Viruswaarheid: Niederländischer "Querdenker" in Untersuchungshaft

Seite 5: Kommentar

Auch wenn die Coronamaßnahmen hier in den Niederlanden bis auf Weiteres zumindest ruhen, werden die Auseinandersetzungen mit Viruswaarheid und insbesondere ihren Führungsfiguren Willem Engel und Jeroen Pols wahrscheinlich weitergehen. Viel hängt davon ab, ob die Staatsanwaltschaft dem Aktivisten Straftaten nachweisen kann.

Ob in Engels Aussagen Aufwiegelung oder ein anderer Tatbestand gesehen werden kann, wird gerichtlich zu klären sein. Im Falle einer Verurteilung ist ein Gang durch die Instanzen absehbar. Da es um das Grundrecht der Meinungsfreiheit geht, dürfte das bis auf die europäische Ebene gelangen, sich also über viele Jahre erstrecken. Anwalt Pols wird die Arbeit wohl nicht so schnell ausgehen.

Man könnte aber auch einmal überlegen, was eine Alternative zu den nicht endenden Konflikten und gerichtlichen Auseinandersetzungen wäre. Engels und Pols dürften in ihrer Vergangenheit durch massive Zusammenstöße mit den Behörden geprägt worden sein: Engel über seinen Bruder und Vater; Pols durch seine Beziehungen ins Drogen- und möglicherweise auch Rotlichtmilieu.

Als Willem Engel dann wegen der Coronamaßnahmen nicht mehr als Tanzlehrer arbeiten konnte, wurde er Aktivist. Zwei Jahre später sieht man, wie stark das öffentliche Klima dadurch beeinflusst und gesellschaftliche Ressourcen dadurch gebunden wurden. Pols wird wahrscheinlich immer weiter die Öffentlichkeit über Regierungsversagen "aufklären" und Gerichtsverfahren anstrengen.

Ruttes Bilanz

Das Bild der niederländischen Demokratie hat nach über zehn Jahren Mark Rutte aber auch Risse bekommen: So haben Finanzbehörden über Jahre hinweg schon kleine Fehler im Zusammenhang mit Sozialleistungen drakonisch bestraft. Eine unabhängige Kommission fand Hinweise auf rassistische Merkmale und die Datenschutzbehörde die Verwendung verbotener schwarzer Listen, mit denen nach Verstößen gesucht wurde.

Die Gerichte, die laut rechtsstaatlichen Prinzipien unabhängig von der Exekutiven sein müssen, haben über Jahre hinweg die Sichtweise der Regierung zu unkritisch übernommen. Dafür hat sich inzwischen sogar der oberste Verwaltungsrichter des Landes öffentlich bei der Bevölkerung entschuldigt.

Das Diskriminierungsverbot ist im Artikel 1 des niederländischen Grundgesetzes verankert. Man sieht sich als liberal, tolerant – und ist stolz darauf, als erstes Land der Welt die Homo-Ehe eingeführt zu haben. Im Januar 2021 trat dann aber die ganze Regierung kollektiv zurück, nachdem der Rassismusskandal ans Tageslicht gekommen war.

Das war nur zwei Monate vor den Parlamentswahlen. Kritiker könnten hierin ein taktisches Manöver sehen, um ein unangenehmes Thema aus dem Wahlkampf zu halten. Den Ergebnissen nach hat das funktioniert: Ruttes VVD konnte ihre Macht halten. Und da die Regierung rund ein Jahr lang geschäftsführend im Amt blieb, war der Rücktritt im Endeffekt nur eine Geste.

Bei den Ermittlungen zum Rassismusskandal kristallisierte sich auch ein Führungsstil heraus, der heute als "Rutte-Doktrin" bekannt ist. Demnach soll der Premierminister befördert haben, die Inhalte wichtiger Diskussionen vor dem Parlament und den Medien zu verbergen. Transparenz geht anders.

Keine sozialen Ursachen?

In öffentlicher Erinnerung ist auch geblieben, wie Rutte nach den Ausschreitungen gegen die Sperrstunde Anfang 2021 vor die Presse trat. Dabei schloss er kategorisch aus, über "soziale Ursachen" zu reden. Das erinnert an den berühmten Ausspruch der "eisernen Lady" Margaret Thatcher, dass es so etwas wie eine Gesellschaft nicht gibt.

An den Krawallen hatten sich vor allem jüngere Männer aus bildungsfernem Milieu und mit Migrationshintergrund beteiligt. Für diese waren die Lockdowns ganz anders als für wohlhabende, gut gebildete Menschen. Aber diese soziale Botschaft von #allesdichtmachen hat man ja auch in Deutschland nicht gerne gehört.

