällen kann.
"Vorabentscheidung"? Wann ist das der Fall?
David Jungbluth: Unter anderem dann, wenn eine Rechtsache von "allgemeiner Bedeutung" vorliegt, so dass in diesen Fällen eben keine vorherige Anrufung der Fachgerichte erforderlich ist. Gestatten Sie mir bitte eine Frage zu stellen?
Gerne.
David Jungbluth: Wann, wenn nicht jetzt, könnte man von der "allgemeinen Bedeutung" eines Verfahrens sprechen? Von den aktuellen Einschränkungen der Grundrechte ist doch jeder Einzelne betroffen.
Ich habe eine der wohl ersten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem Kontext gelesen. Der dortige Antragsteller hat in dem Verfahren auf eben diese Vorschrift Bezug genommen. Und was haben die Damen und Herren Bundesverfassungsrichter gemacht?
Sie sind auf den gesamten sonstigen Vortrag des Beschwerdeführers eingegangen (was originäre Aufgabe eines jedes Gerichts ist), aber eben nicht auf diesen einen entscheidenden Punkt. Es hat also die Möglichkeit einer sogenannten Vorabentscheidung aufgrund einer allgemeinen Bedeutung der Rechtssache mutmaßlich bewusst übergangen (will man nicht von einer plötzlichen Vergesslichkeit des gesamten Gremiums ausgehen)!
Was bedeutet das?
David Jungbluth: Wenn unser höchstes Gericht so agiert, dann erwarten Sie bitte nicht von einem Verwaltungsgericht, das in der Regel mit nur einem Richter besetzt ist, aber auch nicht von einer Kammer mit drei Richtern, von einem Oberverwaltungsgericht oder auch dem Bundesverwaltungsgericht, dass eine dieser Rechtsprechungsinstanzen die gegenständlichen Anordnungen kurzerhand aufhebt. Diese richterliche Aufhebung würde eine Konfrontation mit der nahezu gesamten politischen Riege bedeuten. Die richterliche Entscheidung würde sich auch gegen einen großen Teil der Medien stellen, die mehr auf Panikauslösung als auf eine kritische Diskussion setzen.
Obwohl Richter ihre Entscheidungen vollkommen unabhängig zu treffen haben, kommt es zudem mit äußerst hoher Wahrscheinlichkeit immer mal wieder zu inoffiziellen aktuellen "Nachfragen nach dem Stand der Dinge" von Seiten eines Landesministeriums oder auch der Bundesregierung.
Wie ist diese Aussage zu verstehen?
David Jungbluth: Die Wahrscheinlichkeit zu derlei Beeinflussungsversuchen auf Basis harmloser Nachfragen ("Was ist denn da gerade bei euch los?") steigt mit der Brisanz der anstehenden Entscheidung - wenn etwa ein Oberverwaltungsgericht eine zu Corona erlassene Rechtsverordnung aus inhaltlichen (und nicht nur aus rein formalen) Gründen aufheben würde. Wie würden Sie in dieser Situation als Richter entscheiden?
Das Bundesverfassungsgericht hätte eigentlich, zumindest nach seinem Habitus und angesichts seiner Angesehenheit in diesem Land, die ich übrigens aufgrund meiner Erfahrungen mit dieser Institution nicht teilen kann, unter allen Umständen eine Art moralische Verpflichtung, sich dieser Sache anzunehmen. Die rechtliche Möglichkeit dazu ist vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz, wie erläutert, eingeräumt. Statt aber hier Flagge zu zeigen, sprich: die entsprechenden Verfahren zur Entscheidung anzunehmen, duckt sich das Bundesverfassungsgericht weg, und dies unter ganz offensichtlich bewusster Ignorierung einer Vorschrift, die mit guten Gründen genau das Gegenteil normiert. Das grenzt in meinen Augen, das formuliere ich ohne Übertreibung, an einen Offenbarungseid.
Auf die Gerichte sollten wir uns hier also, und auch das sage ich in aller Deutlichkeit, nicht verlassen. Ich denke folglich auch nicht, dass wir aus dieser Situation allein mit rechtlichen Mitteln, also im Sinne einer Ausschöpfung des formalen Rechtswegs, herauskommen werden. Es sollte daher meines Erachtens darum gehen, zwischen den Menschen zunächst kritisches Bewusstsein und Solidarität zugleich zu erzeugen, um auf politischer - um genau zu sein: auf basisdemokratischer - Ebene, einen Wandel herbeizuführen. Hier kann und sollte sich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten beteiligen!

