Wann werfen wir unsere Brieftasche weg?

Der Minichip im Finger

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Die Entwicklung der Wissenschaft und Technik wird, so sieht es heutzutage aus, unvermeidlich dazu führen, dass einige technische Mittel, die wir benutzen, in unsere Körper integriert werden. Auf die ferne Sicht führt das zur Verschmelzung des Natürlichen mit dem Künstlichen. Darüber haben schon viele Autoren geschrieben1

Schon heute werden Kommunikationsmittel und Rechner in die Kleidung integriert oder als Schmuck an den Körper angezogen. Es gibt bereits Geräte, die auf den Innovationen in diesem Bereich basieren, etwa der Digital Angel (Die Digitalen Engel kommen). Diese Annährung an den menschlichen Körper wird sich wahrscheinlich fortsetzen und einen solchen Integrationsgrad erreichen, dass sich nurnoch schwer unterscheiden lassen wird, wo der Körper endet und wo die Technik anfängt. Die Grenze zwischen den Körperteilen und den an sie angebrachten, bzw. in ihnen integrierten technischen Mitteln wird verwischen.

Wir kennen bereits ähnliche Vorgänge, wenn wir als Beispiel die Prothesen annehmen. Viele Menschen tragen künstliche Zähne, benutzen integrierte Hörgeräte oder Sehhilfen (Linsen), künstliche Herzklappen oder Gelenke. In dieser Hinsicht ist die Verschmelzung von Natürlichem mit dem Künstlichen nichts Neues. Das Neue liegt darin, dass die technischen Hilfsmittel mit der Zeit so raffiniert werden, dass sie die dem Körper fehlende bzw. zu ersetzende Funktion immer präziser ausüben. Obwohl dieser Verschmelzungsprozess allmählich vor sich geht, stellt sich die Frage, wo der Umbruch zur rascheren Integration der technischen Mitteln in den Körper liegt.

Schauen wir zunächst in unsere Brieftaschen. Eine "durchschnittliche" Brieftasche beinhaltet etwa folgendes:
1. Personalausweis (Identitätsfunktion)
2. Führerschein, u.ä. (Fähigkeitsfunktion)
3. Mitarbeiter-, Schüler-, Studentenausweis usw. (Identitätsfunktion)
4. Geldkarten (Zahlungsfunktion)
5. Banknoten und Münzen (Zahlungsfunktion)

So dient alles, was wir in unserer Brieftasche mittragen, drei Zwecken: Es identifiziert uns, gibt uns Zugriffs- bzw. Nutzungsrechte bestimmter Institutionen oder weist unsere Fähigkeiten nach oder eröffnet uns die Möglichkeit, am Geldverkehr teilzunehmen. Daran lässt sich sehen, dass das Problem der Integration der technischen Mitteln einen funktionalen Charakter trägt. Es geht um die Ausübung bestimmter Funktionen. Gäbe es eine Möglichkeit der Übertragung dieser Funktionen auf den Körper?

Bei der Identifizierungsfunktion gibt es eigentlich keine prinzipielle Probleme: Jeder von uns ist einmalig und kann sich durch seinen Fingerabdruck, seine Augen-, Blutmerkmale oder durch die Gene identifizieren, vorausgesetzt, dass ein Teil der Daten über uns nicht nur bei uns, sondern auch bei der abfragenden Stelle gespeichert ist. Um mit Hilfe eines Fingerabdrucks eine Person zu identifizieren, benötigt man vorher eine Kartei, in der einzelne Abdrucke einzelnen Personen zugeordnet sind. Die einzige Institution, die einen solchen Speicher anlegen und verwalten kann, ist der Staat bzw. seine Institutionen. Die Person ist damit der staatlichen Beobachtung grundsätzlich jederzeit ausgeliefert. Wir halten daher so eine alle Bewohner umfassende Kartei in einer demokratischen Gesellschaft für unzulässig.

Gibt es eine Alternative dazu? Gibt es eine Möglichkeit, die Identitätsdaten nicht anderswo zu speichern, sondern sie direkt mitzutragen? Diese Aufgabe wird z.B. durch einen Personalausweis oder andere Ausweispapiere erfüllt. Sie sind aber nicht im Körper untrennbar integriert, sondern befinden sich in der Brieftasche. Die Gefahr des Verlusts der Dokumente besteht immer. Man weiß, wie kompliziert es ist, bei Verlust, besonders im Ausland, die Identitätsdokumente zu ersetzen. Bestünde hier eine Möglichkeit der Integration in den menschlichen Körper?

