Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Seite 3: Lügde: Postkartenidyll mit tiefen Rissen

Der Fall aus Staufen schlug hohe Wellen in den Medien. Auch international. Kaum war dies abgeflaut, geriet ein Ort namens Lügde in die Schlagzeilen. Ein verschlafenes kleines Nest im Lippischen, Fachwerk und Kopfsteinpflaster prägen das Stadtbild. Die einstige "Festungsstadt" der Grafen von Pyrmont wurde einer Festungsmauer mit sieben Wehrtürmen umgeben. Die Mauer sowie zwei der Türme sind bis heute erhalten. Und offenbar auch die Trutzburg-Mentalität, denn anders ist nicht zu erklären, was sich auf dem Campingplatz "Eichswald" im Lügder Ortsteil Elbrinxen über Jahre abspielte.

Am 29. Januar 2019 gab die Staatsanwaltschaft Detmold offiziell die Festnahme von Andreas V. bekannt. Dieser lebte seit mehr als 30 Jahren als Dauercamper auf dem Campingplatz, seit 2016 mit einem damals sechsjährigen Mädchen als Pflegetochter. Andreas V. und ein weiterer Tatverdächtiger, Mario S., ebenfalls Dauercamper in Elbrinxen, wurden beschuldigt, Kindern sexualisierte Gewalt angetan und das gefilmt zu haben. Als Auftraggeber für die Videos gilt Heiko V. aus dem niedersächsischen Stade, der zwar nie vor Ort gewesen sein, aber das Geschehen via Computer beobachtet und orchestriert haben soll. Auch kinderpornographisches Material soll auf dem Campingplatz produziert worden sein.

Wie der NDR berichtete, stellte sich im Lauf des Verfahrens heraus, dass Dauercamper Andreas V. über den Zeitraum von etwa einem Jahrzehnt Kinder sexualisierter Folter ausgesetzt und sie dabei gefilmt haben soll. Die Rede ist von 40 mutmaßlichen Opfern und zwölf Verdachtsfällen. In diesem Jahrzehnt soll ein schier unvorstellbares Ausmaß an kinderpornographischem Material entstanden und mehrere Mittäter daran beteiligt gewesen sein. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte demnach, dass die strafrechtliche Aufarbeitung des tausendfachen Kindesmissbrauchs wegen der Menge an Beweismaterial kaum zu bewältigen sei. "Wir stehen vor Bergen von Daten, Bildern und Filmen, die da zusammenkommen", sagte Reul demnach.

Laut einem Bericht der Lippischen Zeitung mussten fast 3,3 Millionen Bilddateien und mehr als 86.000 Videodateien ausgewertet werden. 31 Kinder - 27 Mädchen und vier Jungen - das jüngste gerade einmal vier Jahre alt, sollen die Opfer gewesen sein. Rund 1.000 Taten in zehn Jahren. Am Ende wurde nicht nur gegen die Männer ermittelt, sondern auch gegen verschiedene Jugendämter und zwei Polizeibeamte. Sowohl ein Vater zweier Töchter als auch eine Mitarbeiterin des Jobcenters, bei dem Andreas V. unter Leistungsbezug war, wandten sich unabhängig voneinander an das Jugendamt Blomberg und die zuständige Polizeidienststelle.

Egal, weil sowieso "verwahrlost"?

Besagter Vater, Jens R., wandte sich an die Polizei mit dem Vorwurf, Andreas V. habe seine beiden Töchter unsittlich berührt. Außerdem informierte er das Jugendamt und den Kinderschutzbund. Auch die Polizei leitete den Hinweis an das Jugendamt Blomberg weiter. Die Sachbearbeiterin des Jobcenters wandte sich dem Spiegel zufolge ebenfalls an das Jugendamt Blomberg, wegen des Verdachts der Verwahrlosung des Mädchens. In einer Stellungnahme des Jugendamtes wurde nur der Vorwurf der Verwahrlosung erwähnt, nicht aber der Hinweis auf sexualisierte Gewalt. Bei einer Überprüfung der Lebensumstände des Kindes sei zwar keine Verwahrlosung, wohl aber eine "latente Kindeswohlgefährdung" festgestellt worden. Zuständig für das Kind war allerdings das Jugendamt im niedersächsischen Hameln, da dort die Mutter lebte, auf deren Wunsch das Mädchen zu Andreas V. auf den Campingplatz zog.

