Vom Heimatschutz über den Naturschutz zum Schutz der Rasse

Seite 2: Licht, Luft und Sonne

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"Alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen ereignen sich zweimal: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce", schreibt Marx unter Rückgriff auf Hegel. Wenn vom Umschlag einer emanzipatorischen Bewegung in völkische Ideologie die Rede ist, muss in der Tat auf eine geschichtliche Tragödie eingegangen werden, auf den Verlauf der "Lebensreform" und in Sonderheit der Jugendbewegung. "Tragödie" trifft es nicht ganz. Das Umkippen der Utopie-lastigen Bewegung in die Dystopie war selbstverschuldet.

Die Jugendbewegung war Aufruhr, war Aufbruch, heraus "aus grauer Städte Mauern" und aus dem Muff und dem rückwärtsgewandten Historismus der wilhelminischen Gesellschaft. Die Lebensreform2 sollte alle Bereiche erneuern, vom Wohnen über die Kleidung und die Heilkunde bis zur Sexualität und Pädagogik. Auch Impfgegner waren vertreten. Der Ernährungsreform widmete sich die 1893 vor den Toren Berlins gegründete "Obstbaukolonie Eden". Die Genossen schworen der "Zivilisationskost" ab. Zum Vegetarismus kam das Verbot von Alkohol und Tabak. Basis war ein ökologischer Landbau.

Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Bild: Olga Ernst / CC-BY-SA-4.0

Schon vor dem Ersten Weltkrieg kamen in der Kolonie Stimmen auf, die den Vegetarismus zur "Abwehr der Rassenverschlechterung" einsetzen wollten, unterstützt durch eine Freikörperkultur zur Abhärtung des Körpers. Wer 1916 Neu-Siedler werden wollte, musste eine "deutsch-völkische" Gesinnung nachweisen. Die Ingredienzien einer völkischen Gesinnung sind schnell angerührt. Zwei Körper sind es, die zusammenkommen. Der gestählte Körper des Genossen, der mit dem Volkskörper verschmilzt, wird zum "Rassekörper".

Das Gefühl der Ermächtigung mischt sich mit Askese, der Selbstreinigung durch Abstinenz von unreinen Lebensmitteln. Das Reinigungsverlangen kann unmittelbar auf den Volkskörper übertragen werden. Was sich nicht unter die gesellschaftlichen Gesundheitsrituale zur Harmonisierung von Mensch und Natur subsumieren lässt, wird auf den "Moloch Stadt" abgeladen. Die Städte sind krank. Dagegen wird eine Rassenhygiene gesetzt.

Der von Karl Marx im Zitat ausgelegte Faden kann auch wieder bis in die Gegenwart verfolgt werden. Die Tragödie der Kolonie Eden wiederholt sich heute als Farce: in den Anastasia-Siedlungen.

Die Edener Wandervogelgruppe ging 1933 in der Hitlerjugend auf. Aber diese Jugendbewegung hatte sich selbst gleichgeschaltet, bevor die Nazis es taten. Sie hatte sich schon im Ersten Weltkrieg zu "Soldatenwandervögeln" gemausert. Im bekannten Liedtext Hoffmann von Fallerslebens "Die Gedanken sind frei..." steckt bereits das ganze Dilemma, der Aufruf zur Befreiung von den reaktionären Mächten und die Kapitulation vor ihnen, die Überführung der Freiheit in die Innerlichkeit des Gedankens. Selbstreform statt Gesellschaftsreform. Adorno hat diese Ambivalenz noch in der Jugend der Zwanziger Jahre entdeckt. Sie schwanke zwischen Neigung zum Aufruhr und Respekt vor der Obrigkeit.

Sigmund Freud ergänzt, dass die zunehmende Schwäche der Jugendbewegung, deren Potential zur Veränderung die soziale Realität nicht mehr erreicht, in die Selbstermächtigung zu einem "All-Ich" mündet, das in einem "ozeanischen Gefühl" verschwimmt. Es ist das Gefühl der Ohnmacht, das sich zur Entlastung neue, noch mächtigere Autoritäten sucht. Das können Menschen sein, das kann aber auch die Natur sein. Sie hat ihre eigene Geschichte und ihr eigenes Gesetz.

