Vorwurf der ethnischen Säuberung gegen türkische Regierung

Seite 2: Die Situation in den "gesäuberten" Gebieten im Südosten

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Ministerpräsident Davutoglu brachte den Begriff der "gesäuberten Gebiete" in die Medien. Offiziell meint die Sprachregelung damit von "Terroristen gesäuberte" Gebiete. Tatsächlich ist damit die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung gemeint. Dies zeigt die Wirklichkeit vor Ort.

Cizre

Die aus Bremen stammende HDP-Bürgermeisterin der 135.000 Einwohner zählenden Stadt, Leyla Imret, wurde 2014 mit 84 Prozent der Stimmen gewählt. Im September 2015 wurde sie von der Regierung ihres Amtes enthoben, nachdem sie ihre Sorge vor einer Gewalteskalation in einer Rede geäußert hatte. Dies wurde ihr als Aufruf zur Gewalt und terroristischer Propaganda ausgelegt.

Gegen sie laufen drei Anklagen, sie wurde mehrfach verhaftet. Unter schwierigsten Bedingungen arbeitet sie als Bürgermeisterin mit ihrer Stadtverwaltung weiter. Sie berichtet, dass die Bevölkerung von der ersten Ausgangssperre im September 2015 völlig überrascht wurde. Plötzlich gab es keinen Strom mehr. Wasser, Telefon und Internet waren abgestellt. Die Lebensmittelversorgung brach zusammen. 25.000 Einsatzkräfte von Polizei und Militär wurden in Cizre stationiert, Lehrer abgezogen.

Dreihundert Menschen starben in den ersten 35 Tagen der Ausgangssperre. Einzelne oder Familien verließen mit weißen Fahnen ihre Häuser in dem am stärksten betroffenen Gebiet. Manche wurden trotzdem beschossen. Verletzte oder Schwangere wurden von der Klinik abgewiesen, die jetzt dem Militär diente. Nach vierzig Tagen waren die abgeriegelten Viertel leer bis auf jugendliche Militante und wenige Bewohner, die nicht gehen wollten oder konnten. Die Leiche einer PKK-Kämpferin hat das Militär auf der Straße zur Schau gestellt.

IPPNW

Der IPPNW-Delegation wird das Wohnhaus gezeigt, das auch bei uns in den Medien gezeigt wurde, wo "ein sechsstöckiges Haus von Soldaten gesprengt wurde und 70 Menschen starben. In ein anderes Haus wurde Benzin eingeleitet, um die im Keller versteckten Menschen zu verbrennen. Viele Leichen sind bis heute nicht zu identifizieren. Unter ihnen sind auch Studenten aus der Westtürkei, die den Eingeschlossenen zu Hilfe kommen wollten. Von diesen AktivistInnen gab es Namenslisten; ihre Eltern reisten an. Mütter versuchten ihre Kinder zu retten, die aus den Kellern schrien. Die Mütter wurden festgenommen und mit Geldstrafen belegt. Abgeordnete traten in Hungerstreik, Ambulanzen wurden beschossen, Sanitäter bedroht, ein Journalist bei seiner Arbeit angeschossen".

Mardin

Ahmet Türk (73), Oberbürgermeister von Mardin, ist ein kurdischer Aristokrat, Chef eines reichen einflussreichen Clans. Er versucht, entgegen den Bemühungen der türkischen Regierung, den multiethnischen und multireligiösen Charakter der Stadt zu bewahren. Mardin war eine überwiegend aramäisch-armenische Stadt, die unter dem Genozid an den Armeniern 1915 besonders gelitten hat.

Die historisch bedeutenden Stadtvillen der Aramäer und Armenier in der Altstadt wurden im Zuge des Genozids von den Türken beschlagnahmt und ausgeplündert und sind heute überwiegend Hotels und Restaurants für Touristen - in türkischer Hand, denn es gibt kaum Urkunden, die die christlichen oder armenischen Nachfahren vorlegen können, dass es sich um Familienbesitz handelt. Ahmet Türk wirft der Türkei vor, sie sei auf dem Weg in den Faschismus, so der bericht des IPPN: "Die Medien seien fast gleichgeschaltet, der Präsident befehle der Justiz, gebe persönlich Anweisungen für Verhaftungen. Die Türkei habe sich seit den ersten Wahlen vom Juni letzten Jahres von allen demokratischen Grundsätzen verabschiedet".

