Vor dem Gipfel: Warum Schweden nicht der Nato beitreten sollte

Bild: danzig_hamburg / Pixabay

Die USA drängen. Sollte die Türkei nächste Woche grünes Licht geben, wäre der Weg frei für Schweden. Die Nato-Expansion macht Europa aber unsicherer. Ein Blick hinter die Kulissen.

Vor dem Nato-Gipfel, der am kommenden Dienstag im litauischen Vilnius stattfindet, bekräftigte US-Präsident Joe Biden, dass er "Schwedens Mitgliedschaft in der Nato voll und ganz unterstütze" und der Ratifizierung des Antrags "mit Spannung entgegensehe". Das sagte er bei einem Treffen mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson im Oval Office des Weißen Hauses am Mittwoch.

Die Genehmigung des Nato-Beitrittsantrags von Schweden ist – anders als bei Finnland, dessen Antrag bereits angenommen wurde – seit einiger Zeit ins Stocken geraten, da die Türkei und Ungarn ihn blockieren. Die Erweiterung der Nato erfordert die einstimmige Ratifizierung durch die bestehenden 31 Mitglieder.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verlangt für die Zustimmung von Schweden, dass es noch schärfer gegen Anhänger kurdischer Oppositionsbewegungen wie der Arbeiterpartei PKK vorgeht. Die schwedische Regierung kam einigen der Forderungen nach, doch die Türkei ist weiter unzufrieden. Die jüngste Verbrennung von Koranseiten vor eine Moschee in Stockholm durch einen Iraker hat sicherlich kaum geholfen, Istanbul zu beschwichtigen.

Spitzendiplomaten aus der Türkei und Schweden haben sich gestern im Nato-Hauptquartier in Brüssel getroffen, um das weitere Vorgehen auszuloten. Was immer dabei herausgekommen ist, es wäre besser, wenn Schweden den Antrag zurückzieht und nicht der Nato beitreten würde.

Der Grund dafür ist recht simpel: Die Schweden sollten ihre Neutralität weiter behalten, weil das, was man sich wie die Finnen von einem Nato-Beitritt verspricht, nämlich mehr Sicherheit und Schutz vor einem vermeintlichen Angriff Russlands, auf einer Fata Morgana aufbaut. Zudem hat es Auswirkungen, die Europa und die Welt tatsächlich unsicherer machen.

Man sollte sich dabei vor Augen halten, warum die Nato gegründet wurde und welchen tatsächlichen Zweck sie verfolgt. Offiziell wurde im Kalten Krieg darauf verwiesen, dass das Militärbündnis Westeuropa vor den sowjetischen Invasoren schützen soll, die jederzeit zum Angriff bereit seien, während in den Medien permanent vor der russischen Bedrohung gewarnt wurde.

Wie wir aus unterschiedlichen Quellen wissen, sahen die US-Planer in Russland jedoch überhaupt keine militärische Bedrohung, sondern eine ideologische und politische. Ein einflussreicher Kopf im Kalten Krieg, George Kennan, hat das klar ausgedrückt.

1946 hielt er die russische Gefahr für derart hoch, dass, gegen Kriegsvereinbarungen verstoßend, Deutschland geteilt werden müsse. Der Grund dafür sei die Notwendigkeit, so Kennan, "die westlichen Zonen Deutschlands zu retten, indem man sie gegen Einflüsse aus dem Osten abschottet", aber nicht durch militärische Gewalt, sondern durch "politische Penetration", bei der die Russen Vorteile besäßen.

Überall, wo die USA ihre Interessen bedroht sahen, wurde in der Nachkriegszeit der Kreml als die eigentliche Gefahr ausgemacht, wo tatsächlich Moskaus "Arm" meist weit und breit nicht zu sehen war, von Indonesien über Vietnam bis nach Lateinamerika. Der Kreml wurde zur Metapher, wie Noam Chomsky es einmal ausdrückte, für alles, was der US-Kontrolle aus den Händen zu gleiten drohte.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwand die Nato Anfang der 1990er-Jahre dann aber nicht, wie man hätte erwarten können. Die Gefahren, die russischen Horden, waren ja verschwunden. Die Nato wäre gemäß offizieller Begründung also gar nicht mehr notwendig gewesen.

Die Nato erhielt in der Öffentlichkeit nun eine andere Rechtfertigung. Das Bündnis werde weltweit die westliche Werteordnung und den Handel sichern, hieß es nun. US-Präsident Bill Clinton brachte die neue Nato-Doktrin so auf den Punkt: "einseitig zu handeln, wenn es notwendig ist", um lebenswichtige Interessen zu verteidigen, wie z.B. "den ungehinderten Zugang zu wichtigen Märkten, Energielieferungen und strategischen Ressourcen zu gewährleisten."

Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer wies auf einer Nato-Tagung im Juni 2007 an, dass "Nato-Truppen Pipelines bewachen müssen, die Öl und Gas transportieren, das für den Westen bestimmt ist", und ganz allgemein die von Tankern genutzten Seewege und andere "entscheidende Infrastrukturen" des Energiesystems schützen müssen. Der Zuständigkeitsbereich der Nato wurde global.

Dafür wurde das Konzept der "humanitären Intervention" entwickelt, ein Sonderrecht, das ausschließlich für die USA und ihre Nato-Verbündeten gilt. Niemand sonst kann ein solches Recht beanspruchen.

Mit dieser Doktrin marschierte man in den Balkan und in Afghanistan ein. Der Globale Süden protestierte gegen das Konzept und die illegalen "humanitären Interventionen". Die Einwände wurden aber nicht einmal zur Kenntnis genommen.

Gegen Versprechungen an Russland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Osterweiterung der Nato von den USA dann vorangetrieben. Aus diplomatischen Depeschen wissen wir, dass Moskau dabei Georgien und die Ukraine als absolute rote Linie betrachtete.

US-Diplomaten warnten Washington eindringlich und immer wieder, dass ein weiteres Vordringen Richtung Ukraine, die Falken und Hardliner in Russland stärke und ein militärisches Eingreifen Russland nicht ausgeschlossen werden könne.

Auf dem Nato-Treffen in Bukarest 2008 drängte die US-Regierung trotzdem auf einen Beitritt der Ukraine zur Nato. Deutschland und Frankreich bremsten.

2014 fand dann ein Staatscoup in der Ukraine statt, unterstützt von den USA und seinen Nato-Verbündeten. Die Ukraine wurde destabilisiert, Russland annektierte völkerrechtswidrig die Krim und ein Bürgerkrieg im Donbass im Osten entbrannte, wo viele russischstämmige Ukrainer leben.

Nach diplomatischen Versuchen der Konfliktbeilegung (Minsk II) überfiel Russland schließlich vor gut einem Jahr die Ukraine und hält seitdem den Donbass besetzt.