Viruswaarheid: Niederländischer "Querdenker" in Untersuchungshaft
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Sie wollen die Wahrheit über das Coronavirus verbreiten. Gegen den Anführer ermittelt nun die Staatsanwaltschaft. Was steckt dahinter und wie soll man damit umgehen?
Wir befinden uns im Mai 2020. In den Niederlanden versucht man sich in Lockerungen der zuvor verhängten Coronaschutzmaßnahmen: Mit Abstandsregeln dürfen Kinos, Theater, Konzertsäle, Bars, Cafés und Restaurants langsam wieder öffnen, jedenfalls für bis zu 30 Personen in Innenräumen. Auch im Sport und Freizeitbereich tastet man sich an Öffnungen heran.
Ende des Monats hat der Rotterdamer Tanzlehrer und ehemalige Biowissenschaften-Doktorand Willem Engel, Jahrgang 1977, seinen ersten bedeutenden Medienauftritt. Auf der regierungskritischen Internetplattform Café Weltschmerz erscheint am 29. Mai ein rund eineinhalbstündiges Interview mit ihm über das Coronavirus.
Darin hinterfragt Engel die Zuverlässigkeit von PCR-Tests sowie einige andere Annahmen über die Krankheit und ihre Verbreitung. Die Plattform und ihr Gast ziehen viel Aufmerksamkeit auf sich. Noch zwei Jahre später werden Engel und seine Mitstreiter die Öffentlichkeit, Politik – und nun sogar auch die Justiz beschäftigen.
Von "Viruswaanzin" zu "Viruswaarheid"
Schon kurz nach dem Interview, am 11. Juni 2020, gründet Engel die Protestgruppe "Viruswaanzin". Später bekommt sie den Namen "Viruswaarheid". Gegen die Einschränkungen und Verbote der niederländischen Regierung setzt sie das Motto: "Liebe und Einheit", zurzeit: "Liebe und Geduld".
Viruswaarheid, organisiert in der Rechtsform einer Stiftung, sieht den demokratischen Rechtsstaat in Gefahr. Die Website informiert über das Coronavirus, beziehungsweise Covid-19, die eigenen Aktivitäten, insbesondere in den Medien und Gerichten, und ruft zu Spenden auf. In einem siebenminütigen Video wird die Coronapandemie mit einer mittleren bis schweren Grippesaison verglichen.
An Engels Seite stellt sich der Rechtsanwalt Jeroen Pols, Jahrgang 1968. Dieser wohnt mit seiner Familie in Vogelenzang bei Haarlem und besitzt auch Immobilien in Deutschland. In Bremerhaven vermietet er nach eigenen Angaben Zimmer an Prostituierte. Manche Medien nennen ihn auch einen "Bordelbetreiber".
Im Jahr 2000 wurde er wegen Drogenhandels festgenommen und schließlich in Berufung zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. In dieser Zeit sei er zur Besinnung gekommen und habe noch im Gefängnis mit dem Jurastudium angefangen.
Pols arbeitete schon vor der Coronapandemie als Jurist für die Familie Engel, nämlich Willems älteren Bruder Jan und den Vater Cees Engel. Diese beiden kamen mit ihren Immobilien wiederholt in die Medien. Noch im August 2019 widmete ihnen De Correspondent eine lange Reportage.
Darin heißt es, Cees Engel sei in Rotterdam als "Bruchbudenkönig" bekannt geworden. Wer seine Aktivitäten als Vermieter positiv sehen möchte, erklärt es so: Engel senior gab Menschen in prekärer Situation, die anders keine Chance auf eine Wohnung hatten, ein Dach über dem Kopf. Wer es negativ sehen möchte, der wirft ihm vor, die Ärmsten der Armen auszunehmen.
Die Stadt Rotterdam zog 2007 jedenfalls einen Schlussstrich und gab ihm gegen die Auflage, dort nie mehr Immobilien zu besitzen, 13 Millionen Euro für 110 Wohnungen. Da hatten Jan und Cees Engel aber schon den Campingplatz "Fort Oranje" gekauft, woraufhin bald bei der zuständigen Gemeinde Zundert Meldungen über Unruhe und Kriminalität auf dem Terrain eingingen.
Was hat das alles mit Viruswaarheid zu tun? Nun, auf dem Campingplatz schien eine Schattenwelt zu entstehen, was schließlich die Behörden zum Eingreifen veranlasste. De Correspondent spricht von einem "paradiesischen Brutplatz von Elend". Die Gemeinde schloss das Terrain zwangsweise und fordert von den Besitzern Millionen. Diese verklagen wiederum die Behörden auf Schadensersatz.
Man kann sagen, dass man in der Familie Engel mit dem Staat, mit der Obrigkeit auf schwierigem Fuß steht. Ein Bindeglied ist Rechtsanwalt Pols, der für die Engels und jetzt auch Viruswaarheid zahlreiche Prozesse führt. Er ist ein streitbarer Jurist.
Die eine Seite sieht in ihm einen Helden, die andere einen Querulanten. Im April 2021 hielt er eine (deutschsprachige) Rede bei den "Querdenkern" in Aachen. Demnach seien die Niederlande eine Diktatur – und gebe es in Deutschland eine "Merkel-Diktatur".
Regierungskritik
Für Café Weltschmerz betreibt Pols bis heute eine wöchentliche Kolumne, die sich auf YouTube einige zehntausend Menschen anschauen. Themen sind beispielsweise der Umgang mit Protesten, die Haftung bei Impfschäden oder die Arbeit der Regierung.
In der Sendung vom 25. Januar 2022 wirft er der Regierung beispielsweise willkürliches Handeln beim Verhängen der Coronamaßnahmen vor. Es sei kein schlichter Irrtum gewesen, sondern ein Minister habe sich "bewusst für eine katastrophale Amtsführung entschieden". Nach knapp einer Minute folgt ein Hinweis, man werde auf YouTube zensiert. Darum müsse man sich die Folge auf der Plattform von Café Weltschmerz anschauen.
Auch Willem Engel geht mit der Regierung hart ins Gericht. In einem Clip für die niederländischen Parlamentswahlen 2021 wirft er ihr "institutionalisierte Korruption" vor. Pols nennt er den Anwalt seines Bruders und Vaters.
Regierungsbeamte täten Dinge, die eigentlich gesetzlich nicht erlaubt seien. Als Beispiel nennt er die Enteignung von Land- und Immobilienbesitz. Von einem "tiefen Staat" will er allerdings nicht so ohne Weiteres sprechen. Seine politische Gruppierung "Lijst30" (Liste 30) verpasst schließlich den Einzug ins Parlament.
Hier in den Niederlanden gilt, wohlgemerkt, keine Fünfprozenthürde. Zum Erreichen eines der 150 Sitze der "Tweede Kamer" in Den Haag hätten rund 70.000 Stimmen gereicht. So gibt es nach den Wahlen und verschiedenen innerparteilichen Konflikten dort zurzeit 21(!) Fraktionen. Die Regierungsbildung des heutigen Kabinetts war dann auch die bisher längste in der Geschichte der Niederlande.