Bei den Krawallen in Rotterdam im November 2021 waren wieder bestimmte gesellschaftliche Gruppen – vor allem Fußballhooligans, deren Hobby verboten wurde – aktiver beteiligt. Die Polizei geriet dabei derart in Bedrängnis, dass Beamte einigen Randalierern in die Beine schossen.

Doch auch jenseits von Rassismus und Coronamaßnahmen funktioniert nicht alles bestens: So hat man das Schicksal von rund einer halben Million Niederländern im Nordosten des Landes im politischen Den Haag jahrelang ignoriert: Trotz zunehmender Erdbeben durfte das riesige Groninger (und übrigens an Deutschland grenzende) Gasfeld immer länger ausgepumpt werden.

Ebenso wie beim Rassismusskandal dauert die Aufarbeitung seit Jahren; und ebenso wie beim Rassismusskandal warten viele Betroffene seit Jahren auf Hilfe und Schadensersatz.

Und noch einmal zurück zu den prekären Wohnungen in Rotterdam und auf dem Campingplatz der Familie Engel: Es ist schlicht ein Fakt, dass bestimmte Menschen in den Niederlanden kaum eine Chance auf eine gute Wohnung haben, zum Teil als direkte Konsequenz der seit vielen Jahren herrschenden Sozial- und Bildungspolitik, während die Wohlhabenden mit Steuergeschenken bedacht werden.

Auch das ist ein Gesicht der "Rutte-Doktrin", das viele Wählerinnen und Wähler der VVD, denen es scheinbar gut geht und die auch nicht so schnell auf schwarzen Listen von Behörden landen, ausblenden. Im Übrigen habe ich selbst Behördenversagen in der niederländischen Wissenschaftspolitik von 2011 bis 2021 gerichtsfest nachgewiesen (Von einem, der sich wehrte).

Sichtweisen

Solche Vorgänge kann man als Fehlverhalten einzelner Beamter, als Systemversagen aufgrund von Fehlanreizen oder auch als Ausdruck einer großen Verschwörung ansehen. Bei Viruswaarheid scheint man meiner Wahrnehmung nach zur letzteren Interpretation zu neigen.

Wenn man gemeinsam als Gesellschaft vorankommen will, dann muss man auch darauf achten, bestimmte Schichten nicht systematisch auszugrenzen. Durch das langfristige Ignorieren der Interessen ganzer Gruppen, werden diese aber für extremere Ansichten anfällig.

In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass der Politiker und Soziologe Pim Fortuyn kurz vor seiner Ermordung im Jahr 2002 im Zusammenhang mit islamfeindlichen Aussagen in Rotterdam einen erdrutschartigen Wahlsieg erzielte. Die Stadt ist nicht nur vom Multikulturalismus geprägt, sondern auch von großen Wohlstandsunterschieden. Fortuyns Erfolg baute darauf, gezielt Wählerschichten anzusprechen, die sich trotz des ökonomischen Aufschwungs von den führenden Parteien vergessen fühlten.

Geert Wilders' PVV, die Fortuyns Politik gewissermaßen fortsetzte, hat in den Niederlanden eine bald zwanzigjährige Tradition; dabei war Wilders einst ein Parteigenosse Mark Ruttes. Dazu gesellt sich inzwischen Thierry Baudet mit seinem FvD. Zusammen kamen sie bei den Parlamentswahlen vom 17. März 2021 auf rund 16 Prozent der Stimmen und stellen sie 25 von 150 Abgeordneten.

Ein derartiger Erfolg ist Willem Engel bisher nicht beschieden. Bei den Wahlen erhielt seine Lijst30 nur 8.277 Stimmen. Sollte sich Viruswaarheid aber weiter radikalisieren, wäre der Gesellschaft damit auch nicht gedient.

Vielleicht könnte Mediation hier eine Alternative sein: Dass man sich statt immerwährender sozialer Konfrontation und gerichtlicher Streitigkeiten mithilfe einer unabhängigen Vermittlung überlegt, wie man sich wieder zueinander bewegen kann.

Schon während der rund zwei Wochen dauernden Untersuchungshaft wurde Engel von Viruswaarheid als politischer Gefangener dargestellt. Tatsächlich vereinnahmten die Aktivisten sogar Bildmaterial von Amnesty International, wogegen sich die Menschenrechtsorganisation wehrte.

So viel sollte klar sein: Falls Willem Engel eine Gefängnisstrafe bekommt, wird der Konflikt weitergehen und wahrscheinlich immer weiter eskalieren. Viele. Jahre. Lang.

Als Vorbild könnte hier ein Gerichtsurteil gegen Geert Wilders dienen: Dieser wurde im Oktober 2020 auch in Berufung wegen einer rassistischen Beleidigung von Marokkanern im Wahlkampf von 2014 verurteilt. Von einer Strafe sah das Gericht aber ab. Wilders sei mit den Verfahrenskosten und der Einschränkung durch den permanent nötigen Polizeischutz schon genug gestraft.