Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Seite 5: Kindeswohl - eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung

Laut Bundesregierung ist "die Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen und zentrale Aufgabe des Staates." Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) sind demnach "die Fallzahlen für die Delikte der Kinderpornografie im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr um rund 65 Prozent gestiegen. Für die Delikte des sexuellen Missbrauchs von Kindern weise die Statistik für 2019 einen Anstieg von rund elf Prozent im Vergleich zu 2018 aus".

Deshalb hat die Bundesregierung am 25. März 2021 einen Gesetzesentwurf "zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder" vorgelegt. Laut Bundesregierung soll damit "der bisherige Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Straftatbestände aufgespalten werden, um den Deliktsbereich übersichtlicher zu gestalten und entsprechend der jeweiligen Schwere der Delikte abgestufte Strafrahmen zu ermöglichen".

Künftig soll sexualisierte Gewalt gegen Kinder grundsätzlich als Verbrechen eingestuft und mit Haftstrafen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden. Bisher waren auch sechsmonatige Freiheitsstrafen möglich - mit mehr als zehn Jahren mussten die Täter nur rechen, wenn das Opfer infolge der Tat gestorben war.

Die Verbreitung, der Besitz und die Besitzverschaffung von Kinderpornografie sollen ebenfalls als Verbrechen eingestuft werden. Mit einer neuen Strafnorm soll zudem das Inverkehrbringen und der Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild unter Strafe gestellt werden. Zu den weitergehenden Ermittlungsbefugnissen der Strafverfolgungsbehörden gehören Anpassungen der Straftatenkataloge der Telekommunikationsüberwachung, der Online-Durchsuchung sowie bei der Erhebung von Verkehrsdaten.

Für die Verbreitung von Kinderpornografie sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren vor (bisher drei Monate bis fünf Jahre) vor. Das gewerbs- und bandenmäßige Verbreiten soll künftig mit Freiheitsstrafen von zwei bis 15 Jahren geahndet werden können (bisher sechs Monate bis zehn Jahre). Der Verkauf, Erwerb und Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild soll mit Geldstrafen oder bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Zur Begründung des Verbots heißt es, es bestehe die Gefahr, dass die Nutzung solcher Sexpuppen die Hemmschwelle zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder absenke.

Der Antrag wurde mit den Stimmen der Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD sowie der AfD-Abgeordneten angenommen. Die Abgeordneten der FDP, der Grünen und der Partei Die Linke enthielten sich. Ihnen war der Gesetzesentwurf nicht differenziert genug.

So erläuterte die Linke-Abgeordnete Gökay Akbulut in ihrer Rede im Bundestag:

"Bei einem Ziel sind wir uns alle einig: Im Kampf gegen sexualisierten Missbrauch von Kindern darf es absolut keine Toleranz geben. Bei der Bekämpfung dieser Taten gibt es Handlungsbedarf. Wir unterstützen die Zielsetzung der Bundesregierung und einige der Maßnahmen wie die Fortbildung der Richterinnen und Richter; aber die Umsetzung in diesem Gesetzentwurf weist immer noch verschiedene Mängel auf. (...)

Die Bundesregierung konzentriert sich auf die Strafverschärfung als Mittel zur Abschreckung. Es wurde jedoch in vielen Studien nachgewiesen, dass es hier keinen Zusammenhang gibt. Deutlich wirksamer wären präventive Maßnahmen wie umfangreicher Personalausbau in der Jugendarbeit, bei den Telefonhotlines, bei den Beratungsstellen, bei den Therapieplätzen und in den Frauenhäusern. Die Bundesregierung begründet ihre Strafverschärfung mit den schrecklichen Fällen aus Staufen, Münster, Bergisch Gladbach und Lügde. Dies macht jedoch wenig Sinn, da die sich schon unter der aktuellen Rechtslage als Verbrechen darstellen. (...)

Denn die pauschale Hochstufung zum Verbrechen und das Fehlen einer Regelung zu minderschweren Fällen führen dazu, dass die erforderlichen Differenzierungsmöglichkeiten nicht mehr gegeben sind. Beispielsweise ist verfahrensrechtlich mit der Verbrechenseinstufung bei sehr leichten Fällen eine Einstellung ausgeschlossen. Es muss dann immer bei allen Fällen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, die für die Opfer eine Belastung darstellt."

Akbulut ging im Anschluss auf Grenzfälle die junge Teenager und Beschuldigte im jungen Erwachsenenalter betreffen und nannte einen "einvernehmlichen Kuss" als Beispiel. Im Kern geht es aber um Fälle, in denen ein klares Täter-Opfer-Verhältnis besteht.

Zudem ist der Bundestag keine Sozialarbeitervereinigung, in der es darum geht, die Täter da abzuholen, wo sie stehen, sondern die gesetzgebende Instanz der Bundesrepublik. Gegen Präventionsprogramme, soziale und auch finanzielle Maßnahmen spricht nichts, aber dagegen, ein Verbrechen als Verbrechen einzustufen, auch nicht. Warum nicht das eine tun und das andere nicht lassen?

