Vom Nutzen eines Terroranschlages

Seite 2: Amri-Untersuchungsausschuss im Bundestag

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Im Amri-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages ergab sich jetzt in einer turbulenten Sitzung ein Puzzlestück, das zur Geschichte passt, die LKA-Chef Steiof erzählt hat. Im Herbst war bekannt geworden, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) seit Januar 2016 eine Akte zu Anis Amri führte und dass es ihn überwachte. In der radikalen Fussilet-Moschee, wo Amri verkehrte, hatte das Amt einen Informanten sitzen.

Die für die Amri-Akte zuständige Sachbearbeiterin (Arbeitsname "Lia Freimuth") war, wie jetzt ihr damaliger Vorgesetzter (Arbeitsname "Henrik Isselburg") als Zeuge erklärte, speziell zuständig für die "islamistischen Zielpersonen" in Berlin. Dazu zählte Amri, und deshalb habe sie auch die Akte Amri geführt. Dann ergänzte er: Die Sachbearbeiterin habe auch regelmäßig Kontakt zum LKA Berlin gehabt.

Schlagartig verknüpfen sich damit zwei Handlungsstränge der Amri-Geschichte: die des BfV mit der des LKA von Christian Steiof samt ihren jeweiligen Quellen. Damit öffnet sich ein ganz neues Szenario: Haben sich beide Behörden ausgetauscht? Über ihre Quellen und Maßnahmen? Eigentlich müsste man davon ausgehen. Und die offizielle Version, Amri sei ausschließlich ein Polizeifall von Nordrhein-Westfalen (NRW) und Berlin gewesen, wird einmal mehr unglaubwürdig.

Neue Fährte

Dann stoßen vor allem die kritisch fragenden Abgeordneten von Linkspartei, Grünen und FDP auf eine neue Fährte. Sie betrifft das sogenannte Behördenzeugnis des BfV zu Amri und seine zwei Komplizen Bilel Ben Ammar und Habib Selim. Darin steht unter anderem, dass diese drei Personen im Juli 2015 gemeinsam nach Deutschland eingereist seien. Bisher hieß es, das BfV-Dokument, das die Unterschrift des damaligen Präsidenten Hans-Georg Maaßen trägt und an andere Sicherheitsbehörden ging, sei auf Wunsch des LKA von NRW erstellt worden, um die Herkunft einer Quelle zu verschleiern.

Für die Erstellung des Behördenzeugnis' war das Auswertungsreferat, dem der Zeuge "Isselburg" vorstand, maßgeblich verantwortlich. Den ersten Entwurf fertigte die Sachbearbeiterin "Freimuth". Wie bereits ein anderer BfV-Zeuge nennt auch "Isselburg" das Behördenzeugnis einen "ungewöhnlichen Vorgang", der ihm bis dahin "noch nicht vorgekommen" sei.

Den Abgeordneten erschließt sich nicht, wer von diesem Vorgang eigentlich einen Nutzen hatte. Im Amri-Untersuchungsausschuss von NRW hatte kürzlich ein Vertreter des LKA von NRW erklärt, die Informationen in dem Behördenzeugnis seien nicht von seiner Behörde gekommen. Von wem dann? Etwa vom Verfassungsschutz des Landes? Oder soll vielleicht etwas anderes verschleiert werden? Zum Beispiel, dass Quellen-Informationen ans BfV geflossen sind? Das sogenannte Behördenzeugnis wäre dann seinerseits eine Legende, um genau das zu verschleiern.

Der Verdacht der Abgeordneten wird auch dadurch genährt, dass der BfV-Vertreter einräumt, seine Behörde habe die angeblich vom LKA gekommenen Informationen gar nicht überprüfen können. "Was hat das BfV dafür gekriegt? Warum hat es das Behördenzeugnis gemacht?", will Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) wissen.

"Aus Freundlichkeit für jene Sicherheitsbehörde und weil es um Quellen-Schutz ging", antwortet der Zeuge. Von Notz: "Der BfV-Präsident weiß nicht, ob die Angaben richtig sind, aber unterzeichnet das Dokument mit seiner Unterschrift - und das aus Freundlichkeit?" Zeuge: "Die Informationen erschienen schlüssig." Von Notz: "Aber es ist doch legendiert, wie kann es schlüssig sein? Können Sie etwas über den Hintergrund dieses Vorganges sagen, den Sie für so ungewöhnlich hielten?" Nun antwortet der Zeuge: "Ich halte es nicht für einen ungewöhnlichen Vorgang."

Damit widerspricht er sich. Er beginnt, die Kontrolle zu verlieren. Die Regierungs- und Behördenvertreter im Ausschuss versuchen ihn vom Feld zu nehmen. "Könnte man angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit nicht eine Pause machen?", wirft der Vertreter des BfV ein. Es ist 22:35 Uhr.

