"Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet"
- "Vom Denken zum Schweigen: Wie die Cancel Culture die Philosophie tötet"
- Das Canceln und der kapitalistische Markt
- Auf einer Seite lesen
Warum lautes Nachdenken und das Canceln notwendig ist. Und wie uns Brecht aus dem Jahr 1929 und Merleau-Ponty aus dem Jahr 1947 helfen. Ein Appell in vier Teilen. (Teil 1)
Im Jahre 1947 stellte der französische Denker Maurice Merleau-Ponty über einige zutreffende Sätze des liberalen Soziologen Raymond Aron zum Wesen von Politik und Herrschaft fest, dass dieser damit einen Gedanken zum Ausdruck brachte, den er zwar nicht zu dem seinen machte. Er hielt ihn jedoch zumindest für einen der grundlegendsten. Dabei bestand keine Gefahr, dass man ihn deshalb anklagte, sich zum Knecht der Nazi-Herrschaft oder der kommunistischen Herrschaft zu machen.
Er fügte noch an: "Glückliche Zeiten. Man verstand noch zu lesen. Man konnte noch laut nachdenken. All das scheint endgültig vorbei zu sein."
Teil 2: Schweig oder stirb: Zur Tabuisierung von Kritik in der vermeintlich freien Gesellschaft
Teil 3: Von Meinungsfreiheit zu Klassenherrschaft: Warum öffentliche Meinung oft Privatbesitz ist
Teil 4: Von Brecht zu Biller: Wie das laute Denken aus der Linken verbannt wurde
Dass ein Philosoph im Jahr 1947 davon ausging, es hätten in den 1930er-Jahren günstigere Bedingungen fürs laute Nachdenken geherrscht, mag heute verwundern. Das Buch, in dem Merleau-Ponty die Sätze schrieb, hieß "Humanismus und Terror“ (Humanisme et terreur). Darin korrigierte er nebenbei einige alberne linke Meinungen zum Sowjet-Sozialismus. Es muss heute selbst als Paradebeispiel dieses lauten Nachdenkens gelten.
Das legt auch nahe, dass die Situation um das Jahr 1950 nicht so schlimm gewesen sein kann, wie der Denker annahm.
Was unsere heutige Zeit betrifft, dürfte sich die Situation aber tatsächlich verschlechtert haben. Ob ein Buch wie das von Merleau-Ponty, gesetzt den Fall, es könnte überhaupt geschrieben werden, heute noch die Aufmerksamkeit wie damals erregen würde, ist zu bezweifeln.
Die in dem Buch erörterte Kernfrage, aller gesellschaftlichen Veränderung, nämlich die des Verhältnisses von humanistischer Verbesserung des Staatswesens und der dafür eventuell erforderlichen Gewalt, wird heute schließlich von allen politischen Parteien und Strömungen lieber unreflektiert gelassen und auf ein Übermorgen verschoben.
Schon 1967 erklärte der Philosoph Jacob Taubes in einer Rede vor deutschen Studenten, "Mündig sein“ heiße, dass "jeder von uns den Mund aufmachen darf, ohne dass ihm gedroht wird“. (Apokalypse und Politik, S. 392)
"Zu deutlich“, fand er, "lassen sich heute überall Tendenzen zur Entmündigung einer mündigen Gesellschaft ablesen. 200 Jahre nach Aufklärung und Französischer Revolution stehen wir in einem epochalen Prozess der Entmündigung, gegen den eine mündig gewordene Jugend manchmal in verzweifelten, manchmal in grotesken Formen sich wehrt.“ (ebd.)
Lesen Sie auch
Wortwaffen im Einsatz: Wie die Normierung unserer Sprache den Diskurs vergiftet
Wettrüsten ohne Substanz: Moral ist eine Show – und zwar eine ziemlich schlechte!
El Hotzo, Trump und die Feindbestimmung der Linksliberalen
Corona-Hilfen im Gesinnungs-Check: Der lange Arm des Verfassungsschutzes
Fördergeld-Affäre: Warum die Bildungsministerin für niemanden eine gute Figur macht
Der "epochale Prozess“, von dem Taubes spricht, dürfte langsam an sein Ende geraten: Das Nachdenken, scheint es, ist zu einem bloß stillen geworden, das höchstens noch in den Nischen geschlossener Chat-Gruppen oder Privatgesprächen vor sich hindümpelt. Man könnte sich damit zufriedengeben und die Philosophie eben als abgeschafft und das Ende der Geschichte der Vernunft als eingeläutet betrachten und einfach Ruhe geben.
Aber möchte man das wirklich?
Denn es ist doch interessant, dass sich zwei Philosophen in den Jahren 1947 und 1967 ganz ähnlich anhören wie heute einige Akademiker, die über eine Cancel Culture klagen. Dabei ist doch beides, das Canceln, wie auch das Klagen, selbst stets elementarer Teil jener übergeordneten, man könnte sagen: westlich-demokratischen Volkstümlichkeitskultur.
Canceln wird öffentlich
Das Verdrängen von Konkurrenten mittels übler Nachrede war in bürgerlichen Konkurrenzgesellschaften stets eine so übliche wie erforderliche Praxis. Der Unterschied zu früher ist nur, dass das Canceln nicht mehr, wie damals, selbstsicher ignoriert oder verschämt geleugnet, sondern öffentlich problematisiert wird.
Das wiederum hat in Verhältnissen von brutalisierter Arbeitsmarktkonkurrenz, der ständigen Infragestellung eines jeden, damit zu tun, dass zunehmend private Macken und persönliche Charaktereigenschaften als öffentlich und beruflich relevant geltend gemacht werden.
Darin unterscheidet sich der übers gecancelt werden Klagende nicht vom moralisch empörten Cancelnden: Beide wollen subjektive ethische Vorstellungen als objektive anerkannt wissen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.