Ahmet Türk betrachtet die Erfolge der Kurden im syrischen Rojava als einen wesentlichen Faktor für das Erstarken des kurdischen Selbstbewusstseins auch in den türkischen Siedlungsgebieten. Dies entspreche aber nicht der Assimilierungspolitik der Regierung. Präsident Erdogan wolle mit den Bombardierungen der türkischen kurdischen Gebiete die Erfolge der Kurden in Rojava zunichte machen. Er wolle den Kurden jetzt zeigen, wo es langgeht.

Einzige Lösung: die Rückkehr zu den Friedensgesprächen mit der PKK

Der Oberbürgermeister von Viransehir lehnt Barrikaden und gewaltsame Auseinandersetzungen ab wie auch der Bürgermeister von Mardin. Die Empörung in der Bevölkerung sei aber groß, vor allem bei der Jugend. Die Gemeindeverwaltung habe nur wenig Einfluss auf sie, so Emrullah Cin:

Wenn der Staat Städte mit schweren Waffen angreift, ist das keine Ausgangssperre, sondern Krieg.

Nach Ahmet Türks Meinung haben die Jugendlichen mit ihren Barrikaden allerdings erst den Vorwand für das brutale Vorgehen der Militärs geliefert. Emrullah Cin‘s Auffassung nach ist nur Abdullah Öcalan, der seit April 2015 auf der Gefängnisinsel Imrali völlig isoliert ist, imstande, die gewaltbereiten Jugendlichen zu erreichen.

Alle Gesprächspartner der IPPNW betonten übereinstimmend, dass die Rückkehr zum 2013 begonnenen türkisch-kurdischen Friedensprozess die einzige Lösung ist, um zu verhindern, dass die Türkei in Krieg und Chaos versinke. Appelliert wird an die EU und die USA, im Friedensprozess zu vermitteln. Darum hatte die PKK-Führung selbst schon in zahlreichen Appellen gebeten, aber sie wurden ignoriert.

Die Instrumentalisierung der Flüchtlinge

Das Wegducken der europäischen Regierungen angesichts des Kurses von Erdogan, um die Flüchtlingskrise zu managen, sehen alle lokalen Politiker vor Ort als das zentrale Problem. Der Oberbürgermeister aus Mardin dazu: "…es ist nicht akzeptabel, dass die Europäer gegenüber der Türkei alle ihre eigenen Werte ignorieren. Die EU muss sehen, dass diese Achse der Politik nicht funktioniert."

Die bittere Wahrheit ist, dass die Bundesrepublik - wie auch die EU - mit Doppelmoral agiert. Ökonomische Interessen, die Begrenzung der Flüchtlingsströme, lassen die sonst so hochgehaltenen westlichen Werte in den Hintergrund rücken.

Je nach politischem Kalkül werden sie unterschiedlich angewandt: Wird eine Punkband in Russland wegen staatsfeindlicher Propaganda verhaftet, wird in Europa laut nach Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerufen. Die Gleichschaltung der türkischen Medien, die Gewalt und Vertreibung einer großen ethnischen Minderheit, die Ausschaltung der Opposition hingegen wird schweigend hingenommen. Die Politiker begreifen nicht, dass sie sich von Erdogan vorführen lassen.

Analog zu den Korruptionsvorwürfen und der Verhaftung des Milliardärs Reza Zarrab in den USA (USA verhaftet Erdogans Schützling Reza Zarrab) werden die EU-Gelder genau in den Netzwerken von Scheinfirmen, Mafia und nicht kontrollierbaren staatlichen Institutionen versickern. Selbst wenn der Flüchtlingsdeal mit der Türkei gelingen sollte, wird Erdogan nicht aufhören, an seinem autoritären, totalitären Staat weiter zu basteln.

Der Forderung nach Visumsfreiheit für türkische Staatsbürger kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu, die hierzulande ausgeblendet wird: Wenn die hunderttausenden kurdischen türkischen Staatsbürger, die aus den kurdischen Städten fliehen mussten, sich nach Europa aufmachen - wie in den 1980er und 1990er Jahren, hätte die Türkei das "Kurdenproblem" vom Hals.

Nur dass die Kurden heute ihre ethnische Zugehörigkeit nicht mehr unter dem Label "Türken" verstecken, sondern zu ihrer Sprache und Kultur stehen. Das wird unsere Politiker vor neue Herausforderungen stellen. Sie müssen dann auch anerkennen, dass in dem vermeintlichen sicheren Herkunftsland auch eine Ethnie von mehreren Millionen Menschen lebt, die dort keine sichere Heimat mehr hat. Sie machen sich auf den Weg nach Europa, wohin schon viele ihrer Angehörigen in den 1980er/90er Jahren geflohen sind.