"Vollständige situative Kenntnis der Außengrenzen"
Seite 3: Durch Automatisierung zu semipermeablen Grenzen?
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"Die große Mauer des Kapitals" nannte Mike Davis die Grenzanlagen, mit denen sich die USA, Europa und Australien vom Globalen Süden abschotten. Aber anders als es das Bild von der "Festung Europa" nahelegt, sind die Metropolen weiterhin angewiesen auf einen reibungslosen Zustrom von Menschen und Waren. Ihre Grenzen müssen sozusagen semipermeabel sein: durchlässig für die richtigen Personen und Dinge und undurchlässig für die falschen.
Das ist keine triviale Aufgabe. Die Staaten reagieren, indem sie das heimliche Überqueren zwischen den sogenannten ports of entry (POE) möglichst schwer machen und andererseits die Selektion an den Grenzübergängen verbessern. Das ist nichts Neues - neu sind lediglich die technischen und organisatorischen Mittel zu diesem Zweck. Fast alle Neuentwicklungen zur Grenzsicherungen nutzen Sensor- und Computertechnik, um die Überwachung zu automatisieren und effektiver zu machen.
Sensoren sind, allgemein gesprochen, miniaturisierte Messgeräte, die chemische Partikel oder akustische, optische und Infrarotwellen in elektromagnetische Signale übersetzen und übertragen können. An den Grenzen eingesetzt dienen Sensoren beispielsweise dazu, einen Tunnelbau zu orten oder die Geräusche und Bewegungsmuster von Menschen von denen von Tieren zu unterscheiden. Die "neue Qualität" der Überwachung soll nun dadurch zustande kommen, dass die Daten von Kameras, Mikrophonen und anderen Sensoren mit Software zur Mustererkennung automatisch ausgewertet werden, um die jeweiligen "interventionsbedürftigen Situationen" zu erkennen und zu melden.
Es handelt sich sozusagen um Alarmanlagen neuen Typs: Durch die Automatisierung der Überwachung werden einerseits Personalkosten gesenkt, andererseits die Effektivität der Mitarbeiter gesteigert. Zu diesem Zweck müssen allerdings zunächst Modelle entwickelt werden, damit die Software verdächtiges Verhalten überhaupt von unverdächtigem unterscheiden kann. Das FP7-Forschungsprojekt ITC beispielsweise sucht deshalb nach Mustern wie ungewöhnliche Geschwindigkeiten, Richtungsänderungen oder einem nächtlichem Beladen, um Schiffe von Schleusern oder Schmugglern automatisch zu identifizieren.
Deutlich wird die Tendenz zur Automatisierung auch an den Grenzübergängen - dort, wo die großen regulären Waren- und Migrationsströme passieren, von denen im Bericht des ESRIF die Rede ist. Im Herbst 2009 haben europäische Grenzschutzbehörden am Flughafen im polnischen Warschau eine neue Anlage aus den USA getestet: den AVATAR Kiosk, entwickelt von der Fakultät für Management-Informationssysteme (MIS) der Universität von Arizona. Die Reisenden kommunizieren mit einer computeranimierten Figur auf einem Bildschirm - daher der Name - , während das Gerät unter anderem ihre Körperbewegungen, Stimme, Pupillengröße und Augenbewegungen misst und so ihre Aussagen auf Glaubwürdigkeit überprüft. Ausweispapiere und Fingerabdrücke können automatisch eingelesen und die Angaben der Reisenden mit Datenbanken aller Art abgeglichen werden, zum Beispiel mit Fahndungslisten. Entdeckt die Maschine tatsächliche oder vermeintliche Unstimmigkeiten, ruft sie Beamte, die den Fall weiter bearbeiten: AVATAR übernimmt sozusagen die Vorauswahl. Auf einer Präsentation für "Grenzkontroll-Innovationen" in Warschau diesen Monat wird Frontex unter anderem dieses Gerät vorstellen.
Schöne neue Grenz-Welt?
In ihren Werbebroschüren sprechen die Hersteller gerne von einer neuen Dichte und Flexibilität der Grenzkontrolle. "Aufgrund seiner Mobilität und Transportierbarkeit werden Zäune und eine fest installierte Infrastruktur überflüssig", verspricht beispielsweise TALOS. Aber gleichzeitig errichten viele Staaten ganz archaische Barrieren - beispielsweise an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei, wo die griechische Armee einen Wassergraben ausgehoben hat und ein Doppelzaun mit Stacheldraht gebaut werden wird (Rückkehr ins Mittelalter).
Wahrscheinlich werden die avancierten Anlagen, die im Rahmen der Sicherheitsforschung entstehen, die bisherigen Grenzanlagen nicht ablösen, sondern lediglich ergänzen. Ganz bestimmt aber werden die Grenzen der Zukunft nicht nur mit einer lautlos funktionierenden Überwachung und zielgenauen "Interventionen" kontrolliert werden. Ob Techno-Utopien wie TALOS überhaupt funktionieren, steht nicht fest: Trotz der allerneuesten Technik lassen sich immer noch viele Grenzkontrollen mit verblüffend einfachen Mitteln umgehen.
"Zeige mir einen 15 Meter hohen Zaun und ich zeige dir eine 16 Meter hohe Leiter!", sagte Janet Napolitano, die ehemalige demokratische Gouverneurin des amerikanischen Bundesstaates Arizona, als die USA versuchten, ihre Grenze zu Mexiko mit der Secure Border Initiative (SBI) abzudichten. Napolitanos Ausspruch ist zu einem Sprichwort geworden - das allerdings den Haken hat, dass mit der Aufrüstung der Grenze die Gefahr für Leib und Leben der Grenzgänger steigt. Bei einem Fall aus 15 Meter Höhe bricht man sich eher den Hals als bei einem Sturz von nur fünf Metern. Zu erwarten sind eher mehr statt weniger "Kollateralschäden", weil Einwanderer ohne Papiere zu immer gefährlicheren Maßnahmen greifen werden, um die Sperranlagen zu überwinden.