Gerichte, Medien und Parlamente werden in Postkrisenzeiten die Entscheidungen nicht wirklich aufarbeiten

Halten Sie eine sachgerechte juristische Aufarbeitung der Entscheidungen, die die Regierungen getroffen haben, für realistisch?
David Jungbluth: Von den Gerichten mit Sicherheit nicht. Diese sind nicht nur generell überfordert, sondern in meinen Augen auch nicht in der Lage, so etwas zu leisten: weder in ihrer Struktur noch in ihrer tendenziellen überwiegenden Geisteshaltung, vor allem aber auch nicht wegen ihrer Einbettung in die herrschenden Machtstrukturen.
Was bleibt? Die Medien?
David Jungbluth: Davon gehe ich nicht aus. Die Medien, jedenfalls die, die nicht zu den sogenannten Alternativen zählen, haben einen erheblichen Teil zu dieser eskalierenden Situation beigetragen.
Die Parlamente? Auf Landes-, auf Bundesebene?
David Jungbluth: Die Parlamente? Die haben sich, wie ausgeführt, einen nahezu vollständigen Knock-Out verpasst und können ihrer ureigentlichen Aufgabe, nämlich der Kontrolle der Regierung, nicht mehr nachkommen. Von ihnen ist kaum zu erwarten, dass sie die Ereignisse in Postkrisenzeiten, beispielsweise in Form von Untersuchungsausschüssen, sachgerecht aufarbeiten. Damit würden sie schließlich, zu Ende gedacht, die Frage ihrer eigenen Legitimität aufwerfen.
Wenn nicht die Parlamente, die Gerichte, die Medien, wer könnte dann die Aufarbeitung übernehmen?
David Jungbluth: Wir kommen um eine Frage nicht herum: Wie soll die demokratische und (damit) auch die organisatorische Verfasstheit dieses Staates in der Zukunft aussehen?
Ich plädiere für einen vollkommenen demokratischen und auch rechtstaatlichen Neustart unter einer neuen Verfassung, die diesen Namen auch verdient hat, weil sie vom gesamten deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen wird. Diese Forderung steht übrigens auf dem Boden des Grundgesetzes, nämlich auf Art. 146 GG, und ist zutiefst demokratisch.
Geschenkt werden wird uns eine derartige Neuerung, wie auch schon alle bisherigen gesellschaftlichen Fortschritte, sicher nicht. Wir haben dies daher nachhaltig und lautstark einzufordern und dafür im Zweifel, im Geiste des Humanismus und damit friedlich, zu erkämpfen. Auch ein Recht zum Widerstand ist übrigens für Zeiten wie die hiesigen grundgesetzlich verankert, nämlich in Art. 20 Abs. 4 GG. Meine Einordnungen und Forderungen bewegen sich also auf dem - aktuell evident bedrohten - Boden des Grundgesetzes.

"Ich erwarte von der Bundesregierung eine schnellstmögliche Aufklärung" über den Bericht aus dem Innenministerium