Die Wohnreform, die mit der Gründung des "Werkbunds" 1907 eingeleitet wurde, führte junge Architekten und Planer zusammen. Sie hatten Größeres im Blick als nur die Wohnungsnot zu lindern. Mit Licht, Luft und Sonne als gestalterischem Programm wollten sie eine Sozialreform zugunsten der Arbeiter anstoßen, die in der Mehrzahl in elenden Verhältnissen wohnten. Aus der Jugendbewegung kam ein dreifaches Echo: 1. Licht: In ihm offenbart sich die Wahrheit (Gnosis). Das Licht der Aufklärung führt uns in eine frohe Zukunft. 2. Luft: Sie umweht unseren Körper und befreit ihn, wenn wir uns draußen nackt bewegen, bei Feldarbeit oder im Tanz. 3. Sonne. Sie steht anders als in der christlichen Religion im Mittelpunkt der Hingabe, so auch in der Anthroposophie.

Die Sozialreform ist zu einem germanisch-mystisch angehauchten Spiritualismus mutiert. Die neuen Glaubensrichtungen sind politische Diesseitsreligionen, die nicht auf den Erlöser warten. Das Heil kann unmittelbar hergestellt werden, und die Jünger kommen ihm durch Tanz näher. Darin steckt auch ein Totalitätsanspruch. Kunst und Leben fallen zusammen wie Utopie und Gesellschaft. Das klingt nach einem Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners, ist jedoch nichts als ein Ausfluss der Allmachts-/Ohnmachtsphantasien der bewegten Jugend.

Wird der Staat in diese Synthese hineingenommen, entsteht daraus ein ganzheitliches Modell. Der Staat ist Idee und Existenz in einem. Er wird Volkskörper, der sich auf einem Territorium festsetzt. In seinem Absolutheits- und Überlegenheitsanspruch muss sich dieser völkische Staat nach innen rein erhalten, während er nach außen aggressiv expandiert. Gelingt das nicht, liegt es daran, dass nach innen die Reinigung ungenügend durchgeführt worden ist. Der Volkskörper ist ein Organismus, der von krankhaften Wucherungen befallen ist. Sie zu zerstören, dient der Arterhaltung.

Das sind die Argumentationsketten der völkischen und Rassentheorie, denen auch führende Vertreter des Heimat- und Naturschutzes wie Paul Schultze-Naumburg und Alwin Seifert anhingen. W.H. Riehl hatte bereits die Enden zusammengebogen: Einem gesunden Wald entspreche ein gesundes Volk.

Die Jugendbewegung hatte verschiedene Flügel, sogar einen ganz linken, zu welchem der junge Walter Benjamin gehörte. 1913 wurde der hundertste Jahrestag des Sieges über Napoleons Truppen gefeiert. Zu Tage traten die Unterschiede zwischen der gemäßigt friedliebenden und der völkisch-militanten Seite der Wandervögel.

Dass sich im weiteren Verlauf die völkische Ideologie durchsetzte, liegt nicht nur an der Instrumentalisierung durch politische Interessen. Vielmehr kippte die freiheitlich friedliebende Richtung von selbst nach rechts. National und patriotisch war sie von Anfang an gesinnt, und Begriffe wie Freiheit, Gemeinschaft und Kameradschaft klangen damals gewiss unverfänglich. Aber die Wortbedeutungen verschoben sich schrittweise. Sie sollten Identität stiften und bildeten sich zwangsläufig in der Differenz zum Nicht-Identischen oder den Nicht-Identischen wie den Juden.

Noch schlimmer: Dieses Nicht-Identische wird nicht anerkannt, darf nicht existieren. Damit sind die genannten Begriffe ethnisch, oder eben völkisch, aufgeladen. "Freiheit" wurde hingegen im Deutschland des 19. Jahrhunderts sehr zwiespältig aufgenommen. Sie galt als Befreiung von den Franzosen, die sich ihrerseits vom Feudalismus befreit hatten und das weitertragen wollten. In der deutschen Lesart war Freiheit das Wort, das fortschrittlich klang, aber gegen die aufkommende Moderne gerichtet werden konnte.