Wie erwähnt, ist die zweite Funktion des Inhalts unserer Brieftasche die Gewährleistung der Zugriffsrechte zu bestimmten gesellschaftlichen oder privaten Institutionen (Arbeitsausweis, Presseausweis, Monatskarte, Schüler- und Studentenausweis, Leseausweis, Videothekausweis, Parteimitgliedschaft u.a.) und die Auskunft über unsere Fähigkeiten (diverse Führerscheine, Nachweise der Fachkenntnisse, Invalidenausweis u.a.). Im Unterschied zur ersten Gruppe der Funktionen gibt unser Körper keine Auskunft über unsere Zugriffsrechte und Fähigkeiten. Man kann vom Körper keine Information darüber ableiten, ob wir Kraftfahrer der Klasse C, oder ein Polizist oder Journalist sind. Formell machen uns die entsprechenden Ausweise zu Fahrern, Journalisten, Polizisten. Man erkennt zwar einen Behinderten, wenn ihm ein Bein fehlt, aber das ist ein Sonderfall. Die meisten Behinderten weisen sich durch die Papiere aus. Diese Ausweise sind auch mitzutragen und sind unerlässlich bei der Ausübung der entsprechenden Tätigkeiten bzw. bei der Erlangung der Prioritäten (z.B. Behindertenparkplatz, freier Zutritt als Journalist). Auch bei diesen Dokumenten besteht die Gefahr des Verlustes.

Der dritte Kreis der Funktionen betrifft das Geld. Wir tragen die Banknoten, die Münzen und die Geldkarten mit. Wie die Entwicklung der letzten 10-15 Jahren gezeigt hat, wird das Bargeld allmählich durch die Karten ersetzt. Das Bargeld bleibt zwar immer noch wichtig, aber die Zahlungsfunktion wird zunehmend durch die Karten erledigt. Dazu zählen wir auch die Krankenversicherungskarte, als Entgeltmittel für ärztliche Leistungen. Diese Karten bestehen aus einem Magnetstreifen oder aus einem Chip, in dem die Informationen über unsere Zahlungsmöglichkeiten gespeichert sind. Unter diesen Informationen sind einige, die für längere Zeiträume fix verankert sind: Die BLZ, Kontonummer, unser Name, Zahlencode, Kreditgrenzen u.a., hinzu kommt die PIN in unserem Gedächtnis. Andere Informationen auf dem Magnetstreifen bzw. auf den Chips sind variabel: das ist die Geldbewegung. Jedes Mal, wenn wir die Karte in einen Geldautomat einstecken oder sie an der Kasse des Supermarktes durch den Kassenapparat durchziehen, werden auf dem Speicher die entsprechenden Änderungen eingelesen. Bei einer Krankenversicherungskarte wäre unser Gesundheitszustand die variable Information.

Natürlich besteht auch hier die Gefahr, die Karten und das Bargeld zu verlieren oder die zu vergessen. Wäre es nicht am günstigsten, wenn wir diese Speichermedien überhaupt nicht ablegen müssten, sondern die ganze Zeit, auch beim Baden oder beim Schlafen an oder in uns hätten? Das träfe auch für die Dokumente zu, die die Funktionskreise Identifikation und Zugriff gewährleisten. Doch gerade das ist der entscheidende Punkt: Wie kann gewährleistet werden, dass unser Geld und unsere Karten immer bei uns sind, dass wir diese Funktionen in uns haben?

Unser Körper besteht mehrheitlich aus weichen Teilen, die sich dauernd im Fluss befinden. Die Haut, Muskeln, Fettgewebe sind schlechte Speichermedien. Deren Bestand ändert sich dauernd. Sie behalten zwar ihre Form über längere Zeit, aber sind für die Speicherung der zusätzlichen Informationen untauglich. Etwas beständiger sind die Knochen und Implantate. Vielleicht wird in der Zukunft gerade unser Knochengerüst zum Träger integrierter technischer Mittel werden. Vorerst aber muss eine Technologie gewählt werden, die die Umwandlung des Knochengewebes in ein speicherfähiges Medium gewährleistet, und zwar so, dass die Knochen in ihrer grundlegenden Funktion, den Körper zu tragen, nicht beeinträchtigt werden. Solange das nicht erreichbar ist, erscheint jegliches Gespräch über den Umbau der Knochen sinnlos.