Gerade erst hat die Online-Plattform "Frag den Staat" ein internes Papier veröffentlicht, das aus dem Innenministerium stammen soll. Dort ist unter anderem zu lesen, dass Bürger in Angst versetzt werden sollen. So steht darin etwa: "Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden." Und dann werden auch Kinder ins Visier genommen. So heißt es: "Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann." Wie nehmen Sie als Jurist, aber auch als Bürger diese Stelle wahr?
David Jungbluth: Letzten Endes steht dieses antiaufklärerische und im Ergebnis menschenverachtende Papier in meinen Augen symbolhaft für den Umgang von Politik und Mainstreammedien mit der aktuellen Situation, in der eine "Horrormeldung" nach der nächsten verbreitet wird, oftmals aus dem Kontext gerissen, wenn sich nicht sogar als vollständige Unwahrheit entpuppend, um die Bevölkerung in einem ständigen Angespanntheits- bis Panikmodus zu versetzen und in diesem zu halten.
Diese Entwicklungen gab es ja durchaus schon vor der "Coronakrise", indem uns beispielsweise die latente Gefahr eines terroristischen Anschlags suggeriert wurde. Wenn dieses Instrumentarium dann dazu genutzt wird, staatlichen Maßnahmen zur "Akzeptanz" zu verhelfen, die sonst auf (erheblichen) Widerstand gestoßen wären, verstößt das gegen die grundgesetzlichen Fundamentalprinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, aber auch gegen die Garantie der Menschenwürde, da der Einzelne in diesem Fall in seinem eigentlichen Wille gebrochen und damit gleichsam zum Objekt staatlichen Handelns gemacht wird.
Es ist ja offensichtlich noch unklar, wer genau Urheber dieses Machwerks ist und inwieweit es im Rahmen der aktuellen politischen Öffentlichkeitsarbeit Anwendung gefunden hat. Bemerkenswert ist aber ja in jedem Fall schon mal, dass so ein Papier von wem auch immer überhaupt in Auftrag gegeben wurde. Und fast noch bemerkenswerter erscheint mir, dass es offensichtlich ausschließlich von Ökonomen verfasst wurde? Warum eigentlich? Wenn es wirklich um den Schutz der Bevölkerung und um ein Einwirken auf deren Verhalten gegangen wäre, wären dann nicht Mediziner und/oder Verhaltensforscher oder ähnliche Wissenschaftler daran zu beteiligen gewesen? Daher nochmal meine Frage, die ich ganz deutlich in den Raum stelle: Warum gerade Ökonomen?
Ich erwarte hier jedenfalls von der Bundesregierung eine schnellstmögliche Aufklärung über die genauen Urheber dieses Berichts, vor welchem Hintergrund dieser in Auftrag gegeben worden ist und ob dieser im Rahmen der getroffenen Maßnahmen Berücksichtigung gefunden hat. Die Wahrhaftigkeit einer eventuellen Antwort wird genau zu überprüfen sein.
Des Weiteren sollte sich das Parlament, wenn es denn mal wieder zusammenkommt, schnellstmöglich damit befassen und um eine sofortige Aufklärung bemühen. Aber wie schon angedeutet, steht hier meines Erachtens nicht viel zu erwarten, da das Parlament sich offensichtlich in einer Art Untergangsmodus befindet.
Haben Sie vielleicht ein Mut machendes Schlusswort?
David Jungbluth: Ich kann insofern nur auf meine oben gemachten Ausführungen Bezug nehmen: Wir brauchen nach meiner Einschätzung etwas grundlegend Neues. Sehen wir diese Krise tatsächlich als Chance, nicht nur im Hinblick auf die Frage der Neustrukturierung unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, auch das halte ich für lange überfällig, sondern auch und gerade im Hinblick auf unser politisches System. Nur am Rande: Das eine kann ohne das andere gar nicht gedacht werden.
Und zum Schluss möchte ich auch noch eine paar persönliche Worte loswerden: Ich bin mir bewusst, dass ich, wie auch schon viele andere, erheblich angegriffen werden könnte, weil ich mich hier recht deutlich exponiert habe. Ich nehme das in Kauf, weil ich denke, dass es jetzt nicht mehr um die Befindlichkeiten oder auch nur Bequemlichkeiten einzelner, sondern um unser aller Wohl, um die fundamentalen Grundsätze von Demokratie und Rechtstaatlichkeit geht - und für diese können wir uns alle, jeder auf seine Art, einsetzen.
Es besteht jetzt vielleicht wirklich eine große Chance, in der Krise die Dinge nach langer Zeit, jenseits politischer abgenutzter Floskeln, wirklich zu einem Besseren zu bewegen. Und zwar nicht zum Wohle vermeintlicher Repräsentanten des Volkes, sondern um unser alles willen, unabhängig von geografischer und sozialer Herkunft, Geschlecht, Bildungsstand, Religion und Weltanschauung.
Das können wir aber nur, wenn wir einheitlich und solidarisch auftreten. Und wenn wir das sind, braucht auch niemand Angst zu haben, dass er alleine zurückbleibt. Lasst uns also nicht zu eingeschüchterten und verängstigten Untertanen werden. Wir alle sind die Polis.

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