Das Amt in Blomberg empfahl den Kolleginnen und Kollegen in Hameln, sich nach einem anderen "Wohnumfeld" für das Mädchen umzuschauen. Die Niedersachsen ließen das Kind indes wo es war. Das war Ende 2016, erst nach einer weiteren Anzeige im November 2018 wurde das Mädchen in Obhut genommen und noch mehrere Wochen später, am 6. Dezember 2018, wurde Andreas V. verhaftet. Die Anzeige kam von der Mutter eines der betroffenen Mädchen.

Bereits im September 2016 hatte laut NDR eine Psychologin im Kindergarten des Pflegekindes die Vermutung geäußert, dass beim Pflegevater und späteren Hauptverdächtigen "Pädophilie im Spiel" sein könnte. Das Jugendamt des Landkreises Hameln-Pyrmont sah dafür keine Anhaltspunkte.

Serie von Pleiten, Pech und fragwürdigen Pannen

Die Staatsanwaltschaft Detmold ermittelte schlussendlich gegen beide Dienststellen wegen des "Verdachts auf Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht". Anfang Februar 2019 wurde bekannt, dass ein Mitarbeiter des Jugendamtes Hameln Akten manipuliert hatte. Wie der Spiegel berichtete, wurde zudem gegen eine weitere Person wegen des Verdachts der Datenlöschung ermittelt. Die beiden Polizeibeamten, gegen die ebenfalls ermittelt wurde, sollen den Vorgang im Mai 2017 ohne weitere Überprüfung einfach abgeschlossen haben.

Fünf Wochen nach der Verhaftung von Andreas V. wurde Mario S. verhaftet, der die Taten gemeinsam mit Andreas V. begangen haben soll. Abnehmer des kinderpornographischen Materials soll besagter Mann aus Stade gewesen sein. Insgesamt wurden dem BKA 13.000 Dateien übergeben. Alle produziert in einer selbstgebauten verfallen Holzhütte auf einem Campingplatz im Lippischen Lügde, und kaum jemand will etwas davon bemerkt haben.

Am 13. Dezember 2018 richtete die Kreispolizeibehörde Lippe die Sonderkommission "Camping" ein. Diese bestand zunächst aus vier, später aus acht, bzw. neun Beamten. Mitte Januar 2019 fiel auf, dass 155 Datenträger verschwunden waren. Diese waren am 20. Dezember 2018 das letzte Mal gesehen worden. Ein Kommissariatsanwärter soll eine Mappe mit 49 CDs und einen Alukoffer mit 106 CDs auf einem Schreibtisch liegen gelassen haben. Er war mit der Sichtung des Materials betraut gewesen. Gegen ihn wurde eine Untersuchung eingeleitet; der Leiter der Direktion Kriminalität der Kreispolizeibehörde Lippe wurde schließlich von seinen Aufgaben entbunden und versetzt, die Aufklärung wurde dem Polizeipräsidium Bielefeld übertragen.

In diesem Zusammenhang fiel dann auch auf, dass die beiden Polizeibeamten seinerzeit die Akte einfach geschlossen hatten. Gegen den ursprünglichen Leiter der Ermittlungskommission wurde später wegen eines anderes Falles Strafanzeige gestellt. Der LZ.de zufolge lautete der "Vorwurf: Strafvereitelung in einem anderen Sexualstrafverfahren und Siegelbruch in zwei weiteren Ermittlungsverfahren." Betroffen waren erwachsene Frauen. Wie die LZ-Autoren treffend formulierten, "glaubt nun auch in Detmold niemand mehr, dass die CDs nur ‚verlegt‘ worden sind".

Doch damit nicht genug. Bei neuerlichen Durchsuchungen der Holzhütte und weiterer von Andreas V. privat genutzter Räumlichkeiten wurden im Februar 2019 weitere Beweismittel sichergestellt. U. a. wurde ein Datenträgerspürhund eingesetzt, der einen USB-Stick aufspürte. Beim Abriss der Holzhütte im April 2019 wurde weiteres Datenmaterial gefunden: drei CDs, zwei Disketten sowie zehn Videos.

Dann stellte sich heraus, dass die Polizei einen Schuppen übersehen hatte, der Andreas V. gehörte. Als die Polizei die Existenz des Schuppens zur Kenntnis nahm, war dieser von dem Abrissunternehmen bereits leer geräumt worden. In einer Pressemitteilung der Polizei wurde dieser Umstand laut NDR nicht erwähnt.

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