Die Interventionen werden mehr, die Abstände kürzer, in denen sie erfolgen. Auf der Regierungsbank sitzen ein Vertreter des Bundeskanzleramtes, je zwei des BfV und des Bundesinnenministeriums (BMI), sowie je eine Person für das Justizministerium und für den Generalbundesanwalt. Das Wort führen vor allem BfV und BMI. Über zwanzig Mal intervenieren sie an diesem Abend gegen Fragen der Abgeordneten.

Lange saß in dieser Reihe auch eine Oberregierungsrätin des BMI, die die Interventionen anführte. Im Oktober 2018 stellte sich dann heraus, dass die Frau zuvor beim BfV tätig war und damit selber eine Zeugin ist. Sie war, wie sich jetzt ergibt, eine der Stellvertreter des Referatsleiters "Henrik Isselburg". "Isselburgs" Nachfolger als Referatsleiter wiederum heißt "Gilbert Siebertz".

Als der bei seiner Zeugenvernehmung im September gefragt wurde, ob jemand im Raum sei, den er aus dienstlicher Tätigkeit kenne, antwortete er mit "Nein". Später machte er geltend, er habe die Frage auf die Person Amri bezogen verstanden. Alle drei jedoch, "Isselburg", "Siebertz" und auch die Oberregierungsrätin Eva Maria H. (Klarname) waren Vorgesetzte der Sachbearbeiterin "Freimuth", die im BfV die Akte Amri führte.

Staatliche Akteure und ihre Tricks. So geht es Sitzung für Sitzung. Um jede Antwort muss mit ihnen gerungen werden. Wiederholt war eine Sitzung eine Stunde lang unterbrochen, um intern zu klären, ob eine Frage zulässig ist.

Die Situation explodiert

Kurz vor Mitternacht explodiert die Situation. Die kritischen Abgeordneten sind mit dem Thema BfV-Behördenzeugnis noch nicht fertig. Die Abgeordnete Irene Mihalic (Bündnisgrüne) will erneut wissen: "Wie kam die Information über die zu schützende Quelle zum BfV?" Sprich: vom LKA oder vom LfV? Die Aussage des Zeugen ist nicht mehr stringent.

Ursprünglich hatte er darauf beharrt, das LKA sei der Auftraggeber gewesen. Zwischenzeitlich hat er eingeräumt, dass die Bitte über das LfV an sie herangetragen worden sein könnte. Nun sagt er, aus der Akte erschließe sich nicht, ob und gegebenenfalls wie die Information zu seiner Behörde kam. Mihalic: "Und trotzdem, obwohl sich die Herkunft nicht erschließt, war sie Ihnen schlüssig?" Der Zeuge antwortet nicht mehr.

Da drückt sein Rechtsbeistand, Rechtsanwalt Daniel K., auf den Mikrophonknopf und interveniert ungefragt: "Entschuldigung, Herr Vorsitzender, das ist der dritte falsche Vorhalt, der meinem Mandanten gemacht wird..." Der Vorsitzende Armin Schuster (CDU) bleibt still, Mihalic widerspricht, doch der Anwalt fährt ungebremst fort: "Lassen Sie mich ausreden, Frau Abgeordnete!"

Während Schuster immer noch schweigt, platzt Mihalic' Fraktionskollege Konstantin von Notz der Kragen: "Sie haben hier kein Rederecht. Das ist eine Unverschämtheit. Sie haben uns hier nichts zu sagen!" Jetzt reagiert Schuster: "Herr Dr. von Notz, es ist eine Unverschämtheit, wie Sie sich hier verhalten. Und Herr Rechtsanwalt, Sie haben tatsächlich kein Rederecht. Sie können höchstens um eine Unterbrechung bitten."

Das nimmt der Anwalt in Anspruch. Doch wenige Sekunden später beendet der Vorsitzende Schuster die Veranstaltung. Es ist 24 Uhr und die Stenografen haben Feierabend. Ohne sie gibt es kein Protokoll und ohne Protokoll wäre es, als habe es die Sitzung nicht gegeben.

"Henrik Isselburg" ist bereits der sechste Zeuge des BfV, bei dem die Vernehmung zum Schlagabtausch gerät. Dabei handelte es sich bei diesen Zeugen "nur" um solche dritter Priorität: Beamte, die im Amt an ihren Schreibtischen sitzen und Informationen auswerten. Zeugen erster und zweiter Priorität, sprich: die V-Leute und ihre V-Mann-Führer, werden dem Ausschuss durch die Bundesregierung bisher verweigert.

Die drei kleinen Fraktionen FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben jetzt entschieden, dagegen mit einer gemeinsamen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vorzugehen.

Die Sitzung, die im offenen Konflikt endet, hatte mit einer Schweigeminute aus Anlass des bevorstehenden zweiten Jahrestages begonnen. Auch die Vertreter des Sicherheitsapparates hatten sich dabei erhoben.