Was wir uns allerdings bereits heute erlauben können, ist der Einsatz einiger Knochen als dauerhafte Hülle eines anderen Speichermediums. Etwas ähnliches gibt es seit fast 70 Jahren: Die orthopädischen Nägel. Bei einem Knochenbruch wird in das Knocheninnere ein Nagel aus Edelmetall eingesetzt, der vom Patienten über eine längere Zeitspanne getragen werden kann. Zwangsläufig kommen wir zur Frage: Wäre es möglich, diese oder eine andere Art von Nägeln zum Informationsspeicher zu verwandeln?

Stellen wir uns folgenden Vorgang vor:

Der Magnetstreifen oder Chip wird dermaßen verkleinert, dass die gespeicherten Informationen auf einen Mikro-Chip gespeichert werden können. Dieser Chip würde ohne Probleme in den Fingerknochen (Ossa digitorium) oder Mittelhandknochen (Ossa metacarpi) eingepflanzt werden. Wenn ein Mensch in seinem Fingerknochen ein Speichermedium mit den fixen und variablen Informationen trägt, hat er eigentlich seine Brieftasche im Finger. Er kann sich mit seinem Finger identifizieren, seine Fähigkeiten nachweisen, und, was uns äußerst wichtig erscheint, seine Einkäufe erledigen. Eine chirurgische Operation zum Einsetzen des Speichermediums wäre leicht durchzuführen und würde wahrscheinlich im ganzen Leben wenige Male stattfinden. "Updates" könnte über Funk erfolgen.

Es versteht sich auch, dass diese eingesetzten Speicher entsprechende Lesegeräte außerhalb des Körpers benötigen. Man muss imstande sein, die gespeicherten Informationen jederzeit ablesen zu können. Ein Zahlungsvorgang könnte dann so aussehen, dass der Käufer seinen Finger auf das Lesegerät der Kasse legt und so die getätigten Einkäufe begleicht.

Auf dem Speicher im Finger sollten auch Identifikations- und Zugriffsdaten gespeichert werden. Daraus ergibt sich der Vorteil, dass ein Mensch nicht mehr die Daten über sich an den Staat zu geben braucht, sondern sie immer mit sich trägt. Man wird vor Taschendieben, vor dem "Big Brother" Überwachungsstaat und vor dem Verlust sicher sein. Alles, was für den Menschen wichtig ist, kann sich in diesem Speicher finden. Hier befindet sich die Information, wer er/sie ist, die Daten über sein/ihr Alter, Geburtsort, Blutgruppe, Wohnsitz, Beruf, Qualifikation, Bankkonten, Versicherung usw.

Bleiben noch zwei Fragen zu besprechen. Die erste betrifft die Ethik. Wie sieht das alles aus unter ethischen Überlegungen? Aus unserer Sicht sollte man die Einpflanzung des Speichermediums in den Finger positiv betrachten, weil dieser Vorgang anderen die Möglichkeit entzieht, die Daten zu manipulieren. Aus der Sicht der medizinischen Ethik wäre so ein Implantat nichts anders als der Einsatz einer Prothese zu betrachten.

Die zweite Frage hat medizinisch-technischen Charakter. Wie verträglich sind diese Speichermedien für unseren Körper? Auf diesem Gebiet wird noch geforscht, weil wir heute über keine ausreichende Information darüber verfügen, wie die langfristigen Auswirkungen auf unsere Gesundheit sind, wenn wir im Körper einen magnetisierten Chip tragen und uns der Wirkung der elektromagnetischen Feldern täglich aussetzen. Wir sind überzeugt, dass künftig für die Gesundheit unschädliche Lösungen gefunden werden können. Die chirurgische Operation selbst wäre schon heute einwandfrei möglich: In den lebenden Körper werden jährlich rund um den Erdball einige Tonnen von Metallen und anderer Materialien eingesetzt.

Aus unserer Sicht wäre die beschriebene Perspektive schon in fünf bis zehn Jahren realitätsreif. Das Erste, was man dann machen könnte, wäre - sich seiner Brieftasche zu entledigen.