Von den möglichen Anfängen der Wissenschaft

Über William H. Calvins Buch "Wie der Schamane den Mond stahl" (Hanser Verlag, 270 Seiten)

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Der Neurobiologe Calvin nimmt die Leser mit auf eine Entdeckungsreise von Stonehenge bis zu den Anaszasi-Kulturen im Grand Canyon. Es geht um die Anfänge der Wissenschaft bei den ersten himmelskundigen Schamanen und gleichzeitig um den Weg, wie eine wissenschaftliche Hypothese sich trotz aller Umwege und mangelhafter Indizien herausbildet. Ein schönes Buch, dessen Autor durch seine Neugier den Leser mitreißt.

Einer der interessantesten und faszinierendsten Wissenschaftsautoren ist gegenwärtig wohl der amerikanische Neurobiologe William H.Calvin. Seine Bücher, allesamt Exkursionen, ziehen einen vor allem deswegen in Bann, weil er die Fähigkeit besitzt, seine Wahrnehmungen und Beobachtungen wirklich anschaulich zu beschreiben, sie in den Strom seiner wissenschaftlichen Gedanken zwanglos einzubetten und zu vermitteln, daß eine lebendige Wissenschaft vor allem auf einer gesteigerten Aufmerksamkeit und einem erheblichem Anteil an spielerischer Imagination und Entdeckungslust beruht. Calvins Lust am Ausprobieren läßt sich auch an seiner Homepage nachvollziehen, die auch ein wissenschaftliches Online-Journal enthält, und an seinen Ausflügen in die Literatur. Bereits drei Bücher liegen von ihm auf deutsch vor, die, eingebettet in eine Rahmenhandlung, in die Evolution des Gehirns, seine Funktionsweise und seine Leistungen nicht nur einführen, sondern stets auch versuchen, neue Ansätze wie den neuronalen Darwinismus vorzustellen.

Bereits mit seinem wunderbaren Buch Der Strom, der bergauf fließt verband Calvin die Entwicklung des menschlichen Gehirns mit einer Reise durch den Grand Canyon und so mit der Erdgeschichte. Sein eben auf deutsch erschienenes Buch ist hingegen ein Ausflug in die Entstehung der Wissenschaftsanfänge anhand der Himmelsbeobachtung, die an kultischen Orten und von Schamanen praktiziert wurde und für alle frühen, der Natur ausgesetzten Kulturen höchst bedeutungsvoll war. Die These selbstverständlich ist nicht neu, daß eine protowissenschaftliche Naturbeobachtung und die daraus entstehende Theorie aus der Religion oder mythischen Ritualen entstanden ist und daß sie dem Schamanenwissenschaftler Macht verliehen hat, wenn er beispielsweise in der Lage war, einen Kalender zu erstellen und Sonnen- oder Mondfinsternisse vorherzusagen, die die Menschen oft für unheilvolle, jedenfalls aber in das Leben eingreifende Zeichen der Götter hielten.

Calvin aber entwickelt die These nicht als trockene theoretische Abhandlung. Er ist zu den geheimnisvollen Orten wie Stonehenge und vor allem zu den Überresten amerikanischer Indianerkulturen am Grand Canyon gereist und läßt uns daran teilhaben, wie er anhand der wenigen Indizien und über manche Umwege und Fehlschläge rekonstruiert, mit welchen Mitteln die ersten Wissenschaftler ihre Beobachtungen gemacht haben könnten, ohne deswegen irgend etwas von Mathematik oder Physik wissen zu müssen. Wissenschaft erweist sich als eine Art Detektivroman und als Vorgang des Bastelns mit dem verfügbaren Material.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, daß der Prozeß, Regeln für ein beobachtbares Verhalten herauszubekommen, ein kreativer Vorgang ist, der wissenschaftlichen Entdeckungen ebenso zu eigen sei wie dem Schaffen eines Künstlers. Calvin versucht, die Welt mit den Augen der Schamanen zu sehen und so zu verstehen, welchem Zweck Kultstätten wie Stonehenge dienten. Um einen Kalender zu erstellen, die Tage der Sonnwende zu markieren, den Zusammenhang der Mondphasen mit den Eklipsen zu entdecken, mußte man nicht nur beobachten, sondern auch Messungen vornehmen und sie festhalten. Konstruktionen wie Stonehenge mit ihrer seltsamen Struktur und ihrer Einbettung in die Landschaft waren vielleicht nicht nur Observatorien, sondern auch Meßgeräte, die wie ein "Jungsteinzeit-Computer" funktionierten.

Natürliche Ereignisse lange Zeit vorweg vorhersagen zu können, muß die Menschen fasziniert haben. Die Götter, die das Leben der Menschen bestimmen, befanden sich am Himmel. Wissen über sie zu erlangen, war nicht nur nützlich und befriedigte die Neugier, sondern verlieh den Schamanen als Protowissenschaftlern auch das Ansehen seitens der Unkundigen, daß sie Macht über die haben. Möglicherweise war die Beobachtung der Sonne und des Mondes, angewiesen auf feste Markierungen an einem Ort, auch ein Motiv, das Menschen seßhaft werden ließ, das also am Übergang von der nomadischen Lebensweise als Jäger und Sammler zur seßhaften Kultur des Ackerbaus und der Architektur stand.