Auch Sebastian Fiedler fordert eine zentrale Stelle für Kinderschutz in jedem Bundesland, "eine Telefonnummer, eine E-Mail-Adresse", hinter der jeweils ein Team von Expertinnen und Experten aus allen relevanten Teile stehe und an die sich beispielweise Erzieherinnen oder Lehrer im Verdachtsfalle wenden könnten. Der BKA-Experte sieht eine enge Verknüpfung der sexualisierten Gewalt gegen Kinder mit Gewalt gegen diese ganz allgemein. Es müssten Maßnahmen getroffen werden, um diese Fälle nachvollziehbarer zu machen. Dazu gehöre, dass Kinderärztinnen und -ärzte die Möglichkeit bekämen, sich im Verdachtsfalle mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen, betonte er bei Lanz. Viele gewalttätige Eltern betrieben sogenanntes "Doktor-Hopping": Um zu verschleiern, dass ihr Kind Opfer häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt sei, werde immer eine andere Praxis aufgesucht.

Sexualisierte Gewalt und Kindesmisshandlung seien ärztliche Diagnoseschlüssel. Um aber eine sichere Diagnose stellen zu können, müsste der gesamte Krankheitsverlauf des Kindes bekannt sein. Das sei indes unmöglich, wenn immer eine andere Praxis aufgesucht würde und die behandelnden Fachärztinnen und -ärzte nicht voneinander und der vorhergehenden Behandlung wüssten. Die Autorinnen und Autoren der MIKADO-Studie fordern verpflichtende frühe Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen sowie ihren Bezugspersonen, die sexualisierte Gewalt berücksichtigt, Kinder und Jugendliche ernst zu nehmen, Betroffenen Schutz zu bieten, Jungen als Opfer und Frauen als Täterin stärker in den Blick zu nehmen.

Auch "harmlos" kann für Betroffene heftige Konsequenzen haben

Wie "harmlos" ein solches Delikt sein kann, das nach damaliger gängiger Rechtsprechung nicht einmal justiziabel war, zeigt das Beispiel Sebastian Edathy: Auch scheinbar "harmlose" Aufnahmen können Persönlichkeiten brechen, Familien und Existenzen zerstören - selbst dann, wenn die betroffenen Jungen gar nicht gemerkt haben, dass sie fotografiert wurden. Sebastian Edathy galt als integrer Politiker. Von Januar 2012 bis zum 10. Februar 2014 war er Vorsitzender des 2. Untersuchungsausschusses des 17. Deutschen Bundestages zum Thema "Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund" und Mitglied der entsprechenden Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion.

Edathy galt als engagiert, kompetent und nachdrücklich bestrebt, die vielen Ungereimtheiten im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum NSU aufzuklären. Das bescheinigten ihm ausnahmslos alle in dem Ausschuss vertretenen Politikerinnen und Politiker. Für seine Arbeit wurde er mit dem Genç-Preis für friedliches Miteinander ausgezeichnet. Er hatte indes eine ungewöhnliche "Sammelleidenschaft", wie er es nannte: Auf seinem Rechner wurden im Internet erwerbbare Fotos unbekleideter (männlicher) Kinder, sogenannter Posings, gefunden.

Diese wurden von einer kanadischen Firma "Azov Films" verbreitet. Dortige Medien fanden heraus, dass die Kinder zwar freiwillig für ihren Karatelehrer Markus Rudolph R. posiert, aber nicht gewusst hatten, dass dieser ihre Fotos an die kanadische Firma verkaufte, von der sie weltweit vermarktet wurden. Für einige der Jungen hatte das heftige Konsequenzen. Nachdem klar war, dass "Azov Films" die Aufnahmen weltweit vertrieb, wurden sie zum Teil stigmatisiert und aus ihren Cliquen ausgeschlossen. Sie trauten sich nicht mehr in die Schule, kapselten sich von Gleichaltrigen ab.

Mehrere Eltern erzählten, ihre Söhne hätten eine komplette Wandlung vollzogen. Die Mutter eines Jungen, den R. anderen Eltern als seinen Sohn vorgestellt hatte, um deren Vertrauen zu erschleichen, verließ mit ihrem Sohn den Wohnort. Der Junge wurde als "schwul" bezeichnet, in einer Gegend, in der Homophobie weit verbreitet ist. Auch wurden sie von anderen Eltern dafür verantwortlich gemacht, dass deren Söhne ebenfalls Opfer von R. geworden waren.

Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Koffer zu packen, und umzuziehen. Von Irgendwo nach Nirgendwo. Für wen also sollten diese Fotos "harmlos" sein? Für den Konsumenten, der sich "nur" daran aufgeilte? Für die Jungen, die "nur" für ihren Karatelehrer posierten? Für die kanadische Firma, die "nur" Fotos vertrieb? Für die Familie, die "nur" ihre Existenz verlor?

Wer also sollte im Zentrum der Rechtsprechung stehen? Die Jungen, die ahnungslos ausgebeutet wurden? Oder die Erwachsenen, vom Karatelehrer über die Vertriebsfirma bis zum Kunden? Letztere zu belangen, steht nicht im Widerspruch zu medizinischen, psychologischen und sozialen Hilfsangeboten für die Opfer. Vermutlich halten härtere Strafen Pädokriminelle nicht von ihren Taten ab, aber sie werden zumindest für einen gewissen Zeitraum aus dem Verkehr gezogen. Wenn es gut läuft, für immer.

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